ArchivDeutsches Ärzteblatt31-32/2008Rückenschmerzen: Der größte Teil ist myofaszial bedingt

MEDIZINREPORT

Rückenschmerzen: Der größte Teil ist myofaszial bedingt

Leinmüller, Renate

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LNSLNS Die ursächlichen Punkte sind – ohne Hightech – mit den fünf Sinnen durch eine gezielte neurologisch-orthopädisch-funktionelle Diagnostik aufzudecken.

Etwa 85 bis 90 Prozent der Rückenschmerzen werden als „unspezifisch“ eingestuft; entsprechend wird daran „herumgedoktert“, obwohl in vielen Fällen durchaus Ursachen auszumachen sind. „Unspezifisch umschreibt die fehlende Differenzialdiagnostik, die eine körperliche Untersuchung erfordert, was häufig unterlassen wird, weil es Zeit kostet und nicht entsprechend honoriert wird. Dieses systembedingte Problem ist eine der Ursachen für die Chronifizierung“, erklärte Priv.-Doz. Dr. med. Michael Überall (Nürnberg) anlässlich des Deutschen Schmerz- und Palliativtages in Frankfurt/Main.

Ein weiterer Faktor ist die Überbewertung der bildgebenden Verfahren. „Schon bei beschwerdefreien 20- bis 30-Jährigen lassen sich bei einer Kernspinaufnahme Auffälligkeiten entdecken“, so Prof. Dr. med. Rainer Wigand (Frankfurt am Main): „Ein bildhafter Befund führt beim Patienten aber schnell zu einer Verfestigung der Symptomatik.“

Myofasziale Schmerzsyndrome: Die Muskulatur neben der Wirbelsäule ist meistens verhärtet, zudem druckschmerzhaft.
Myofasziale Schmerzsyndrome: Die Muskulatur neben der Wirbelsäule ist meistens verhärtet, zudem druckschmerzhaft.
Muskuläre Verspannungen
Heute ist jedoch klar, dass nicht degenerative, sondern myofasziale Ursachen den Löwenanteil der Rückenschmerzen ausmachen: 85 bis 90 Prozent der Beschwerden sind durch Fehlfunktionen und Verspannungen der Muskulatur bedingt. Betroffen sind vor allem Büroangestellte und Arbeiter, die schwere Lasten heben, Vibrationen ausgesetzt sind oder immer die gleiche Bewegung ausführen, wie Fließbandarbeiter – aber auch Musiker. Auch „stehende Berufe“ fordern „Rückenzoll“, wie das klassische Beispiel des Chirurgen beweist.

Bei der körperlichen Untersuchung lassen sich neurologische, orthopädische und funktionelle Schwachpunkte aufdecken. „Am besten schaut man sich die Bewegungen des Patienten schon beim Ausziehen an“, rät Dr. med. Gerhard Müller-Schwefe (Göppingen). Bei der Inspektion könne der hüftbreit stehende Patient nicht durch Ausbalancieren „mogeln“, wenn der Fuß des Arztes zwischen seinen Fersen steht. Geprüft wird von hinten die Symmetrie der Taillendreiecke (Asymmetrie = Dysbalance), und es folgt der Höhenvergleich von Beckenpunktpaaren (Beckenkamm, Spina iliaca posterior superior). Verbunden damit wird ein Funktionstest: Bleiben die Punktpaare bei der Inklination nach vorn gleich? Bei muskulärer Dysbalance kann die Höhe gleich bleiben oder verkürzt sein. Ob die Wirbelsäule symmetrisch ist und die Muskulatur beidseits das gleiche Profil aufweist, ist in der Aufrechten durch beidseitige Neigung zu beurteilen.

Bei der Inspektion von vorn zeigt der Vergleich von Spina iliaca anterior superior zwei Varianten: Sind die Punkte hinten und vorne höher, liegt eine Beinlängendifferenz vor. Häufiger ist jedoch eine Fehlstatik durch Beckenverwringung: Der hintere Punkt liegt tiefer als der vordere, weil bei gleich langen Beinen das Becken infolge einer exzentrischen Lagerung der Hüfte „abkippt“. In diesen Fällen liegt immer eine muskuläre Störung zugrunde.

Bei der Funktionsprüfung ist mit dem Zehen-/Fersengang eine Wurzelreizung im Segment L5/S1 sofort auszuschließen. In Rückenlage werden Spannungsphänomene der Muskulatur untersucht: Das Lasègue-Zeichen gibt Hinweise auf eine Wurzelkompression, bei schmerzhafter Hüftgelenksinnenrotation ist das Hüftgelenk selbst Quelle der Schmerzen. Eine schmerzhafte gebeugte Adduktion ist ein Hinweis auf Störungen der Beckenbänder des Ileosakralgelenks. Auch das schmerzhafte seitlich gebeugte Knie (Patrick-Zeichen) weist auf eine Ursache im Hüft- oder Ileosakralgelenk hin. Mit diesem Test zu verbinden ist die Palpation des M. iliacus und psoas, die ebenfalls häufig Probleme bereiten.

Zur Überprüfung von Sensibilität und Reflexen werden in Bauchlage – nach Ausschluss möglicher Blockaden – die Triggerpunkte quer zur Muskelfaserrichtung palpiert und dabei jeder einzelne Muskel hinsichtlich Verhärtung und Schmerzhaftigkeit überprüft. „Die Patienten können die Schmerzpunkte meist gut beschreiben, sie sind dann leicht zu lokalisieren“, so der Schmerztherapeut. Findet man Sensibilitätsstörungen, werden sie segmental abgegrenzt – und geprüft, ob der Reflexmuskel ebenfalls betroffen ist.

„Bei Nackenschmerzen sind dann noch zusätzliche Untersuchungen nötig. Aber beim klassischen Rückenpatienten ist durch diese Fünfsinnesprüfung ein muskuloskelettaler Schmerz ziemlich sicher zu erfassen und bildgebende Verfahren sind unnötig“, unterstreicht Müller-Schwefe. Die meisten seiner Patienten präsentierten ihm aber bereits eine Kernspintomografie, oft mit der Diagnose Bandscheibenprolaps. Wenn die neurologische Untersuchung jedoch keinerlei Auffälligkeiten zeigt, handelt es sich um Störungen, die an Muskulatur und Bandapparat festzumachen sind.

Aktivierung von Triggerpunkten
Bei chronischem Rückenschmerz sind Kombinationen häufig: Degenerative Veränderungen der Wirbelsäule mit entzündlichen Anteilen der Wirbelgelenke in Kombination mit muskulären Veränderungen führen zur Aktivierung von Triggerpunkten. Es kommt zur Veränderung der Rückenspannung und damit zu fortgeleiteten Schmerzen. Zum Teil haben die Patienten bereits eine Operation hinter sich; narbige Veränderungen weisen einen Prolaps auf – und damit zusätzlich oft noch eine neuropathische Komponente. In diesen Fällen mit vielen Schmerzmechanismen ist schon initial eine pharmakologische Kombinationstherapie mit Analgetika, Muskeltonus normalisierenden Medikamenten, Opiaten und Antikonvulsiva sinnvoll, um eine Aktivierung überhaupt zu ermöglichen.

Generell plädieren die Schmerztherapeuten heute für eine ursachen-orientierte medikamentöse Therapie anstelle des WHO(Weltgesundheitsorganisation)-Schemas, das die Wahl des Pharmakons an der Schmerzintensität festmacht. „Da 90 Prozent der Rückenschmerzen myofaszial bedingt sind, haben eine effektive Analgesie und die Normalisierung des Muskeltonus oberste Priorität. Entzündungsprozesse dagegen spielen mit fünf Prozent nur eine geringe Rolle, deshalb sind antiinflammatorische Medikamente nur bei klassischen Entzündungszeichen angezeigt – etwa beim akuten Kreuzdarmbeingelenk“, erläutert Müller-Schwefe.

Um einer Chronifizierung vorzubeugen, ist die Aktivierung und Mitarbeit des Patienten notwendig, denn der Teufelskreis aus Verspannung durch Fehlhaltung ist nur durch Muskelaufbau und Verhaltenstherapie zu durchbrechen. Entsprechende Konzepte können aber nur greifen, wenn sie so multimodal angelegt sind wie das Krankheitsbild selbst – und dem Patienten realistische Erwartungen vermittelt werden: Tabletten oder Spritzen allein führen nicht zum Ziel. „Compliance erfordert Aufklärung über die Grundlage der Schmerzen und die Bausteine der Therapie“, erläuterte Dr. med. Thomas Cegla (Wuppertal). Die Behandlung sei deshalb langfristig ausgelegt.

Zu Beginn lernt der Patient isometrische Entspannungstechniken, die neurophysiologisch wirksam sind: Die betroffenen Muskeln werden – ohne sie zu verkürzen – für 20 Sekunden angespannt gehalten. Das führt zu einer tieferen Entspannung als in der Ausgangslage und ist noch wirksamer als die Technik nach Jacobson. „Auf diese Art lässt sich jeder einzelne Muskel trainieren, was der Patient dreimal täglich zu Hause üben muss“, erklärt Müller-Schwefe das Einstiegsprogramm. Häufig seien allein durch diese Übungen bestimmte Fehlstatiken zu ändern.

Ist die Koordination wiederhergestellt, beginnt das aktive Trainieren zum Aufbau der verkürzten oder nicht ausreichend leistungsfähigen Muskelpartien, zuerst mit Krafttraining, später mit Ausdauertraining. „Spazierengehen ist besser als nichts, reicht aber bei chronischem myofaszialem Rückenschmerz bei Weitem nicht aus“, fasst der Experte zusammen.

Nozizeptorschmerz
Zwar klingen 90 Prozent der akuten Rückenschmerzen im Verlauf einer Woche ab, doch fast drei Viertel (70 Prozent) der Patienten müssen mit drei bis vier Rückfällen rechnen. In fast jedem zehnten Fall kommt es zur Chronifizierung, bei der aus dem Nozizeptorschmerz ein übertragener Schmerz werden kann – ausgelöst von einem muskulären Triggerpunkt.

Beim chronischen Rückenschmerz mit neuropathischer und entzündlicher Komponente wiederum scheint nach aktuellen Erkenntnissen von Prof. Jürgen Sandkühler (Wien) die zentrale Verarbeitung gestört: Zumindest im Tierversuch konnte der Neurophysiologe zeigen, dass sowohl der zentrale „Anschub“ zur Aktivierung der körpereigenen schmerzhemmenden Neurone vermindert ist als auch die Schmerzhemmung selbst insuffizient ist. Therapeutisches Ziel ist es dann, die postsynaptische Schmerzhemmung medikamentös zu unterstützen.
Dr. rer. nat. Renate Leinmüller

Fakten
Zur Prävalenz von Rückenschmerzen:
Rückenschmerzen sind – nach Atemwegsbeschwerden – der zweithäufigste Grund für einen Arztbesuch. Bei Männern sind sie mit 14 Prozent die häufigste, bei Frauen mit elf Prozent die zweithäufigste Ursache für Arbeitsausfälle.

1. Lebenszeitprävalenz: 80 bis 90 Prozent aller Erwachsenen leiden mindestens einmal an Rückenschmerzen.
2. Jahresprävalenz: Frauen sind mit 60 bis 70 Prozent häufiger betroffen als Männer (50 bis 60 Prozent).
3. Punktprävalenz: 20 Prozent aller Erwachsenen waren in den vergangenen drei Monaten durch Rückenschmerzen funktionell eingeschränkt (DFRS 2003).

Schwere Rückenschmerzen bestanden laut Gesundheitssurvey 1998 bei sieben Prozent der männlichen und 14 Prozent der weiblichen Bevölkerung.
Die Schmerzdauer betrug mehr als drei Monate bei 15 Prozent der Männer und 20 Prozent der Frauen.
Myofasziale Schmerzsyndrome: Die Muskulatur neben der Wirbelsäule ist meistens verhärtet, zudem druckschmerzhaft.
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Myofasziale Schmerzsyndrome: Die Muskulatur neben der Wirbelsäule ist meistens verhärtet, zudem druckschmerzhaft.

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