WISSENSCHAFT
Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik: Weiterentwicklungen in der zweiten Version


Psychische Erkrankungen werden in Deutschland nach der internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD) oder nach dem Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM) diagnostiziert. Diese Klassifikationssysteme erfassen Krankheitsphänomene jedoch lediglich beschreibend und tragen zum Verständnis der Hintergründe nur wenig bei.
Um solche Hintergründe angemessener zu erfassen, schlossen sich mehrere Psychiater, Psychologen und Psychotherapeuten aus dem deutschsprachigen Raum zum „Arbeitskreis Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik (OPD)“ zusammen. Als der Arbeitskreis OPD 1992 seine Arbeit aufnahm, konnte er auf weitreichende Erfahrungen zurückgreifen, denn bereits in der Vergangenheit waren zahlreiche Versuche unternommen worden, psychoanalytische und psychodynamische Begrifflichkeiten zu klären sowie eine gemeinsame Sprache und objektivierende Instrumente zu entwickeln, die eine internationale Zusammenarbeit in Klinik und Forschung möglich machen. In den folgenden Jahren erarbeitete der Arbeitskreis OPD ein multiaxiales Diagnose- und Klassifikationssystem namens „Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik (OPD)“, das die Diagnostik in der psychodynamischen Psychotherapie strukturieren, vereinheitlichen und die jeweils aktuellen Ausgaben der Klassifikationssysteme ICD-10 und DSM-IV spezifisch ergänzen sollte. Mit diesem System sollte es für psychoanalytisch und tiefenpsychologisch fundiert arbeitende Psychotherapeuten möglich werden, Patienten in ihrer Vielschichtigkeit zu erfassen und die Voraussetzungen für eine individuelle Behandlung zu schaffen. Die OPD wurde 1996 erstmals veröffentlicht und erfuhr nach einigen Bewährungsproben breite Akzeptanz. Inzwischen ist sie weitverbreitet und wird an vielen Ausbildungsinstituten und Kliniken gelehrt.
Achsen der OPD-1
Die OPD-1 konstituiert sich aus vier psychodynamischen und einer deskriptiven Achse: Die ersten vier Achsen entstammen einem aus der Psychoanalyse abgeleiteten psychodynamischen Verständnis. Es wird davon ausgegangen, dass die wesentlichen Festlegungen in diesen vier Achsen mit psychoanalytischen Teilkonzepten (zum Beispiel Persönlichkeitsstruktur, intrapsychischer Konflikt, Übertragung) übereinstimmen, wobei Schlussfolgerungen auf der Ebene des Unbewussten nur mit Vorsicht und unter Bezug auf die vorgegebenen Operationalisierungen erfolgen sollen.
Achse I: Krankheitserleben und Behandlungsvoraussetzungen. Hier geht es unter anderem um Beschwerdesymptomatik und Therapieerwartungen, wobei der Schwerpunkt weniger auf dem Krankheitsverhalten als auf Erlebenselementen, Motivationen und vorhandenen Ressourcen liegt. Die Kategorien sind aus der kognitiven Psychologie entlehnt und haben hohe praktische Relevanz.
Achse II: Beziehung. Im Vordergrund stehen Übertragung und Gegenübertragung. Diese Achse gibt keine idealtypischen Konstellationen oder Muster vor, sondern stellt ein Kategoriensystem beobachtungsnaher Verhaltensweisen mit freier Kombinationsmöglichkeit zur Verfügung.
Achse III: Konflikt. Es geht um die zentrale Rolle innerer Konflikte. Dabei können lebensbestimmende, verinnerlichte Konflikte den eher aktuellen, äußerlich determinierten konflikthaften Situationen gegenübergestellt werden. Die Bearbeitung eines Konflikts kann als Behandlungsziel definiert werden.
Achse IV: Struktur. Diese Achse bildet Qualitäten beziehungsweise Insuffizienzen psychischer Strukturen ab. Hierzu zählen zum Beispiel die Möglichkeit beziehungsweise Unmöglichkeit zur inneren und äußeren Abgrenzung, die Fähigkeit beziehungsweise Unfähigkeit zur Selbstwahrnehmung und Selbstkontrolle sowie Abwehrfunktionen.
Achse V: Psychische und psychosomatische Störungen. Hier findet die etablierte deskriptiv-phänomenologische Diagnostik (ICD-10, DSM-IV) Eingang in die OPD.
Neuerungen der OPD-2
Im Jahr 2006 erschien schließlich die zweite Version der OPD. „Die OPD-2 ist mehr als eine überarbeitete Auflage des ersten Manuals“, sagt Prof. Dr. Manfred Cierpka, Sprecher des Arbeitskreises OPD aus Heidelberg. Folgende Neuerungen zeichnen die OPD-2 aus:
Erfassung von Veränderungsprozessen: Die OPD-1 ist vor allem ein Diagnoseinstrument und ermöglicht hauptsächlich eine Querschnittsdiagnostik. Damit lässt sich über den Vergleich individueller Befunde mit empirischen Normen feststellen, inwieweit sich ein Patient in relevanten Merkmalen von seiner Vergleichsgruppe unterscheidet. Außerdem dienen Querschnittserfassungen beispielsweise zu Beginn und am Ende der Therapie dazu, Probleme beziehungsweise Symptome zu identifizieren und in ihrer Schwere einzuschätzen sowie Faktoren zu erfassen, die zur Aufrechterhaltung, aber auch zur Auflösung der Symptome beitragen könnten. Auch die Klassifikation der Beschwerden, des Problems oder des Symptoms in ein übergeordnetes Klassifikationssystem (wie zum Beispiel der ICD-10) wird zur Statusdiagnostik gerechnet. Die OPD-1 ist überwiegend als eine solche „Statusdiagnostik“ konzipiert.
Mit der OPD-2 können jetzt nicht nur Querschnittserfassungen, sondern auch Veränderungsprozesse beim Patienten beschrieben werden. Sie führt zur Identifizierung von dysfunktionalen Beziehungsmustern, inneren spannungsreichen Konfliktkonstellationen und strukturellen Bedingungen beim Patienten, die sich zur Ableitung von therapeutischen Foki anbieten, wenn sie im Zusammenhang mit der Symptomatik und dem Leiden des Patienten stehen. Psychotherapeutisch induzierte Veränderungen können in den identifizierten OPD-Kategorien im Prozess verfolgt werden. Die OPD-2 folgt damit den aktuellen Anforderungen der Psychotherapieforschung, die Effekte der Veränderung im Prozess erfassen will, um Wirkmechanismen von Psychotherapie zu identifizieren. Erkenntnisse über den Prozess gehen mit Überlegungen zu therapeutischen Ansatzpunkten und geeigneten Interventionen in jedem Schritt der Behandlung einher. Ziel ist es, den therapeutischen Prozess für den Patienten günstig zu gestalten.
Erfassung von Ressourcen: Im Gegensatz zur OPD-1 werden in der OPD-2 die Ressourcen von Patienten stärker berücksichtigt. Beispielsweise werden in der Achse 1 Belastungen und Ressourcen des Patienten gegenübergestellt. In der Achse 2 werden nicht nur dysfunktionale Beziehungsmuster formuliert, sondern es können jetzt auch Beziehungsthemen identifiziert werden, die für den Patienten eine Ressource darstellen. In der Achse „Struktur“ besteht ebenfalls die Möglichkeit, Fähigkeiten des Patienten zu beschreiben, die ihm eine adäquate Beziehung zu seinem Umfeld und zu sich selbst erlauben.
Schnittstellen der Achsen: Eine weitere Neuerung besteht in der theoretischen Integration der Achsen, die bislang eher nebeneinander standen und voneinander unabhängig konzeptualisiert waren, obwohl angenommen wurde, dass die Befunde auf den einzelnen Achsen miteinander zusammenhängen. In der OPD-2 können dysfunktionales Beziehungserleben und -verhalten nun sowohl als Ergebnis lebensgeschichtlich determinierter, innerer Konflikte als auch als Ergebnis von Strukturdefiziten und Vulnerabilitäten ausgelegt werden. Es liegt dann am Therapeuten zu entscheiden, ob er die Beziehungsgestaltungen und die Zusammenhänge mit der Symptomatik eher konflikt- oder strukturbedingt oder sowohl konflikthafte als auch strukturbezogene Merkmale als auslösend und aufrechterhaltend für die Symptomatik ansieht. Aus dieser diagnostischen Entscheidung ergeben sich differenzielle therapeutische Strategien.
Fokusbestimmung und Therapieplanung: In der OPD-2 ermöglichen alle Achsen eine Fokusbestimmung. Als Foki gelten diejenigen Merkmale des OPD-Befunds, die die Störung mit verursachen und aufrechterhalten und deshalb für die Psychodynamik des Krankheitsbildes eine bestimmende Rolle spielen. Damit verbunden ist die Annahme, dass sich hinsichtlich dieser Foki etwas verändern muss, wenn ein substanzieller therapeutischer Fortschritt erreicht werden soll.
Bei der Fokusbestimmung ist darauf zu achten, dass je nach Art der Störung das Gewicht der Struktur- oder Konfliktanteile unterschiedlich ist und dass dieses Verhältnis sich in der Auswahl der Foki widerspiegelt. In eindeutigen Fällen können ausschließlich Konflikt- oder ausschließlich Strukturfoki gewählt werden. Meist sind jedoch beide Aspekte bedeutsam. Die OPD geht davon aus, dass sich Foki im Verlauf des Prozesses verändern können. Die Formulierung der Foki führt zu Beginn einer Behandlung zur Therapieplanung, die im Verlauf entsprechend modifiziert werden kann. Wesentlich dabei ist, dass der Therapeut über seine Strategien Rechenschaft ablegt und seine Veränderungskonzepte dem Patienten transparent macht.
Kurzversion: Anders als in der Vorgängerversion gibt es in der OPD-2 für jede Achse eine Kurzversion, die sich für die klinische Routine eignet. Daneben stehen weiterhin ausführlichere Fassungen zur Verfügung, die für Forschungs- oder Begutachtungszwecke genutzt werden können.
Nach dem Vorbild der Erwachsenen-OPD hat sich seit einiger Zeit auch eine eigene Arbeitsgruppe zur Operationalisierung entsprechender Konzepte für das Kindes- und Jugendalter zusammengefunden (Arbeitskreis OPD-KJ). Schnell wurde deutlich, dass die psychische Entwicklung von Kindern und Jugendlichen einer eigenen Herangehensweise hinsichtlich psychodynamischer Diagnostik bedarf. Das OPD-KJ-Manual wurde unter Beteiligung vieler deutschsprachiger Universitätskliniken für Kinder- und Jugendpsychiatrie, niedergelassener Kinder- und Jugendpsychiater sowie analytischer Kinder- und Jugendpsychotherapeuten erarbeitet und liegt mittlerweile in zweiter Auflage vor. Es versteht sich als fakultative, modular aufgebaute psychodynamische Diagnostik in Ergänzung des Multiaxialen Klassifikationsschemas (MAS). Ziel der OPD-KJ war und ist es, auch Konzepte der Tiefenpsychologie und Psychoanalyse im Kindes- und Jugendalter so zu operationalisieren, dass ihre Verwendung besser überprüfbar wird und ihre Reliabilität steigt.
Aus- und Fortbildung in OPD
Das Angebot an Aus- und Fortbildungen in OPD ist vielfältig und reicht von Einführungskursen über Trainingsseminare (Grund- und Aufbaukurse), Intensivtrainings und themenbezogenen Kursen bis hin zu OPD-Supervision. Verschiedene Trainingskurse werden regelmäßig von den regionalen Ausbildungszentren ausgeschrieben und können dort angefragt werden. Im Internet sind die Kurse unter der Adresse www.opd-online.net zu finden. Es wird vorausgesetzt, dass die Benutzer und Adressaten der OPD eine Basisakzeptanz und ein gewisses Maß an Erfahrung im Umgang mit psychodynamischen Konzepten mitbringen und sich im Klaren darüber sind, dass sie sich in einem psychoanalytisch-psychodynamischen Referenzsystem bewegen. Die von der Arbeitsgruppe OPD angebotenen Trainingsseminare wenden sich daher an Kliniker, die bereits über praktische Erfahrungen in Diagnostik und Psychotherapie verfügen, beispielsweise ärztliche und Psychologische Psychotherapeuten in eigener Praxis und in Institutionen. Darüber hinaus können Mitarbeiter in Forschungsprojekten aus dem Bereich Psychotherapie, Psychosomatik und Psychiatrie die Seminare besuchen, wobei auch hier ein klinischer Erfahrungshintergrund vorausgesetzt wird.
Dr. phil. Marion Sonnenmoser
Literatur
1. Arbeitskreis OPD: Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik 2 – Das Manual für Diagnostik und Therapieplanung. Bern: Huber 2006.
2. Arbeitskreis OPD-KJ: Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik im Kindes- und Jugendalter. Bern: Huber 2007.
3. Cierpka M, Arbeitskreis OPD. OPD-2. Die neue Version der Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik. Psychotherapeut 2006; 51(2): 171–4.
4. Schauenburg H, Buchheim P, Cierpka M, Freyberger HJ (Hrsg.): OPD in der Praxis – Konzepte, Ergebnisse, Anwendungen der operationalisierten psychodynamischen Diagnostik. Bern: Huber 1998.
5. Schneider W, Freyberger HJ (Hrsg.): Was leistet die OPD? Bern: Huber 2000.
6. Stasch M, Schmal H, Hillenbrand E, Cierpka M: Fokusorientierte Interventionen mit der OPD in der stationären Psychotherapie: Effekte auf Ergebnis und Verlauf der Behandlung. Zeitschrift für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie 2007; 53(4): 309–23.
Kontakt:
Arbeitskreis Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik, Internet: www.opd-online.net,
Sprecher: Prof. Dr. med. Manfred Cierpka, Institut für Psychosomatische Kooperationsforschung und Familientherapie, Zentrum für Psychosoziale Medizin, Bergheimerstraße 56, 69115 Heidelberg, Telefon: 0 62 21/56 47 00, E-Mail: Manfred.Cierpka @med.uni-heidelberg.de
Ausbildungsbeauftragter des Koordinationsrates: Prof. Dr. med. Henning Schauenburg, Klinik für Psychosomatische und Allgemeine Klinische Medizin der Universität Heidelberg, Thibautstraße 2, 69115 Heidelberg, Telefon: 0 62 21/56 58 65,
E-Mail: Henning.Schauenburg@med.uni-heidel berg.de