ArchivDeutsches Ärzteblatt24/2008Arzneimittel in der Umwelt: Natur als Medikamentendeponie

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Arzneimittel in der Umwelt: Natur als Medikamentendeponie

Meißner, Marc

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Durch falsche Entsorgung und als Rückstände, die vom Menschen nach Gebrauch ausgeschieden werden, gelangen Arzneien in großen Mengen in die Umwelt. Über die dortige Wirkung der Substanzen ist aber nur wenig bekannt.

Nach einem Blick auf das Etikett des Arzneimittelfläschchens ist klar: Das Haltbarkeitsdatum ist überschritten. Schnell sind die Medikamentenreste in die Spüle geschüttet, und die Flasche wird danach selbstverständlich korrekt im Glasmüll entsorgt. Laut einer Umfrage des Instituts für sozial-ökologische Forschung entledigt sich jeder Fünfte so seiner alten Arzneien – mit problematischen Folgen für die Umwelt. Medikamente gehören einerseits zu den am besten untersuchten Substanzen, was ihre Wirkung auf den Menschen betrifft, andererseits ist über die ökologischen Auswirkungen, wenn sie in die Umwelt gelangen, kaum etwas bekannt.

Dabei können die Konsequenzen von Arzneimitteln in der Natur dramatisch sein. In Südasien starben vor einigen Jahren mehrere Millionen Greifvögel an Diclofenac. Rindern wurde der Wirkstoff in großen Mengen über das Futter verabreicht. Geier fraßen deren Kadaver und nahmen so das Diclofenac auf. Bei den Vögeln führte dies zu Nierenversagen und schließlich zum Tod. Einige Geierarten stehen in den betroffenen Ländern mittlerweile kurz vor der Ausrottung. Dies ist der erste dokumentierte Fall, in dem ein Medikament eine derartige ökologische Katastrophe auslöste.

Medikamente sind sehr stabil
Die meisten Medikamente gelangen allerdings nicht durch Tierarzneien in die Umwelt, sondern werden durch den Menschen freigesetzt. Dies geschieht nur in geringem Maß durch falsche Entsorgung. Größtenteils ist die korrekte Anwendung eines Medikaments Ursache dafür, dass ein Wirkstoff in die Umwelt gerät. Denn die meisten Arzneien werden nicht vollständig im Körper abgebaut. Bei ihrer Entwicklung wird sogar viel Wert auf eine lange Haltbarkeit gelegt. Dies stellt sicher, dass das Medikament nicht abgebaut wird, bevor es seine Wirkung entfalten kann. Beispielsweise sind viele Pillen so konstruiert, dass sie die Magensäure unbeschadet überstehen und erst im Darm ihren Wirkstoff freigeben. Als Folge davon sind viele Medikamente sehr stabil und werden größtenteils unverändert wieder ausgeschieden. Im Fall von Diclofenac verlassen 70 Prozent den Körper unverändert. Circa 90 Tonnen des Wirkstoffs werden im Jahr in Deutschland verbraucht, wodurch schätzungsweise 63 Tonnen Diclofenac über den Urin in den Wasserkreislauf gespült werden. Die Kläranlagen sind nicht darauf ausgelegt, Medikamente herauszufiltern. So gelangen diese ungehindert in die Umwelt und über die Oberflächengewässer auch wieder ins Trinkwasser. Mehr als 180 der 3 000 zugelassenen Wirkstoffe lassen sich heute in deutschen Gewässern nachweisen. Darunter findet man fast alles, was der Arzneischrank hergibt: von Hormonen und Lipidsenkern über Schmerzmittel und Antibiotika bis hin zum Röntgenkontrastmittel.

Auswirkungen auf den Menschen sind jedoch nicht zu befürchten. Die Umweltkonzentrationen von Medikamenten liegen in Deutschland mehrere Zehnerpotenzen unter der Wirkkonzentration. Man müsste dementsprechend große Mengen belasteten Wassers trinken, um eine wirksame Menge aufzunehmen. Beispielsweise enthalten 25 Millionen Liter Trinkwasser gerade mal eine Tagesdosis Diclofenac. Doch Entwarnung kann deshalb nicht gegeben werden. Es gibt keine Erfahrungen mit der Langzeitaufnahme von kleinen Medikamentenmengen, wie sie im Trinkwasser vorkommen. Spätfolgen können deshalb nicht ausgeschlossen werden. In der Nähe von Klärwerken findet man mitunter deutlich höhere Wirkstoffmengen, und die Effekte auf die verschiedenen Biotope sind meist kaum untersucht. „Diclofenac führt in Experimenten auch bei einigen Fischarten zu Nierenschäden. Allerdings ist die Analyse von Populationseffekten in freien Gewässern aufgrund der Vielzahl von Einflüssen schwierig“, erläutert Klaus Kümmerer, Professor im Institut für Umweltmedizin und Krankenhaushygiene am Universitätsklinikum Freiburg und Leiter eines Projekts der Deutschen Bundesstiftung Umwelt (DBU) zu Arzneimittelrückständen in der Umwelt.

Auch wenn die Forschung noch am Anfang steht, gibt es für einige Wirkstoffe schon alarmierende Ergebnisse. Ethinylestradiol, ein Bestandteil der Antibabypille, ist ein synthetisches Hormon mit einer hohen biologischen Wirksamkeit. Schon sehr geringe Konzentrationen von nur wenigen Nanogramm pro Liter reichen bei längerer Exposition aus, um die Befruchtungsraten einiger Fischarten und Schnecken zu senken. Solche Wirkstoffmengen sind tatsächlich in einigen Oberflächengewässern oder in der Nähe von Kläranlagen messbar. Weibliche Vorderkiemenschnecken bilden bei etwas höheren Ethinylestradiolkonzentrationen sogar zusätzliche männliche Geschlechtsorgane aus.

Nachhaltige Pharmazie
Die Wirkstoffe im Abwasser herauszufiltern, ist problematisch, insbesondere bei wasserlöslichen sind konventionelle Kläranlagen überfordert. Zusätzliche Aufreinigung, beispielsweise durch Nanofiltration, Ozonierung oder den Einsatz von Aktivkohle, kann zwar die Medikamente aus dem Wasser entfernen, verursacht allerdings ihrerseits problematische Abfälle oder Abfallprodukte, oder sie ist teuer. Für einen sinnvollen Einsatz dieser Technologien ist es deshalb notwendig, stark belastete Abwässer schon am Entstehungsort abzutrennen, zum Beispiel durch entsprechende Abwasserkanäle an Altenheimen, um diese effektiv reinigen zu können.

Kümmerer ruft deshalb zu einer nachhaltigen Pharmazie auf. Hierzu „muss man den gesamten Lebenszyklus von Arzneimitteln betrachten: von der Entwicklung über die Produktion und die Anwendung bis zur Entsorgung“. Die Umwelteigenschaften von Wirkstoffen sollten schon bei der Entwicklung eine wichtige Rolle einnehmen. Durch computerbasierte Methoden sei es möglich, die Umweltverträglichkeit von Arzneien zu verbessern, beispielsweise durch eine zielgenauere Wirkung eines Medikaments. Dadurch können die Dosen gesenkt werden, was zu einer geringeren Umweltbelastung führt. Entscheidender Vorteil umweltverträglich designter Arzneimittel: Auch in armen Ländern, wo eine aufwendige Aufbereitung von Abfällen und Abwasser nicht möglich ist, kommt es zu keiner übermäßigen Belastung.

Bemühungen vonseiten der Industrie gibt es durchaus. So verweist der Verband Forschender Arzneimittelhersteller auf die kürzlich eingeführte Jahreskurzinfusion zur Osteoporosebehandlung, die eine seltenere Medikamentenanwendung ermöglicht. Die entscheidenden Kriterien bei Arzneimittelentwicklung sind allerdings weiterhin Wirksamkeit, Verträglichkeit und gute Handhabbarkeit. „Es wäre nicht zu akzeptieren, dass Patienten weniger wirksame oder schlechter verträgliche Präparate einnehmen müssen, nur weil diese umweltverträglicher sind“, so Siegfried Throm, Geschäftsführer Forschung, Entwicklung, Innovation des Verbands Forschender Arzneimittelhersteller.

Vorreiter Schweden
Ein anderer Ansatz wird in Schweden verfolgt. Hier sind Ärzte dazu angehalten, bei gleicher Wirksamkeit ein entsprechend umweltfreundlicheres Medikament zu verschreiben. Dazu liegen entsprechende Listen vor, die zu den Arzneimitteln ein Umweltrisiko und einen PTB-Index angeben. Die Risikobewertung richtet sich dabei nach der aktuellen Umweltkonzentration eines Wirkstoffs und ob durch diese schon eine Gefährdung ausgeht. Der PTB-Index gibt unabhängig von der momentanen Belastung einen Wert zwischen null und neun an, der sich aus Stabilität des Medikaments (Persistence), der Anreicherung in der Umwelt (Bioakkumulation) und der Toxizität ergibt. Je höher der Wert, desto schlechter steht es um die Umweltverträglichkeit. Die Einführung eines vergleichbaren Systems ist in Deutschland nicht in Sicht. Sowohl die europaweite Arzneimittelgesetzgebung als auch die grundsätzlich andere Organisation der Apotheken – in Schweden werden Apotheken staatlich geführt – erschweren eine Adaption dieses Ansatzes.

Eine Kombination aller Möglichkeiten wird notwendig sein, um die Medikamente aus der Umwelt zu verbannen. „Jeder von uns kann einen Beitrag leisten. Wir als Patienten sollten immer auch die oft bestehenden Alternativen zur medikamentösen Behandlung von Beschwerden prüfen“, sagt Hans-Christian Schäfer von der DBU. Die richtige Entsorgung von Arzneien gehört selbstverständlich auch dazu. Zwar wird in den Beipackzetteln darauf hingewiesen, dass Medikamentenreste beim Apotheker abzugeben sind, und der interessierte Bürger kann auch entsprechendes Informationsmaterial bei den verschiedenen Umweltverbänden erhalten. Allerdings wäre ein breiteres Bewusstsein für die Belastung durch Arzneimittelrückstände wünschenswert.
Foto:vario images
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Marc Meißner

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