WISSENSCHAFT
Behandlung von Zwangsstörungen: „State of the art“ und Trends


Die kognitiv-verhaltenstherapeutische Behandlung (KVT) bei Zwangsstörungen wird aufgrund neuerer randomisierter kontrollierter Studien als hochwirksam angesehen und gilt als Verfahren der ersten Wahl. Die Hälfte der behandelten Patienten kann mit klinisch signifikanter Besserung rechnen, allerdings verbleiben auch viele Patienten, die nicht profitieren und ein verbessertes Therapieangebot brauchen. Zu den therapeutischen Grundprinzipien der KVT bei Zwangsstörungen zählen der Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung und die Methode des „geleiteten Entdeckens“. Dabei regt der Therapeut den Patienten durch vorsichtiges Infragestellen seiner dysfunktionalen Annahmen an, deren Logik, Gültigkeit und Nützlichkeit durch neue Erfahrungen zu prüfen. Darüber hinaus vermittelt der Therapeut dem Patienten Störungs- und Veränderungswissen, entpathologisiert seine Symptome, ist empathisch und entwirft eine Perspektive, die für den Patienten glaubwürdig ist. Bei der Behandlung kommen kognitive und verhaltensorientierte Methoden wie Umstrukturierung, Exposition und Verhaltensexperimente zum Einsatz. Im Rahmen therapeutischer Hausaufgaben wird der Patient angeleitet, seine Symptome und aufrechterhaltende Faktoren zu beobachten und in Protokollen festzuhalten. Das Ziel der Therapie besteht nicht vorrangig im völligen Verschwinden von Zwangsgedanken oder -handlungen, sondern in einem neuen und weniger quälenden Umgang damit.
„Schwierigkeiten können sich ergeben, wenn der Patient seine Zwangsgedanken aus Angst, verrückt zu sein, oder weil er befürchtet, vom Therapeuten negativ bewertet zu werden, nicht nennen will“, meinen Dr. Karina Wahl, Prof. Fritz Hohagen und Dr. Andreas Kordon von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Medizinischen Universität zu Lübeck. In diesem Fall sollte der Therapeut die Befürchtungen genau explorieren und dem Patienten vermitteln, welche Gedanken er von anderen Patienten kennt und dass diese Gedanken auf keinen Fall bedeuten, dass die anderen Patienten unmoralisch, verrückt, gewissen- und rücksichtlos oder gewalttätig sind. Zudem kann der Hinweis, dass gerade das Quälende an Zwangsgedanken zeigt, dass der Patient nicht seinem negativen Selbstbild entspricht und fast jeder Mensch Intrusionen hat, zur Entpathologisierung beitragen.
Ausgeklügeltes
Vermeidungssystem
Nicht unproblematisch bei der Behandlung von Zwangsstörungen ist außerdem das ausgeklügelte Vermeidungssystem, welches den Patienten gelegentlich selbst nicht bewusst ist. Es zeigt sich beispielsweise darin, dass die Patienten sich innerlich beruhigen, dass sie sich nach der Therapie, die ihnen bewusste „Verschmutzung“ abverlangt, wieder gründlich waschen können, oder sie vertrauen darauf, dass der Therapeut nichts Gefährliches von ihnen verlangen wird. Solche Vermeidungsgedanken unterlaufen jedoch die Versuche während der Therapie, Zwangsgedanken zu unterbrechen, umzudeuten oder zu reduzieren. Daher ist es wichtig, den Patienten während der Exposition auf solches Vermeidungsverhalten anzusprechen und ihn beispielsweise zu fragen, ob er dieses gerade gedanklich ausführt.
Eine weitere Herausforderung stellt die Einstellung von Zwangspatienten dar, denn sie stehen dem Aufgeben ihres Vermeidungs- und Neutralisierungsverhaltens in der Regel ambivalent gegenüber. Einerseits wünschen sie sich eine Abnahme der Zwangssymptomatik, andererseits bedeutet Nichtneutralisieren in ihren Augen ein extremes Risiko, das sie nur zögerlich bereit sind einzugehen. Deshalb ist es sinnvoll, zu Therapiebeginn ihre Änderungsbereitschaft zu erhöhen, beispielsweise durch Kosten-Nutzen-Abwägung und Fragen wie „Wie viele Kosten wäre der Patient bereit zu tragen, um seine Krankheit loszuwerden?“ oder „Wie viel kostet ihn die Krankheit im Moment?“. Das Besprechen möglicher Nachteile durch die Reduktion der Zwangsproblematik kann dabei helfen, den Patienten auf mögliche Schwierigkeiten während der Therapie vorzubereiten.
Nützlich ist außerdem die Thematisierung des bisherigen und künftigen Umgangs mit Angst und Zwangsgedanken. Hier sind unter anderem drei Formen zu besprechen. Erstens: Der Patient macht weiter wie bisher und versucht, Zwangsgedanken wegzuschieben, zu unterdrücken, zu neutralisieren oder Ähnliches; dies führt allerdings kaum zu einer Verbesserung der Symptomatik. Zweitens: Der Patient fordert Zwangsgedanken heraus, indem er bewusst noch schlimmere Gedanken hegt; aufgrund der wiederholten Durchführung einer subjektiv bedrohlichen, aber objektiv harmlosen Verhaltensweise tritt Habituation ein, durch die der Patient allmählich wieder Kontrolle über die Krankheit erlangen kann. Diese Methode kann Patienten jedoch überfordern. Drittens: Der Patient wendet eine Technik an, die auf „Achtsamkeit“ (mindfulness) basiert. Achtsamkeit entstammt der buddhistischen Tradition und bedeutet eine Konzentration auf das Hier und Jetzt. Ein achtsamer Umgang mit Zwangsgedanken und -handlungen hat zur Voraussetzung, dass sie wahrgenommen und akzeptiert werden, ohne sie oder sich selbst jedoch zu bewerten. Die Gedanken tauchen auf und fordern dazu auf, Zwangshandlungen auszuführen, oder sie kreisen immer wieder um ein bestimmtes, Angst auslösendes Thema. Doch statt zu handeln und auf sie zu reagieren, betrachtet der Patient sie als Gedanken wie andere Gedanken auch, und lässt sie einfach „wie Wolken am Himmel“ weiterziehen. Er öffnet sich für das Hier und Jetzt, er konzentriert sich auf seinen Atem und seine Umgebung und kann sich dadurch aus der intensiven Innenschau seiner Zwangsgedanken ein Stück weit lösen. Da er weder die Zwangsgedanken noch sich selbst bewertet, gelingt es ihm, seine Selbstvorwürfe zu reduzieren und ein besseres Selbstwertgefühl zu gewinnen. Darüber hinaus unterbricht die achtsame Aufmerksamkeit ritualisierte Zwangsgedanken und automatisierte Verhaltensmuster und bietet Wahlfreiheit, etwas zu tun oder zu unterlassen.
Achtsamkeitstraining als sinnvolle Ergänzung
„Achtsamkeitstraining ist eine sinnvolle Ergänzung der KVT bei Zwangsstörungen“, meint der britische Psychologe Hamilton Fairfax. Er sieht viele Gemeinsamkeiten im Hinblick auf Techniken und Effekte: Beispielsweise arbeiten beide Verfahren mit kognitiver Restrukturierung, Reattribution, Visualisierung und Reaktionsverhinderung, und sie führen beide dazu, dass der Patient das Gefühl von Kontrolle über Gedanken und Verhalten erlangt. Unterschiede bestehen vor allem in der Grundhaltung des Patienten. Ob ein Patient, der aus einem westlichen Kulturkreis stammt, eine östlich-buddhistisch orientierte Grundhaltung annehmen und davon profitieren kann, muss im Einzelfall ausprobiert werden.
Patienten aktiv einbinden
Für den langfristigen Erfolg der Behandlung und den Transfer des Gelernten in den Alltag ist es erforderlich, dass der Patient eine aktive Rolle einnimmt. So sollte beispielsweise die Planung der Expositionsübungen interaktiv gestaltet werden, indem der Patient sich an der Erarbeitung der Angsthierarchie beteiligt oder sich mit den Expositionsprinzipien auseinandersetzt. Nach den ersten Übungen sollte er versuchen, seine eigenen Expositionsübungen zu konzipieren. Diese werden dann in Eigenregie durchgeführt, protokolliert und in den Therapiestunden besprochen. Das weitgehend selbstständige Erarbeiten und Durchführen von Expositionsübungen dient dazu, dass der Patient seinen Handlungsspielraum erweitert und sich auf einen eigenverantwortlichen Umgang mit seiner Erkrankung vorbereitet. Von großer Bedeutung ist daher das Üben außerhalb des Therapieraums, wenn möglich in der häuslichen Umgebung des Patienten.
Da für viele Zwangspatienten mit dem Wegfall von Ritualen auch die Tagesstruktur verloren geht, sollten alternative Elemente erarbeitet werden, die den Tagesablauf strukturieren helfen. Zudem hat sich die Einbindung von Familienangehörigen bewährt, denen die Aufgabe zufällt, zwangsstützende Handlungen aufzugeben und den Patienten auf nicht umgesetzte Verhaltensziele aufmerksam zu machen. Am Ende der Therapie werden Rückfälle thematisiert, wobei diese nicht an sich problematisch sind, sondern der Umgang mit ihnen. Im Prinzip kann ein Patient, der sich nicht mehr in Therapie befindet, einen Rückfall selbstständig analysieren und versuchen, geeignete Maßnahmen durchzuführen, um die Probleme selbst in den Griff zu bekommen. Gelingt ihm das nicht, könnte er Angehörige einbeziehen oder erneut professionelle Hilfe suchen.
Bei jungen Zwangspatienten sollte besonders darauf geachtet werden, dass die Behandlung mit Verfahren wie der KVT, die sich auch im Kindes- und Jugendalter bewährt hat, frühzeitig einsetzt. Wie Psychologen der Psychosomatischen Klinik Windach am Ammersee und der Ludwig-Maximilian-Universität München berichten, haben junge Zwangspatienten ein erhöhtes Risiko, später unter besonders schweren Ausprägungen der Erkrankung zu leiden. Sie untersuchten 370 Patienten, bei denen der Störungsbeginn in einem Alter bis zu 15 Jahren (Early-onset-Patienten) beziehungsweise ab 16 Jahren (Late-onset-Patienten) lag, und verglichen die Schweregrade der Symptome im Erwachsenenalter. „Early-onset-Patienten scheinen häufiger von einer massiven Form der Zwangsstörung und einer größeren Symptomvielfalt betroffen zu sein als Late-onset-Patienten“, so die Wissenschaftler. n
Dr. phil. Marion Sonnenmoser
Kontakt:
Dr. Karina Wahl, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Medizinische Universität zu Lübeck, Ratzeburger Allee 160, 23538 Lübeck, E-Mail: karina. wahl@psychiatrie.uk-sh.de
Hamilton Fairfax, Department of Clinical Psychology, North Devon District Hospital, Raleigh Park, Barnstaple, North Devon EX31 4JB, E-Mail: hamilton. fairfax@nhs.net
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