

Der Text besteht aus einem „allgemeinen Teil“ und einer „Lehre vom Charakter“. Im ersten Teil klärt Adler die anthropologischen Voraussetzungen der Individualpsychologie, der zweite bildet seinen Beitrag zur Persönlichkeitspsychologie. Wie bereits in seinem theoretischen Hauptwerk „Über den nervösen Charakter“ (1912) erörtert Adler auch in „Menschenkenntnis“ die Entstehung des Charakters psychodynamisch. Vererbung spielt ihm zufolge dabei keine Rolle. Einer „Dispositionspsychologie“ stellt er seine „Positionspsychologie“ gegenüber und betont damit, dass es ihm nicht auf angeborene Anlagen ankommt, sondern auf die Position, die jemand in einem sozialen Bezugssystem einnimmt. Deutlich weist er auf die „soziale Beschaffenheit des Seelenlebens“ und den „Zwang zur Gemeinschaft“ hin und nimmt damit die Grenzen der Gestaltungsmöglichkeiten des Einzelnen in den Blick. Dabei steht für Adler „am Beginn jedes seelischen Lebens ein mehr oder weniger tiefes Minderwertigkeitsgefühl“, dieses Gefühl induziert überhaupt erst den Prozess des Seelenlebens. „Charakter“ ist die persönliche Antwort, die ein Individuum auf die Anforderungen seiner Umwelt gibt. Mit den Begriffen „Leitlinie“, „Weltbild“ und ab 1929 „Lebensstil“ bezeichnet Adler das Ergebnis dieser Wechselwirkungen.
„Menschenkenntnis“ setzt sich zusammen aus Vorlesungen, die Adler im Volksheim Ottakring hielt. Ohne die Hilfe eines mitstenografierenden Juristen wäre das Werk nicht entstanden. Bei der Lektüre spürt man die Kraft des gesprochenen Wortes. Zahlreiche Fallbeispiele tragen zur Anschaulichkeit bei. Christoph Goddemeier
Jürg Rüedi (Hrsg.): Alfred Adler. Menschenkenntnis (1927). Studienausgabe, Band 5. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 2007, 235 Seiten, gebunden, 37,90 Euro
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