ArchivDeutsches Ärzteblatt26/2008Rechtsmedizin: Vor Ort sein bei den Opfern von Gewalt

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Rechtsmedizin: Vor Ort sein bei den Opfern von Gewalt

Siegmund-Schultze, Nicola

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Erweckt Vertrauenbei Kindern:Die Rechtsmedizinerin Bianca Navarro untersucht häufig Minderjährige. Fotos:privat
Erweckt Vertrauenbei Kindern:Die Rechtsmedizinerin Bianca Navarro untersucht häufig Minderjährige. Fotos:privat
Die Forensikerin Bianca Navarro fährt zu Menschen, die misshandelt oder missbraucht worden sind. Die Ärztin will einer „Kultur des Hinsehens“ zur Umsetzung verhelfen und Lücken in der Diagnostik schließen.

Mainz im April 2008. An der Pforte des Rechtsmedizinischen Instituts, einem massig wirkenden Gebäude aus grauem Stein, hat Bianca Navarro eine Nachricht hinterlassen: Es wird später. „Unvorhergesehene Tatortbesichtigung“ ist die Erklärung an der Pforte.
Eine halbe Stunde später ist sie da. Eine zierliche junge Frau von Anfang dreißig, das dunkelblonde, glatte Haar zum Pferdeschwanz gebunden. Sie kommt zurück von einer Kindertagesstätte in einem angrenzenden Bundesland. „Das Kind, das ich gerade untersucht habe, hat Glück, dass es noch lebt“, sagt Navarro. Fälle so gravierend wie dieser sind nicht alltäglich, aber doch auch nicht selten.

Petechien im Gesicht
Einer Kindergärtnerin war mehrfach aufgefallen, dass eine Dreijährige immer mal wieder kleine, rote Punkte im Gesicht hatte. Hautirritationen, dachte die Erzieherin zunächst. Als die Punkte an diesem Tag wieder da sind, erinnert sich die Betreuerin an eine Fernsehsendung, die sie kurz zuvor gesehen hatte: Navarro hatte in der Sendung erklärt, dass kleine rote Punkte auf der Haut mögliche Folge von Gewalt sein könnten. Die Kindergärtnerin ruft Navarro an, die sich unverzüglich auf den Weg macht. Tatsächlich findet sie im Gesicht des Mädchens Petechien, die sich bis über Hals und Schultern erstrecken. Das Kind hat offenbar mehrere Erstickungsversuche überlebt. „Da besteht natürlich der Verdacht der versuchten Tötung“, sagt Navarro. Das betroffene Mädchen und sein Geschwisterchen seien sofort fremd untergebracht worden, um eine potenzielle Gefährdung durch Familienmitglieder auszuschließen. Jetzt ermittele die Polizei.

Seit die „Forensische Ambulanz für Opfer von Gewalt in engen sozialen Beziehungen“ über Medien und Weiterbildungsveranstaltungen bekannter wird, steht Navarros Telefon kaum noch still. Der Bedarf an forensisch-ambulanten Kollegen, die niederschwellig und schnell konsiliarisch tätig werden, ist offenbar groß. Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. Reinhard Urban (Leiter des Instituts für Rechtsmedizin in Mainz) bietet seit Längerem in Kliniken fachlichen Rat an bei Patienten mit Verletzungsmustern, die sich durch die geschilderte Ursache nicht plausibel erklären lassen. Auch für Frauenhäuser in der Umgebung war und ist die Forensische Ambulanz in Mainz Ansprechpartner.

Dafür fährt Navarro jährlich Tausende von Kilometern: um zu diagnostizieren, aber auch, um in Kurzfortbildungen forensisches Grundwissen über Symptome von Gewaltanwendung zu vermitteln. Pädiater, Gynäkologen, Hebammen, Familienrichter, Erzieher, Sozialarbeiter, Mitarbeiter des Gesundheitsamts, aber auch Polizisten sind die Adressaten. „Wir wollten unsere konsiliarische Tätigkeit nicht begrenzen, wir sind für jeden da, der einen Verdacht hat, auch für Privatpersonen“, erläutert Navarro.

Wie schafft man eine solche Arbeit, wenn man selbst ein Kind hat? „Schwer“, meint Navarro, ihr Lebensgefährte habe gerade seinen Erziehungsurlaub verlängert. Ursprünglich habe sie Kinderärztin werden wollen, schon als Dreijährige, warum, weiß sie selbst nicht. Die Eltern hätten ihre Tochter hingegen gern im Familienbetrieb gesehen.

Aber Navarro studierte Medizin in Mainz. Sie betreute in ihrer Freizeit Kinder, machte Nachtdienste in der Gynäkologie, um sich finanziell über Wasser zu halten. In der Vorbereitung auf das Studium hatte sie Pflegepraktika auf der Kinderkrebsstation eines Kinderkrankenhauses absolviert. Damals stellte sie fest, dass Misserfolge in der Behandlung für sie schwer zu verkraften waren. Und so hat sie sich gegen die therapeutische und für die forensische Medizin entschieden.

Immer häufiger wird sie um Rat gebeten. Betrug die Zahl der Untersuchungen in der Mainzer Ambulanz noch 66 im Jahr 2004, so dürften es dieses Jahr bereits 240 werden. Bei einem Großteil der Untersuchungen wurde Gewaltanwendung festgestellt, zu 80 Prozent waren die Opfer Kinder.

Leider selten Fehlalarm
Die Zunahme der Zahl der Untersuchungen führt Navarro darauf zurück, dass das Angebot der Forensischen Ambulanz bekannter, die Bevölkerung sensibler werde, aber möglicherweise auch der Anteil der Familien mit sozialen Problemen steige. Etwa acht von zehn misshandelten Kindern stammten aus sozial schwachen Familien, schätzt Navarro.

Auch nachts klingelt ihr Mobiltelefon, „und leider ist es selten Fehlalarm“, sagt Navarro. Es gebe zwar gelegentlich Anrufe von Menschen, die eine Familien- oder Nachbarschaftsfehde durch falsche Anschuldigungen austragen wollten, aber eher selten. Häufig sei ein Verdacht berechtigt.

So bei den Fotos, die ihr ein Mann von seiner Wohnungssuche mailte. Bilder völlig verwahrloster Räume, in denen kleine Kinder lebten. „Ich habe mir die Bilder angeschaut und das Jugendamt verständigt“, teilt Navarro mit.

Oder die Mutter eines wenige Jahre alten Kindes, das nach dem Besuch beim Vater erzählte, es habe dessen Penis im Gesicht gehabt und aus dem sei „weiße Suppe“ gekommen. Für ein Kleinkind sehr spezifische Schilderungen. Sie legen den Verdacht eines sexuellen Missbrauchs nahe, auch wenn – wie möglicherweise in diesem Fall – keine Spuren am Körper des Kindes nachweisbar seien, so Navarro. Sie riet der Mutter, das Jugendamt zu informieren, das Kind einem Kinderpsychologen vorzustellen und wegen der Wiederholungsgefahr der Polizei den Vorfall zu schildern.

Lücken schließen, da wo Privatpersonen oder Institutionen akut unsicher sind, ob ein Verdacht auf Missbrauch oder Gewalt berechtigt ist; Fachgrenzen überwinden helfen, damit für potenzielle Opfer eine dem Stand der Wissenschaft entsprechende Diagnostik zur Verfügung steht, weil die Untersuchung auf Spuren von Gewalt spezifische forensische Kenntnisse erfordert – das ist Navarros Mission. Bis zum Jahr 2007 hat es für dieses oft den normalen Arbeitsalltag sprengende Engagement keine finanzielle Unterstützung gegeben. Seit 2007 aber wird die Arbeit der Forensischen Ambulanz Mainz vom Land Rheinland-Pfalz gefördert. Jede größere Stadt sollte eine solche forensische Ambulanz einrichten, so die Mainzer Rechtsmedizinerin.

„Wir würden die niedergelassenen Kollegen und Klinikärzte gern stärker motivieren, sich im Sinne der Prävention konsiliarisch Rat von Forensikern zu holen“, sagt Navarro. Dazu gelte es auch, Kinder- und Jugendärzte stärker in regionale Netzwerke einzubinden und zu informieren, wo es Kindergynäkologen und -psychiater und Ansprechpartner in der Rechtsmedizin oder auch beim Jugendamt gebe. Für behandelnde Ärzte stehe häufig die Therapie im Vordergrund, die Deutung von Verletzungsmustern sei für sie oft schwierig und sekundär.

30 000 bis 60 000 Kinder werden Schätzungen zufolge jährlich misshandelt, fünf Prozent der Familien gelten als Hochrisikofamilien. Nach offiziellen Zahlen sind 2006 elf Kinder infolge von Misshandlung oder Vernachlässigung gestorben – ohne Dunkelziffer. Angesichts der in letzter Zeit gehäuft bekannt gewordenen Fälle proklamiert die Bundesregierung verstärkt eine „Kultur des Hinsehens“. Eine im April 2008 vom Bundestag verabschiedete Gesetzesänderung soll die Absicht unterstützen: Künftig dürfen Familiengerichte schon bei begründetem Verdacht auf Verletzung des Kindeswohls eingreifen, nicht erst bei Erziehungsversagen.

Jedes gerettete Kind zählt
Sie selbst verstehe unter einer „Kultur des Hinsehens“ keine Kultur des Misstrauens, sondern der Aufmerksamkeit, des Interesses, der Empathie. Die Rechtsmedizin müsse stärker als bisher die Chance erhalten, bei den Opfern Zeichen von Gewalt zu Lebzeiten diagnostizieren zu können, nicht erst auf dem Sektionstisch. Dazu bedürfe es der Mithilfe aller. Auch die Politik müsse ihren Beitrag leisten und die beteiligten Institutionen personell entsprechend ausstatten.

Sie sei nicht Mutter Teresa, hat ihr ihr Chef schon mehrfach gesagt, sie könne nicht alle Misshandlungen verhindern und alle Kinder retten. „Nein“, hat sie geantwortet, „aber möglichst viele.“
Dr. rer. nat. Nicola Siegmund-Schultze

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