ArchivDeutsches Ärzteblatt17/1997Der Sechste Kondratieff: Gesundheit wird zu einer wirtschaftlichen Macht

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Der Sechste Kondratieff: Gesundheit wird zu einer wirtschaftlichen Macht

Händeler, Erik

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LNSLNS Nach mehr als 200 Jahren Industrialisierung bremsen gesundheitliche und ökologische Schäden die westlichen Gesellschaften, sich wirtschaftlich weiterzuentwickeln. Zunehmend erkranken Menschen auch an psychisch bedingten Leiden. Das schädigt die gesamte Volkswirtschaft. So wird aus dem Kostenfaktor Gesundheit eine wirtschaftliche Macht, wie der Ökonom Leo A. Nefiodow vom GMD-Forschungszentrum Informationstechnik in St. Augustin bei Bonn in seinem im folgenden Beitrag vorgestellten Buch "Der Sechste Kondratieff" schreibt.


Was bisher nur als wirtschaftswissenschaftliche Theorie diskutiert wurde, könnte auch dem Gesundheitssektor zusätzliches Gewicht und eine andere Richtung verleihen: nicht nur kurze und mittlere Konjunkturzyklen bestimmen die Wirtschaft, sondern auch etwa 40 bis 60 Jahre lang andauernde Konjunkturzyklen, benannt nach dem Russen Nikolai Kondratieff. Sie werden ausgelöst von Basisinnovationen wie der Dampfmaschine, Elektrotechnik, billiger Erdölenergie oder der Informationstechnik (siehe Grafik). Diese bringen einen gigantischen Produktivitätsschub und tragen damit das Wachstum der Weltwirtschaft über mehrere Jahrzehnte.
Ein Kondratieff verändert die Art, wie sich eine Gesellschaft organisiert - um die neue Basisinnovation optimal zu nutzen. Dazu gehören eine neue Infrastruktur, neue Bildungsinhalte, neue Schwerpunkte in Forschung und Entwicklung. Jene Volkswirtschaften, die sich auf die neuen Spielregeln am besten einstellten, konnten mit ihrer technischen Spitzenposition in den neuen Wachstumsbranchen genug Arbeitsplätze schaffen, gute Sozialleistungen anbieten und große Armeen finanzieren - also Macht ausüben.
Nun trieb der Computer in den vergangenen 30 Jahren Erfindungen und wirtschaftliche Anwendungen voran, durchdrang alle Bereiche der Gesellschaft, sorgte für sozialen, kulturellen und politischen Wandel. Doch die Wachstumsraten der Informationstechnik, die im Fünften Kondratieff das Wirtschaftswachstum getragen haben, gehen zurück. Arbeitslosigkeit wird zunehmen - wie an jedem Ende eines Kondratieffzyklus.
Wo ist nun eine Basisinnovation in Sicht, die wieder einen kräftigen Produktivitätsschub bringt? Alles, was die moderne Marktforschung schon jetzt an Trägern des Sechsten Kondratieffs identifizieren kann, so Nefiodow, hat seine Synergien vor allem in einem: Gesundheit - allerdings umfassend verstanden. Denn Gesundheit ist bekanntlich nicht auf den Körper allein beschränkt.
Seelische Probleme erzeugen Negativgefühle. Wer damit nicht umgehen kann, der ist körperlich wie auch geistig beeinträchtigt, kann somatisch erkranken. Dennoch sind Medizin und Psychologie noch wenig vernetzt. Die seelischen Probleme muß man besser in den Griff bekommen, um jene Kräfte freizusetzen, die in der Wirtschaft der Informationsgesellschaft entscheidend sind, wie Kreativität, Motivation, Zusammenarbeit, Lern- und Einsatzbereitschaft. Basisinnovation des Sechsten Kondratieffs ist daher die Erschließung von psychosozialen und seelischen Potentialen - etwas Immaterielles.
Für alles, was unter dem Oberbegriff "soziale Kompetenz" zusammengefaßt ist, ist Gesundheit Voraussetzung. Damit wird der Sechste Kondratieff das Knappheitsfeld Kooperationsfähigkeit erschließen. Nefiodow diskutiert die Rolle der Familie und weist auf die Bedeutung des christlichen Glaubens hin, der einer übertriebenen IchBezogenheit den Boden entzieht und ein echtes Interesse am gleichberechtigten Wohlergehen anderer herbeiführt.
Nun stellt der psychisch-soziale Bereich derzeit wohl das größte Hindernis für die wirtschaftliche Entwicklung dar. Destruktive Verhaltensweisen nehmen auf der ganzen Welt zu. Nach einer Studie der Weltgesundheitsorganisation sind Depressionen inzwischen die zweithäufigste Todesursache. Nur zehn Prozent weniger Destruktivität brächten weltweit rund 1 000 Milliarden Dollar, die einen Konjunkturschub mit Millionen neuer Arbeitsplätze auslösen würden. Hier schlummern die größten Produktivitätsreserven. Um diese zu erschließen, wird die Megabranche Gesundheit expandieren.
Frei werdende Ressourcen werden in die gesundheitlichen Bedürfnisse des Menschen fließen: nicht allein die Medizintechnik, Pharmaindustrie und Krankendienste werden davon profitieren, sondern ein ganzes Netz von Produzenten und Anwendern.


Erik Händeler
Schleißheimer Straße 164
80797 München


Leo A. Nefiodow: Der Sechste Kondratieff - Wege zur Produktivität und Vollbeschäftigung im Zeitalter der Information, Rhein-Sieg-Verlag, St. Augustin, 223 Seiten, Paperback, 53 DM

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