MEDIZINREPORT
Hormone und Brustkrebs: Das onkogene Potenzial von Gestagenen wird unterschätzt


Die Unbedenklichkeit von Progesteron und synthetischen Gestagenen (Progestine) in Bezug auf das Brustkrebsrisiko muss angesichts zunehmender Hinweise, die das Gegenteil nahelegen, neu bewertet werden. Dieses Resümee zieht Dr. med. Cecylia Giersig, Sachgebietsleiterin Endokrinologie, Diagnostik in der Abteilung Pharmakovigilanz am Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) in der neuesten Ausgabe des Bundesgesundheitsblattes (2008; 7: 782–6). Giersig und Mitarbeiter hatten die Ergebnisse aus neuesten experimentellen, klinischen und epidemiologischen Studien zur hormonellen Kontrazeption und postmenopausalen Hormontherapie (HT) den Berichten über Brustkrebs als unerwünschte Arzneimittelwirkung von Gestagenmonokontrazeptiva, kombinierten oralen Kontrazeptiva und postmenopausaler HT gegenübergestellt.
Die verfügbaren Daten deuten darauf hin, dass Progesteron und seine Derivate das Tumorwachstum möglicherweise stärker stimulieren als die Kombination von Östrogen und Gestagen. Giersig führt als Indizien für eine potenzielle malignomfördernde Wirkung auf, dass
- Gestagene im Tierversuch das Wachstum von Hormonrezeptor-positiven Mammakarzinomen stark ankurbeln
- Antiprogesterone wiederum die Reaktivierung solcher Tumoren im Tiermodel für BRCA1-Genmutation unterdrücken
- sich Progesteronmetabolite als potente Regulatoren der Zellproliferation, der Adhäsion und der Apoptose erwiesen haben
- Progesteron an Mammakarzinom-Zelllinien dosisabhängig die Apoptose hemmt
- der Verdacht eines erhöhten Brustkrebsrisikos im Zusammenhang mit der Hormontherapie erst manifest wurde, nachdem Gestagene auf regulärer Basis zum Schutz des Endometriumkarzinoms aufgenommen wurden und
- dass unter den Spontanmeldungen zu unerwünschten Arzneimittelwirkungen in Deutschland wesentlich mehr Brustkrebsfälle bei Gestagenmonokontrazeptiva vorliegen als zu den – überaus häufiger angewendeten – Kombinationskontrazeptiva.
Klärung durch weitere Studien
Giersig kommt zu dem Schluss, dass die „Unbedenklichkeitsvermutung“ von Gestagenen in Bezug auf Krebs dazu geführt habe, die Spur des wissenschaftlichen Zweifels nicht konsequent verfolgt zu haben, welcher aufgrund widersprüchlicher oder unzureichender Daten vor allem zu den Gestagenmonokontrazeptiva bestand. Neue epidemiologische Studien sollen eine Klärung bringen.
Millionen Frauen nahmen und nehmen über Jahre Gestagene, vorwiegend in Kombination mit Östrogenen. Zu möglichen Spätwirkungen hinsichtlich eines onkogenen Potenzials liegen keine gesicherten Erkenntnisse vor. Die Wirkstoffgruppe stand daher bislang kaum in Verdacht, das Wachstum von Mammakarzinomen zu fördern oder Brustkrebs auszulösen – im Gegenteil. Seit sich herausstellte, dass die Östrogenmonotherapie als Hormonersatz mit einer erhöhten Inzidenz an Endometriumkarzinomen assoziiert ist, wird Östrogen bei Frauen mit erhaltener Gebärmutter mit Progestin kombiniert.
Dass die Arzneimittelbehörde ein Interesse an der Klärung des Risikoprofils hat, macht BfArM-Präsident Prof. Dr. med. Johannes Löwer in einem Editorial deutlich: Experimentelle Untersuchungen, klinische und epidemiologische Studien sowie Einzelfallberichte lieferten Erkenntnisse, die . . . für einen abschließenden Risikovergleich nicht konsistent oder ausreichend tragfähig seien. „Sie verlangen danach, dem Zusammenhang zwischen der Anwendung von Gestagen-only-Kontrazeptiva und dem Auftreten von Brustkrebserkrankungen sowie einer erhöhten Auftretenswahrscheinlichkeit solcher Erkrankungen im Vergleich zu kombinierten hormonellen Kontrazeptiva unvoreingenommen nachzugehen. Dazu gehört auch, dass die Durchführung geeigneter epidemiologischer Studien initiiert wird.“ Eine entsprechende Fallkontrollstudie werde zurzeit durchgeführt.
Löwer betont, dass die aktuelle Publikation des BfArM dazu beitragen soll, ein möglicherweise nicht ausreichend qualitativ und quantitativ beschriebenes Arzneimittelrisiko zur wissenschaftlichen Diskussion zu stellen: „Es handelt sich dabei um ein Risiko, das herausragende Bedeutung für die Anwenderinnen, aber auch darüber hinaus hat, falls sich aus einer neuen Bewertung für Gestagen-only-Kontrazeptiva ein höheres Brustkrebsrisiko als für kombinierte hormonelle Kontrazeptiva ergeben würde.“
Dr. med. Vera Zylka-Menhorn
Wenderlein, J. M.