ArchivDeutsches Ärzteblatt24/2008Stationäre Versorgung: Das Krankenhaus in der Postmoderne

THEMEN DER ZEIT

Stationäre Versorgung: Das Krankenhaus in der Postmoderne

Richter, Holger

Als E-Mail versenden...
Auf facebook teilen...
Twittern...
Drucken...
LNSLNS
Foto: Klaus Fröhlich
Foto: Klaus Fröhlich
Der Veränderungsdruck auf die Kliniken ist enorm. Meist werden pragmatische Lösungen für einzelne Probleme gesucht. Diese Form der Krisenbewältigung reicht jedoch längst nicht mehr aus.

Nach Ansicht der Mehrheit der Soziologen leben wir heute in der Postmoderne: einer Phase der gesellschaftlichen Entwicklung, welche die Moderne (bis circa 1985) abgelöst hat. Einige der augenfälligsten Merkmale dieser Epoche ist die Freisetzung gewohnter Bindungen und Strukturen. In der organisierten Moderne von circa 1950 bis Mitte der 80er-Jahre durchlebten die westlichen Länder eine sehr stabile Periode des „embedding“, der Einbettung individueller Entwicklung in gesellschaftliche Praktiken, eine Phase konservativer Restauration unter ökonomisch günstigen Rahmenbedingungen. Diese Wohlstandsgesellschaft war gekennzeichnet durch Vollbeschäftigung, steigende Einkommen, soziale Leistungen und wachsende Sicherungssysteme. Für das Gesundheitswesen war das Ende dieser Phase durch die erste Gesundheitsreform 1977 gekennzeichnet, die erste von vielen, die bis heute gefolgt sind. Seitdem erleben wir einen ständigen Druck auf die Sozialversicherungssysteme, Basis der Finanzierung für Gesundheitsleistungen.

Die Kosten der täglichen Lebensführung stiegen seit Anfang der 90er-Jahre um ein Vielfaches, was neben bescheidenen Tarifrunden zu einem schmerzhaften Reallohnabbau führte. Der Bogen, der dies umspannt, heißt „demografische Entwicklung“ und meint die tendenzielle strukturelle Unfinanzierbarkeit sozialer Leistungen, wie zum Beispiel Renten- und Krankenversicherung. Ein noch größerer Bogen nennt sich Globalisierung und wirkt sich hier in einer rasanten Verlagerung von industriellen Produktionskapazitäten in Niedriglohnländer aus. Mit spürbaren Folgen: Wenn die Werkbänke nicht mehr in diesem Land stehen und zunehmend nur noch Dienstleistungen und Hightech-Nischenprodukte hergestellt werden, so bricht damit auch die Finanzierungsbasis der Sozialversicherung weg.

Ärzte verlassen die Koalition der Sprachlosen
Im Krankenhaus haben Gewerkschaften in den letzten 20 Jahren aus sozialpolitischen Gründen die Einkommensunterschiede zwischen den Berufsgruppen so kontinuierlich schmelzen lassen, dass die zur Demotivierung der Leistungsträger und Hochqualifizierten führt. Von ihnen zu erwarten, die empfundene Ungerechtigkeit mit altruistischen Motiven zu kompensieren, verkennt die Folgen der zunehmenden Individualisierungstendenzen der Postmoderne. Diese Entwicklungen vollzogen sich in den letzten 20 Jahren eigentümlich unpolitisch, als ob niemand dies politisch artikulieren konnte oder wollte.

Bemerkenswert ist, dass die Ärzte die Ersten waren, die 2006 die Koalition der Sprachlosen verlassen haben. Das von vielen noch als Entsolidarisierung beklagte Verhalten hat sich längst normalisiert – spätestens mit den Verdi-Tarifverhandlungen wurde klar, dass die Mitarbeiter im Gesundheitswesen nicht mehr bereit sind, den Preis zu zahlen in einer Welt, die ihre „Compliance“ nicht zu schätzen wusste.

Die Welt der Postmoderne ist nicht leicht zu durchschauen. Sie zeigt eine fortschreitende Komplexitätssteigerung durch Ausdifferenzierung hochperfekter Einzelsysteme bei gleichzeitiger Anonymisierung von Vermittlungsgliedern. Grundprinzip der Gegenwartsgesellschaften scheint zu sein, zunehmend schnelleren Veränderungsprozessen unterworfen zu sein, die sie gleichzeitig in unkontrollierbare Spannungszustände und eine Gemengelage bringen. Gleichzeitig scheinen die Systeme auseinanderzutreten und nicht mehr mit-, sondern gegeneinander zu agieren. Politiker scheinen hilflos zu sein und vor der Komplexität und wechselseitigen Verflechtung zu kapitulieren – was sie freilich nicht daran hindert, ihre Projekte ungeachtet der Nebenfolgen und Kollateralschäden weiter zu führen (Stichwort: elektronische Patientenkarte).

Auch am Beispiel der Umsetzung des Arbeitszeitgesetzes kann gut nachvollzogen werden, wie nicht intendierte Nebenfolgen rasch zunehmen. Aus sozialpolitischen Gründen über ganz Europa verbreitet, benötigte die Umsetzung des Arbeitszeitgesetzes zunächst pragmatische Lösungen. Aus einer etwas distanzierteren Perspektive wird jedoch deutlich, dass die bisher praktizierten Lösungsansätze zu kurz greifen, weil neue und andere Probleme in deren Gefolge entstehen.

Bemerkenswert ist auch die rapide Zunahme von Expertensystemen in allen gesellschaftlichen Bereichen. Die Medizintechnik ist so anspruchsvoll geworden, dass sie gleich mit Full-Service-Wartungsverträgen gekauft werden muss, weil niemand die komplizierte Funktionsweise versteht. Qualitätssicherung ist ebenso ein Feld von Experten, und wer würde sich ernsthaft trauen, die Zertifizierung eines Brust- oder Darmzentrums ohne die kleine Schar von Insidern anzugehen? Der Abschluss von neuartigen Leistungsverträgen, zum Beispiel im Disease Management oder der integrierten Versorgung, ist so komplex und zeitraubend, das wir uns fragen sollten, wie denn eigentlich das lang erwartete und befürchtete Einkaufsmodell der Kassen praktisch bewältigt werden soll ohne eine Heerschar von Spezialisten in Vertragsangelegenheiten – die auch von irgendjemandem bezahlt werden müssen. Tatsächlich versteht kaum noch jemand die Systeme der anderen und vertraut darauf, dass diese (mithilfe der Experten) irgendwie ihren Zweck erfüllen. Daraus resultiert ein Gefühl der Verlorenheit, das tendenziell zum Rückzug in das eigene Ich führt und den Einzelnen schrittweise aus gesellschaftlichen Verbindlichkeiten löst.

Logistik als Schlüsselfaktor: Immer noch werden zu viele Patienten von Pflegekräften kreuz und quer durchs Haus geschoben, damit Funktionsuntersuchungen durchgeführt werden können. Foto: picture alliance/Lehtikuva
Logistik als Schlüsselfaktor: Immer noch werden zu viele Patienten von Pflegekräften kreuz und quer durchs Haus geschoben, damit Funktionsuntersuchungen durchgeführt werden können. Foto: picture alliance/Lehtikuva
Umstrukturierung des ärztlichen Dienstes
Das Gesundheitswesen ist wegen der zunehmenden Unterfinanzierung der Sozialversicherungen unter einen extremen Effizienzdruck geraten, der das persönliche und berufliche Selbstverständnis der Akteure stark belastet. Gewohntes muss aufgegeben werden, Neues ist unsicher und muss erprobt werden – paradigmatische Änderungen in der Krankenhausorganisation zeichnen sich ab. Dafür sind folgende Sachverhalte beispielhaft:

Das Arbeitszeitgesetz hat zwar eine Anpassung an gesetzliche Vorschriften gebracht, die in der Folge entstehenden Probleme sind jedoch meist ungelöst. Hierzu gehört die ärztliche Präsenz in den produktiven Tagesschichten. Die Krankenhäuser erwirtschaften in den 35 Wochenstunden der Tageschicht zwischen Montagfrüh und Freitagmittag rund 90 bis 95 Prozent ihrer Erlöse. Die Woche hat jedoch 168 Stunden, und in den verbleibenden 133 Stunden ist die für die Kapazitätsvorhaltung notwendige Präsenz ebenfalls sicherzustellen. Mit einer maximalen Arbeitszeit von 48 Stunden (ohne Opt-out) benötigt jedes Haus eine größere Anzahl von Ärzten als bisher. Diese sind jedoch nur ungenügend über die Fallpauschalen gegenfinanziert, und sie sind zudem nicht verfügbar, weil der Arbeitsmarkt anders als in der Vergangenheit kaum genügend Ärzte bereithält. Hinzu kommt, dass die Ärzteeinkommen durch die Tarifverträge des Marburger Bundes gestiegen sind und weiter steigen. Das Ergebnis sind teurere Ärzte, die in den produktiven Tagesschichten weniger anwesend sind, weil ihre 48 Stunden in den Diensten aufgezehrt werden. Chef- und Oberärzte sind frustriert und fragen sich, wie die Arbeit, wie die Besetzung der Stationen und Funktionsbereiche noch sicherzustellen ist.

Eine Neudefinition der Kapazitätsvorhaltung ist vor diesem Hintergrund unumgänglich. Die Kernfrage lautet: Wie sind die Bereitschaftsdienste künftig sicherzustellen? Bisher haben nur wenige Krankenhäuser neue Wege beschritten, wie die Zusammenlegung der Dienste benachbarter Kliniken oder die verstärkte Einführung von Rufbereitschaften – zu komplex scheint das Problem, das mit dem Niveau und der Sicherstellung der von der Bevölkerung erwarteten Versorgung unmittelbar zusammenhängt. Solange den Krankenhäusern nicht ausreichend gegenfinanzierte Ärzte zur Verfügung stehen, muss es zu einer Konzentration der ärztlichen Leistungserbringung in genau jenen Zeiten kommen, in denen die Leistungen der Häuser ganz überwiegend erbracht werden. Ergo ist das Anspruchsniveau für die Spät-, Nacht- und Wochenenddienste deutlich zu senken.

Die Effizienz der ärztlichen Tätigkeit, die bisher meistens den Chefärzten überlassen wurde, wird nun noch wichtiger. Die Einführung der Dienstplanungen in Zusammenhang mit dem Arbeitszeitgesetz hat deutlich gemacht, dass die Talente zur strukturierten Organisation bei den leitenden Ärzten sehr ungleich verteilt sind. Wenn Rhön-Aufsichtsratschef Eugen Münch von „Cluster-Organisationen mit Hilfspersonal“ spricht, drückt er hiermit auch aus, dass die meisten Krankenhäuser ungeachtet ihrer millionenschweren Medizintechnik immer noch wie Manufakturen aus der frühen Neuzeit funktionieren. Die strukturierte Organisation ist ein seltener Glücksfall. Die Generation der heutigen Klinikärzte hat nicht gelernt zu organisieren. Wenn dann noch die Flexibilisierung der Arbeitszeit hinzukommt, ist das Durcheinander perfekt, und die Ampelkonten laufen in kurzer Zeit auf Rot.

Die Einführung der klinischen Behandlungspfade ist bis heute nicht wirklich in der Praxis angekommen, und die Erwartungen, die mit diesen standardisierten Prozessen verbunden waren, werden oft nicht erfüllt. Dies wirft ein Schlaglicht auf die übliche Praxis, sich aus dem „Handgelenk heraus“ zu organisieren und eine gewisse Beliebigkeit, die den Ärzten ja auch persönliche Freiheitsgrade gewährt, zu bewahren.

Die produktive Kraft der Standardisierung
Die Einführung der Diagnosis Related Groups hat neben den Finanzierungsproblemen einen enormen Standardisierungsdruck erzeugt. Die Frage, wer sich denn nun anzupassen hat, der Patient oder das Krankenhaus, kann heute nicht wirklich gestellt werden – gesellschaftliche Diskussionen über Notwendigkeit und Tiefe der Krankenhausbehandlung werden nicht geführt. Einziger Ausweg ist es, die produktive Kraft der Standardisierung zu nutzen, um die Organisation strukturell zu verbessern. Die Standardisierung kommt zurzeit wieder mit einem neuen produktionstechnischen Ansatz in die Krankenhäuser. Haupt- und Nebenprozesse werden identifiziert, gemessen und berechnet. Dies führt in der Regel zu dem für die Beteiligten erstaunlichen Ergebnis, dass es je Klinik doch gar nicht so viele Hauptprozesse sind (meist nur zwei, drei oder vier), die – richtig verstanden und ausgeführt – zu erheblichen Effizienzsteigerungen führen können. Der entscheidende, eigentlich kulturelle Schritt hierbei sind die Bereitschaft und die Disziplin, diesen Standards zu folgen. Ein Beispiel: Die ärztliche Patientenaufnahme ist in vielen Krankenhäusern Aufgabe der Stationsassistenten. Um standardisierte Prozesse in Gang zu setzen und gleichzeitig die (teure) Diagnostik auf das fallweise erforderliche Maß zu begrenzen, sollten besser Fachärzte für diese Aufgabe eingesetzt werden.

Die Effizienz des ärztlichen Dienstes ist für Krankenhäuser ein Schlüsselfaktor für ihre eigene Zukunft. Die Inanspruchnahme der Ärzte durch administrative oder niedrig qualifizierte Tätigkeiten ist deutlich zurückzunehmen – mehr noch, die Ärzte sind in ihrer Tätigkeit durch Hilfspersonal zu unterstützen. Hier zeigt sich in letzter Zeit, dass Schreibkräfte und Arzthelferinnen/Medizinische Fachangestellte zunehmend auf den Stationen eingesetzt werden. Eine Vielzahl von Tätigkeiten (wie etwa Blutentnahmen, Infusionen, Vorbereitung von Funktionsuntersuchungen, Aktenmanagement, Befunde und Berichte zuordnen, faxen, verteilen, Organisation nachstationärer Diagnostik) bietet sich an, um die Ärzte produktiver und zugleich zufriedener mit ihrem Arbeitsalltag zu machen. Dies ist auch deshalb so Erfolg versprechend, weil die eigentlichen Kernaufgaben ärztlicher Tätigkeit, Diagnostik und Therapie, mittlerweile durch administrative Aufgaben fast zugedeckt worden sind. Die Kernaufgaben sind wieder freizulegen, damit sich der eigentliche Zweck der ärztlichen Tätigkeit entfalten kann.

Für die leitenden Klinikärzte wird es wichtig werden, die Organisation ihrer Arbeitskapazitäten zu optimieren und insbesondere auch nachzuhalten und im Tagesverlauf im Auge zu behalten. Wie überall sonst auch gibt es bei den Ärzten solche, die sich mehr, und solche, die sich weniger gut organisieren können. Die Krankenhäuser werden nicht mehr bereit sein, steigende Gehaltskosten zu finanzieren und keine Sicherheit zu haben, dass die bezahlte Arbeitszeit auch sinnvoll genutzt wird. Die Einführung der Flexibilisierung mit schnell auflaufenden Plusstunden hat auch hier die Problemlage deutlich gemacht.

Die neue Wunderwelt der Daten
Wenn die Krankenhausleitung eine hohe Standardisierung der Behandlungsprozesse verlangt, so ist es folgerichtig, diese auch bei ihr einzufordern. Wer von Ärzten erwartet, die Wirtschaftlichkeit ihrer Behandlungen zu optimieren, darf sie nicht damit allein lassen.

Zu viele Krankenhäuser produzieren heute noch Datenfriedhöfe, die mit entscheidungsrelevanten Daten wenig zu tun haben. Wichtig ist es, die Brücke zu schlagen zu der praktischen Ebene des Handelns, auf der Entscheidungen für oder gegen Kosten und Erlöse getroffen werden. Diese Entscheidungen treffen ganz überwiegend Ärzte. Der heutige Standard in Krankenhäusern sind die INEK-Profitcenterrechnung (die für jede Klinik eine eigene, benchmark-orientierte Erfolgsrechnung liefert), die automatisch mitlaufende Fallkostenkalkulation (die die tatsächlichen Kosten und ihre Struktur für jeden konkreten Behandlungsfall und so Über- und Unterschreitungen erkennbar und die Ursachen analysierbar macht) sowie ein Data-Warehouse (das diese neuen Datenqualitäten in akzeptabler Zeit und individuellem Zuschnitt auf den Schreibtisch holt). Die Daten für diese neue Wunderwelt sind durch Schnittstellen bei der Krankenhaus-EDV und den vielen Teilsystemen in den Funktionsbereichen zu holen – manuelle Dateneingabe kann vermieden beziehungsweise auf ein Minimum reduziert werden.

Die Einführung der genannten Systeme ist heute der neue Standard. Ihre praktische Einführung dauert bis zur Entfaltung ihrer vollen Leistungsfähigkeit bis zu drei Jahre, ist aber für Krankenhäuser künftig ebenso unverzichtbar wie die bereits genannte Standardisierung der medizinischen Prozesse.

In diesem Zusammenhang ist auch die Logistik zu nennen. Das gewohnte Bild, überall und ständig Mitarbeiter in Weiß über die Gänge laufen zu sehen, mag vertraut vorkommen, zeigt jedoch nur, dass diese Mitarbeiter nicht an ihrem Arbeitsplatz sind – wo sie eigentlich hingehören. Die meisten Krankenhäuser sind so extrem zersiedelt in ihren Funktions-, Behandlungs- und Pflegeräumen sowie den Büros, dass ein erheblicher Kostenanteil – man spricht heute von mehr als 20 Prozent – auf die logistischen Prozesse entfällt. Medienbrüche in den EDV-Systemen sowie die seit Langem versprochene, aber bislang wohl nirgendwo vollständig realisierte elektronische Patientenakte sorgen für das ständige Herumtragen von Aufträgen, Befunden und Blutproben. Bei nicht vorhandenen PACS (digitalen Bildarchivierungssystemen) werden Röntgenbilder, Schlüsselfaktoren für die Behandlung, fast schon regelmäßig gesucht. Patienten werden vom Pflegepersonal oder von eigens eingerichteten Transportmitarbeitern kreuz und quer durchs Haus geschoben, damit zum Beispiel Funktionsuntersuchungen durchgeführt werden können.

Die Zentralisierung der vergangenen Jahrzehnte wurde meistens mit Investitionsbedarf, manchmal auch mit Qualität begründet. Wir wissen heute jedoch, dass mit Ausnahme einiger weniger Bereiche, wie zum Beispiel das zentrale Röntgen, die Dezentralisierung der Prozesseffizienz im Krankenhaus deutlich mehr entgegenkommt. Das, was in der Industrie schon seit Jahrzehnten praktiziert wird, die Arbeitsplatzanalyse mit Erfassung der Wegezeiten, wird für ein Krankenhaus bemerkenswerte, aber auch deprimierende Ergebnisse zeigen.

Heute sind sowohl PACS als auch Rohrpostsysteme, Auftragsvergabe, Befundrückmeldung und Terminplanung in den EDV-Systemen der Mindeststandard. Lagersysteme mit Meldebestand und automatischer Nachlieferung sowie Versorgungsassistenten gehören ebenfalls dazu wie automatische Warentransportanlagen. Ziel ist es, die Mitarbeiter auf ihren eigentlichen Arbeitsplätzen zu halten und sie mit intelligenten teil-, oder vollautomatisierten Versorgungs- und Informationssystemen zu unterstützen. Die Kernarbeitsbereiche einer Klinik sind neu zu strukturieren, Funktionsräume, Büros (Assistenten und Oberärzte, Stationssekretariat, Medizinische Fachangestellte) und Stationen sind zusammenzuführen, um kurze Wege, kürzere Wartezeiten, eine höhere Leistungsfähigkeit mit zufriedeneren Mitarbeitern und Patienten zu erreichen.

Dabei wird den Krankenhäusern zunehmend klar, dass die Verkürzung der Verweildauern sowie der Transfer von Leistungen in den ambulanten Bereich einen Nebeneffekt erzeugen, an den bisher kaum jemand gedacht hat: Das Kleid passt nicht mehr richtig – die Kapazitäten und Räume sind neu zu strukturieren. Hatte man beispielsweise noch vor Jahren eine Klinik mit einer 25-Betten-Station, die zu 85 Prozent ausgelastet war, so kann diese Klinik heute mit durchschnittlich 16 Betten (in der Woche) und acht Betten am Wochenende arbeiten – bei gleichem Umsatz. Die Kostensituation hat sich jedoch verändert: Mindestbesetzung und Organisationsaufwand sind die Gleichen wie für eine 25-Betten-Station. Man kann es mit Wochenendstationen probieren, mit Stationskopplungen, mit interdisziplinären Stationen, mit Zentren oder auch mit Streubetten. Lösungsmöglichkeiten für diese Entwicklung werden zurzeit überall erprobt, erfordern aber auch Veränderungsbereitschaft und kreative Energie.

Heute haben wir es mit einer neuen Generation von jungen Ärztinnen und Ärzten zu tun. Der klassische Weg aus der Facharztausbildung im Krankenhaus zur hochgeachteten Niederlassung in der Praxis oder die Weiterqualifikation zum Oberarzt mit anschließender Klinikleitung erscheint vielen jungen Ärzten immer fragwürdiger. Alternativen werden gesucht, die auch innerhalb des Krankenhauses anzubieten sind und darin bestehen, dass auch unterhalb der Chefarztebene finanziell attraktive, angesehene und persönlich zufriedenstellende Jobs entstehen. Die Niederlassung besteht dann künftig mehr darin, sich mit seiner Familie am Ort anzusiedeln, und das mit einer längerfristigen Perspektive, die auch den familiären Ansprüchen gerecht wird. Da niemand mit einer langfristigen Anstellung als Altassistent zufrieden sein kann, wird eine neue Leitungsebene von Oberärzten entstehen. Diese Oberärzte sind dann zum Beispiel als Funktionsoberärzte tätig, eignen sich spezielle Qualifikationen an und/oder leiten Sektionen und Teilbereiche. Die Krankenhäuser sollten sich heute schon darauf einstellen, dass diese Fachärzte ihre eigenen Vorstellungen von angemessenen Gehältern haben und diese in Einzelverhandlungen durchsetzen können. Ein Facharztanteil von bis zu 70 Prozent wird erwartet (und angestrebt). Damit dreht sich die heutige Verteilung dramatisch um. Dadurch erhöht sich auch die Leistungsfähigkeit der Krankenhäuser. Die Frage, wie dann die bereits erwähnte Vorhaltung der medizinischen Kapazitäten in den Spät-, Nacht- und Wochenendschichten sichergestellt werden kann, ist damit noch nicht beantwortet, eine Lösung dieses Dilemmas jedoch unverzichtbar.

Anspruchsvollere Aufgaben für die Pflege
Der Pflegedienst dürfte sich auf eine ähnlich nachhaltige Weise verändern wie der ärztliche Dienst. Jedoch wird sich die Beziehung zwischen Ärzten und Pflegekräften, die von gegenseitiger Abhängigkeit und Distanz zugleich gekennzeichnet ist, wohl in eine ganz andere Richtung entwickeln.

Die Pflege ist seit Anfang der 90er-Jahre durch eine zunehmend homogene Struktur gekennzeichnet. Voll examinierte Pflegekräfte dominieren inzwischen das Stellenprofil auf den Stationen. Neben der Entwicklung anspruchsvollerer Pflegeformen und Teilaufgaben, wie zum Beispiel Wundmanagement, ist jedoch die Mehrzahl der Aufgaben, die auf einer Station anfallen, weitgehend die gleiche geblieben. So haben Untersuchungen zur Aufgabenverteilung auf Normalstationen in den Krankenhäusern ergeben, dass die eigentlichen Kernaufgaben der anspruchsvollen Pflege nur noch rund 25 Prozent der Tätigkeiten ausmachen (ein durchschnittlicher Patient auf einer 25-Betten-Station erhält in einem 24-Stunden-Zeitraum nur rund 17 Minuten direkte Pflege). Hauswirtschaftliche Tätigkeiten, Bettenmachen, Essenverteilen, Aktenführen, Warenlagern und Logistikbetreiben sind neben Botengängen und Fragen der Selbstorganisation (Dienstplanung, Supervision) das, was den Arbeitsalltag der Pflege ausmacht. Für diese Tätigkeiten sind die Pflegekräfte überqualifiziert, was demotiviert.

Fürsorge macht den Unterschied: Nur Krankenhäuser, die ein „Mehr“ an Empathie bieten und einen entsprechend guten Ruf genießen, bestehen im Wettbewerb. Foto: mauritius images
Fürsorge macht den Unterschied: Nur Krankenhäuser, die ein „Mehr“ an Empathie bieten und einen entsprechend guten Ruf genießen, bestehen im Wettbewerb. Foto: mauritius images
Einfühlungsvermögen als entscheidendes Kriterium
Eine neue Berufsgruppenstruktur auf den Normalstationen wäre demnach angebracht. Dies könnte auch eine Höherqualifikation des Pflegepersonals nach sich ziehen. Damit ist weniger die Akademisierung der Pflegeberufe gemeint, sondern die Übernahme von ärztlichen Assistenztätigkeiten oder von Managementfunktionen in der Prozesssteuerung. Case-Management ist hier der neue Begriff, der die Prozesssteuerung kennzeichnet. Ob die Pflegekräfte diese Aufgabe wirklich übernehmen dürfen, ist jedoch fraglich. Traditionelle Vorbehalte und Ressentiments zwischen Ärzten und Pflegepersonal lassen befürchten, dass die Ärzte die Fallsteuerung durch eine pflegerische Case-Managerin nicht als Segen empfinden werden.

In der Frage der Assistenztätigkeiten sehen wir ein sehr gemischtes Bild mit einer gewissen Beliebigkeit. Ob die Krankenhäuser so lange warten können, bis der Gang durch die internen Gremien bewältigt worden ist, erscheint fraglich – steht doch mit den Arzthelferinnen/Medizinischen Fachangestellten eine Berufsgruppe zur Verfügung, die ohne viel Wenn und Aber die Assistenzaufgaben erledigt. Für die Pflege ist jedoch mit der Übernahme von Spezialqualifikation, wie zum Beispiel „Stroke-nurse“, und anderen besonderen Funktionsbereichen eine Chance gegeben, über das angestammte Tätigkeitsgebiet hinauszuwachsen. Hier dürfte das größte Wachstumspotenzial zu finden sein.

Bezüglich der niedriger qualifizierten Tätigkeiten wird es auch aus Gründen der besseren Kosteneffizienz eine weitgehende Neuverteilung der Aufgaben geben nach dem Motto: „die richtige Berufsgruppe für jede Aufgabengruppe“, und zu Pflegehelfern, Hauswirtschaftskräften, zentralen Transportdiensten, Versorgungsassistenten und sogar Hotelfachpersonal führen. Erste Projekte in deutschen Krankenhäusern mit dem Einsatz von Hotelfachpersonal haben gezeigt, dass dieses erfolgreich eingesetzt werden kann und dass diese Mitarbeiter wegen der attraktiveren Gehälter im Verhältnis zum DEHOGA-Tarif auch ein Interesse am Krankenhaus haben.

Das Krankenhaus ist in der Postmoderne angekommen – unfreiwillig zwar, wie alle anderen Institutionen und Systeme auch, aber bis auf Weiteres ohne Alternative. Was machen wir nun daraus? Eine breitere Diskussion darüber, was eigentlich das Wesen eines Krankenhauses im neuen Jahrtausend ausmachen soll, ist überfällig. Dabei sollte nicht vergessen werden, dass sich auch die Mitarbeiter verändert haben.

Ein künftiger Erfolgsfaktor für Krankenhäuser wird die empathische Zuwendung zum Patienten sein, die heute wegen Organisations- und Strukturmängeln rückläufig ist und von den Patienten immer öfter kritisiert wird. Der Blick der im Krankenhaus arbeitenden Mitarbeiter sagt zu wenig darüber aus, wie Patienten als unfreiwillige und kurzzeitige Besucher diesen Ort empfinden. Ein „Blueprint“, die erfahrene Wirklichkeit von Patienten und Besuchern mit den Augen derselben, gibt viel deutlicher Auskunft, wo und wie viel es an dieser Empathie fehlt. Den Mitarbeitern ist häufig nicht bewusst, dass das emotionale Verhältnis der Menschen zum Krankenhaus durch eine fast archaisch anmutende Angst geprägt ist, die durch Erlebnisse von Tod, Schmerz und Verlust verursacht sind. Die Bedeutung, die in der neuzeitlichen Zivilisation die Vermeidung von Leiden erlangt hat, ist immens, und die familiäre, empathische Aufnahme von Menschen kann hier – neben der Schmerztherapie – Wunder wirken. Wenn konstatiert wird, dass dieses Ziel bisher nicht zufriedenstellend erreicht wurde, ergibt sich die Frage: Wer macht es besser? Die in diesem Beitrag vorgestellten Organisationsmittel und Strukturveränderungen sollten daher auch immer mit dem Ziel betrieben werden, dieses „Mehr“ an Empathie zu ermöglichen.

Zitierweise dieses Beitrags:
Dtsch Arztebl 2008; 105(24): A 1328–33

Anschrift des Verfassers
Holger Richter
Geschäftsführung
Klinikum Bremerhaven-Reinkenheide gGmbH
Postbrookstraße 103, 27574 Bremerhaven
E-Mail: holger.richter@klinikum-bremerhaven.de

Kommentare

Die Kommentarfunktion steht zur Zeit nicht zur Verfügung.

Fachgebiet

Zum Artikel

Der klinische Schnappschuss

Alle Leserbriefe zum Thema

Stellenangebote