ArchivDeutsches Ärzteblatt17/1997Steuerung des Augenlängenwachstums durch Sehen: Tierexperimentelle Befunde zur Kurzsichtigkeit und ihre möglichen therapeutischen Konsequenzen

MEDIZIN: Aktuell

Steuerung des Augenlängenwachstums durch Sehen: Tierexperimentelle Befunde zur Kurzsichtigkeit und ihre möglichen therapeutischen Konsequenzen

Schaeffel, Frank; Zrenner, Eberhart

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LNSLNS Bei etwa einem Viertel der Bevölkerung ist das Auge zu lang, und das Bild wird beim Sehen in die Ferne bereits vor der Netzhaut entworfen. Angesichts der sonst hervorragenden Abbildungseigenschaften der Optik des Auges im fovealen Bereich fragt man sich, wie es zu dieser Fehlsteuerung des Wachstums kommen kann. Ohne Beantwortung dieser Frage ist keine rational begründete Therapie der Kurzsichtigkeit möglich. Leider lieferten Untersuchungen am Menschen bisher keine eindeutigen Hinweise. Bei Tiermodellen können die grundsätzlichen Mechanismen jedoch aufgeklärt werden, da die Seherfahrung gezielt manipuliert werden kann, während der genetische Hintergrund wenig variiert.


Kurzsichtigkeit ist eines der häufigsten Augenleiden: je nach betrachteter Bevölkerungsgruppe sind in Europa und den USA 20 bis 60 Prozent der Bevölkerung betroffen. In fernöstlichen Industrienationen liegt die Häufigkeit an den Universitäten dagegen über 95 Prozent. Gleichzeitig sind aber die Ursachen über viele Jahrzehnte unklar geblieben. Kurzsichtigkeit zeichnet sich dadurch aus, daß das Auge im Verhältnis zur Brennweite von Kornea und Linse zu lang wird. Als Folge entsteht das Bild entfernter Objekte vor statt auf der Netzhaut. Die Abbildung ist unscharf. Gegenstände in der Nähe können dagegen ohne zusätzliche Akkommodation (die durch den Ziliarmuskel vermittelte verstärkte Linsenkrümmung) scharf gesehen werden. Insofern hat Kurzsichtigkeit den Vorteil, daß keine Akkommodationsleistungen für Tätigkeiten in der Nähe erforderlich werden, was besonders im Alter nützlich werden kann, wenn die Akkommodation versagt ("Altersweitsichtigkeit", Presbyopie). Kurzsichtigkeit wird durch Vorsetzen von Streulinsen (Brille oder Kontaktlinse) oder durch Hornhautabflachung mit dem Excimer-Laser korrigiert; Streulinsen verlängern die Brennweite des Auges, so daß die Abbildungsebene wieder mit der Netzhautebene zusammenfällt. Außer daß optische Korrektur durch Brille oder Kontaktlinse gewisse kosmetische Einschränkungen darstellen, sind Komplikationen bei Kurzsichtigkeit selten, sofern sie unter etwa sechs Dioptrien (dpt) bleibt (etwa zwei mm Augenverlängerung). Bei höheren Graden von Kurzsichtigkeit kommt es aber gehäuft zu Komplikationen (zum Beispiel Netzhautablösung), die zur Blindheit führen können. Die Stärke der Kurzsichtigkeit ist mit dem Alter ihres ersten Auftretens korreliert: je früher das Entstehungsalter, desto stärker entwickelt sich die Kurzsichtigkeit. Angesichts ihrer Häufigkeit und der Tendenz, sich bis zur Lebensmitte weiter zu entwickeln, besteht Bedarf an Ursachenforschung, die zu echten Präventivmaßnahmen und Therapie führen soll. Gegenwärtig gibt es noch keine allgemein anerkannte und rational begründete Therapie.


Trennung genetischer und umweltbedingter Einflüsse
Ursachenforschung an der Kurzsichtigkeit wurde und wird beim Menschen stets dadurch erschwert, daß eine genetische und eine Umweltkomponente beteiligt sind. Die Trennung beider Faktoren ist beim Menschen nicht möglich, da sich gezielte Experimente (wie Fehlkorrektur) aus ethischen Gründen verbieten. Die Existenz einer genetischen Komponente läßt sich daraus ersehen, daß Kinder zweier kurzsichtiger Eltern von Anfang an größere Augäpfel haben (11) und daß die Wahrscheinlichkeit, kurzsichtig zu werden, signifikant größer ist als bei normalsichtigen Eltern (4, 11). Auf der anderen Seite steht der Einfluß von Seherfahrung auf die Entwicklung der Kurzsichtigkeit außer Frage: Es besteht eine "starke, bemerkenswert konsistente und dosisabhängige Korrelation zwischen Ausbildungsstand und Häufigkeit der Kurzsichtigkeit", und es gilt als gesichert, daß eine Korrelation zwischen Lesen und Kurzsichtigkeit besteht (7). Dafür spricht unter anderem die Beobachtung, daß sich die Kurzsichtigkeit während des Schuljahres schneller entwickelt als in der Ferienzeit. Nicht abzuleiten ist allerdings eine Korrelation zwischen Intelligenz und Kurzsichtigkeit (2). Aus diesen Beobachtungen läßt sich zunächst auch noch nicht schließen, daß das Auge die extrem präzise Abstimmung seiner Länge auf seine Brennweite (etwa 0,1 mm Toleranz) durch retinale Bildanalyse und Erkennung der Lage der Bildebene leistet. Dieser Nachweis blieb Experimenten am Tiermodell vorbehalten (1). Hier ist eine klare Trennung von genetischer und Umweltkomponente möglich, da die Seherfahrung gezielt verändert und die Refraktionsentwicklung und das Augenwachstum daraufhin präzise vermessen werden können.


Experimentelle Nachweise visueller Refraktionssteuerung im Tiermodell
Daß das Bild auf der Netzhaut die Längenwachstumsrate des Auges beeinflußt, wurde zuerst von Hubel und Wiesel beim Affen beobachtet (9). Es wurde beobachtet, daß experimenteller Lidverschluß während des ersten Lebensjahres zu verstärktem Augenlängenwachstum und starker Kurzsichtigkeit führte. Es wurde auch gezeigt, daß bereits geringe Störungen der retinalen Bildqualität (beispielsweise durch Vorsetzen von Mattgläsern) sehr starke Wirkung auf das Augenlängenwachstum haben. Bei jungen Hühnern werden über 20 dpt Kurzsichtigkeit in zwei Wochen erreicht (8); dabei ist festzustellen, daß die Mattgläser durchaus nicht zum vollständigen Bildverlust führen, sondern lediglich feine Details aus dem Netzhautbild herausfiltern. Da das Auge eines guten Netzhautbildes beraubt ("depriviert") wird, bezeichnet man diese Art von Kurzsichtigkeit als "Deprivationsmyopie". Deprivationsmyopie ist nicht auf Affe oder Huhn beschränkt, sondern tritt auch beim Menschen auf, wenn das Netzhautbild in den ersten Lebensjahren gestört ist (beispielsweise durch kongenitalen Katarakt, Ptosis oder Blepharospasmus). Die Rolle der Deprivationsmyopie bei der normalen Refraktionsentwicklung ist allerdings noch unklar. Deprivation läge vor, wenn die Akkommodation ungenau wäre. Tatsächlich zeigen kurzsichtige Kinder weniger präzise Akkommodation als Normalsichtige, so daß prinzipiell die Entstehung der Kurzsichtigkeit aus dieser Bildstörung denkbar wäre. Weitere Untersuchungen zeigten dann aber, daß die Akkommodationsprobleme erst auftraten, nachdem die Kurzsichtigkeit bereits vorlag (4). Es ist deshalb noch nicht klar, ob deprivationsähnliche Mechanismen Auslöser für Kurzsichtigkeit im Schulalter sind.
Deprivationsmyopie ist der derzeit am häufigsten untersuchte visuell gesteuerte Augenwachstumsprozeß, da sie im Tiermodell leicht erzeugt werden kann und da gemeinsame Stoffwechselwege mit anderen visuellen Steuermechanismen für das Augenlängenwachstum vermutet werden. Beim Huhn erholt sich das Auge von der erzeugten Deprivationsmyopie, sobald die Mattgläser wieder abgenommen wurden (Grafik 1 A). Das Längenwachstum des Auges wird dann gehemmt, bis durch die entwicklungsbedingte Verlängerung der Brennweite des Auges wieder eine Übereinstimmung mit der Augenlänge erreicht ist. Die hier auftretende gezielte Hemmung des Längenwachstums deutet darauf hin, daß das Auge tatsächlich die Lage der Bildebene messen und die Position der Netzhaut entsprechend korrigieren kann. Ein endgültiger Beweis für diese Vermutung war aber, daß bei Vorsetzen von Linsen das Auge seine Längenwachstumsrate so ändert, daß das Bild wieder auf der Netzhautebene landet - trotz der Linse vor dem Auge (Grafik 1 B). Dabei ist zu erwarten, daß ein Auge mit Streulinse (Minusglas) zunächst eine längere Brennweite hat und darum auch länger wachsen muß, während ein Auge mit einer Sammellinse (Plusglas) eine kürzere Brennweite hat und kürzer bleibt. Die experimentellen Ergebnisse stimmten genau mit den Erwartungen überein (Grafik 1 B).
Die Fähigkeit zur visuell gesteuerten Wachstumsänderung ist nicht auf das Auge des Huhns beschränkt: auch beim Affen wurde kürzlich (5) gezeigt, daß das Auge vorgesetzte Linsen innerhalb von 50 Tagen kompensieren kann (Grafik 2), allerdings nur über einen relativ schmalen Bereich von Linsenstärken (ungefähr -3 bis +3 dpt), während beim Huhn Kompensation auch sehr starker Linsen (von -10 bis +20 dpt) möglich ist (Grafik 2).


Meßtechniken
Schaeffel und Howland haben sehr leistungsfähige Techniken zur nichtinvasiven Vermessung der Refraktion des Auges bei Huhn und Mensch entwickelt (Abbildung 1). Infrarotleuchtdioden, die an einer etwa ein Meter vom Patient oder vom Versuchstier entfernten Videokamera angebracht werden, erzeugen unsichtbare Reflektionen vom Fundus des Auges, die wiederum als charakteristische Helligkeitsverteilung in der Pupille sichtbar werden. Dabei ist bei kurzsichtigen Augen der untere Teil der Pupille heller (Abbildung 1 B), bei Weitsichtigen der obere (Abbildung 1 A). Die über eine infrarot-empfindliche Videokamera und eine digitale Videokarte ausgewertete Steigerung des Helligkeitsprofils in der Pupille erlaubt eine Refraktionsangabe auf 1 dpt (Huhn) oder 0,25 dpt genau (Mensch). Ein großer Vorteil des Verfahrens ist, daß die Refraktion auch automatisch mit Videofrequenz (25 Hz) aufgezeichnet werden kann, so daß die Dynamik des Akkommodationsverhalten untersucht werden kann.
Augenlänge, Vorderkammertiefe und Linsendicke können sehr präzise (auf etwa 60 µm genau) mittels Ultraschall bestimmt werden. Dazu genügt eine leichte Oberflächenanästhesie der Kornea, damit die Berührung des Meßkopfes nicht mehr wahrgenommen wird. Um normale Netzhautfunktion auch nach Einsatz von Pharmaka zu überprüfen, werden Elektroretinogramme abgeleitet. Auf der Suche nach Pharmaka, die die Entwicklung von Fehlsichtigkeit im Tiermodell beeinflussen sollen, ist nämlich eine wichtige Voraussetzung, daß die Sehleistung nicht beeinträchtigt wird. Zur Untersuchung von Transmitterkonzentrationen in der Netzhaut und den anderen Geweben des Augenfundus werden Hochdruckflüssigkeitschromatographie (HPLC) und Radioimmunoassays eingesetzt. Begleitend werden histologische und molekulargenetische Untersuchungen an der Netzhaut durchgeführt.


Mechanismen visueller Wachstumssteuerung und ihre Eigenschaften
Deprivationsmyopie hat die Vorstellung von der Rolle der Akkommodation und des Gehirns bei der Entstehung von Kurzsichtigkeit gründlich verändert. Am nachhaltigsten wirkte die Beobachtung, daß Deprivationsmyopie auch nach Durchtrennen des Sehnervs und, bei Deprivation beschränkter Bereiche des Gesichtsfeldes, auch in lokalen Bereichen im Auge induziert werden kann. Das Auge wächst dann nur in dem Netzhautbereich vermehrt, in dem das Bild gestört ist (Grafik 3, 4). Während der Entstehung von Deprivationsmyopie sinkt zunächst die Freisetzung von Dopamin aus den Amakrinzellen der Netzhaut und später auch der Gesamtgehalt von Dopamin in der Netzhaut ab. Apomorphin, ein Dopaminagonist, blockiert bei intravitrealer oder subkonjunktivaler Injektion die Deprivationsmyopie. Ebenfalls blockiert wird sie durch ein Neurotoxin, 6Hydroxy-Dopamin, und durch Haltung im Dauerlicht. Beide Bedingungen führen zu einer Entleerung der retinalen Dopaminspeicher und wahrscheinlich zu einer Hemmung der dopaminergen Transmission in der Netzhaut. Sulpirid, ein Dopaminantagonist, verstärkt die Deprivationsmyopie (6). Aus diesen Experimenten wurde geschlossen, daß Dopamin eine Rolle bei der Steuerung der Deprivationsmyopie spielt. Diese Vermutung wurde noch unterstützt durch die Beobachtung, daß sich bei Erzeugung lokaler Deprivationsmyopie die Änderungen im Dopaminstoffwechsel auf die deprivierten Bereiche beschränken (Grafik 3). Die Rolle des Dopamins bei Linsen-induzierten Refraktionsfehlern ist nicht klar. Setzt man Reserpin, ein Neurotoxin gegen dopaminerge und serotoninerge Zellen, ein, so entsteht auch keine Kurzsichtigkeit beim Tragen von Streulinsen (Minusgläsern) mehr. Sammellinsen (Plusgläser) erzeugen jedoch weiterhin Weitsichtigkeit (6). Möglicherweise sind beide Arten der Kurzsichtigkeit, sowohl die durch Deprivation wie auch die durch Streulinsen erzeugte, von normal funktionierenden dopaminergen Mechanismen der Netzhaut abhängig.
Worin besteht dann überhaupt der Unterschied zwischen diesen beiden Arten der Kurzsichtigkeit? Es gibt eine Anzahl theoretischer und experimenteller Hinweise, daß beide Prozesse grundsätzlich unterschiedlich sind (Grafik 4). Im Gegensatz zur Deprivationsmyopie kann durch Negativlinsen keine Myopie mehr erzeugt werden, wenn der Sehnerv durchtrennt ist (10) (Grafik 4). Während lokale Bildstörung durch Mattgläser lokale Deprivationsmyopie erzeugt (Grafik 4), erzeugt lokale Defokussierung durch Linsensegmente nur geringe Wachstumsänderungen. Deprivationsmyopie kann sowohl beim Affen als auch beim Huhn einseitig erzeugt werden, während Streulinsen selbst bei einseitiger Anwendung beim Affen auf beide Augen wirken (ansatzweise kann dies in Grafik 1 beobachtet werden). Mehrere Indizien sprechen also dafür, daß die durch Streulinsen vermittelte Kurzsichtigkeit zentralnervöse Mechanismen beinhaltet. Es liegt die Vermutung nahe, daß hier die Akkommodation eine Rolle spielt und daß vermehrte Akkommodation (die ja beim Tragen von Streulinsen erforderlich wird) das Augenlängenwachstum fördert. Tatsächlich kann man mittels der InfrarotPhotoskiaskopie zeigen, daß die Tiere mit Streulinsen vermehrt akkommodieren, um ihr Bild auf der Netzhaut scharf zu halten. In dem Moment, wo dies erreicht wurde, liegt jedoch keine "Deprivation" mehr vor. Die entstehende Kurzsichtigkeit kann deshalb nicht mehr als "Deprivationsmyopie" erklärt werden, sondern muß auf einen anderen Mechanismus zurückgehen. Es ist deshalb möglich, daß die Kurzsichtigkeit, die bei Kindern während der Schulzeit entsteht, keine Deprivationsmyopie ist, sondern zu Lasten des "zentralnervösen" Mechanismus geht, der wahrscheinlich die Akkommodation beinhaltet.
Es gibt sehr viele Theorien darüber, daß mechanische Kräfte, die während der Akkommodation auftreten, den Augeninnendruck erhöhen und damit verstärkte Dehnung und Verlängerung des Augapfels bewirken. Diese Hypothesen konnten im Tierexperiment nicht bestätigt werden: selbst wenn die Akkommodationsmuskulatur durch Pharmaka gelähmt wurde (Zykloplegie), konnte durch Streulinsen noch Kurzsichtigkeit erzeugt werden. In Grafik 7 B ist deshalb der Weg über das Ziliarganglion zum vorderen Augenabschnitt ausgeklammert. Es wird angenommen, daß die Information über den erforderlichen Akkommodationstonus nicht über den Ziliarmuskel auf das Augenwachstum wirkt, sondern über die Aderhautnerven (Grafik 7 B) (6).
Die Aderhaut ist ein reich durchblutetes Gewebe, welches, durch das retinale Pigmentepithel getrennt, hinter der Netzhaut liegt. Dieses Gewebe zeigt erstaunliche Veränderungen beim Tragen von Linsen: bei Streulinsen (die das Auge länger machen) wird die Aderhaut dünn, beim Tragen von Sammellinsen kann sie sehr um ein Vielfaches anschwellen (Grafik 5). Damit wird die Netzhaut nach vorne verschoben, und der durch die Linse erzeugte Abbildungsfehler wird wieder kompensiert. Der Mechanismus reagiert sehr schnell: beim Huhn können innerhalb eines Tages bis zu sieben dpt kompensiert werden. Beim Menschen ist der Mechanismus dagegen wahrscheinlich weniger wichtig, da wegen der Größe des Auges Aderhautverdickungen erforderlich wären, die außerhalb der physiologischen Möglichkeiten liegen. Es ist jedoch wahrscheinlich, daß auch beim Menschen die Aderhaut eine wichtige Rolle bei der Steuerung des Wachstums der äußeren Augenhaut, der Lederhaut (Sklera), spielt. Auffallend für den Aderhautmechanismus ist, daß er ebenfalls lokal arbeitet (Grafik 5 B), keinen intakten Sehnerv benötigt und auch nicht dopaminabhängig ist. Somit gibt es zwei lokal wachstumssteuernde Mechanismen, die sowohl Kurzsichtigkeit (Deprivationsmyopie) als auch Weitsichtigkeit (im Falle von Sammellinsen) erzeugen können: Man steht deshalb vor der bisher ungelösten Frage, wie die Netzhaut durch lokale Bildanalyse feststellen kann, ob das Bild vor oder hinter der Netzhaut liegt. Unser Gehirn kann dies ohne "Probieren" nicht leisten, was daran ersichtlich ist, daß man beim Scharfstellen mit dem Photoapparat nur durch Hin- und Her-Fokussieren die richtige Einstellung finden kann.


Abstimmung von Augenlängenwachstum trotz chromatischer Aberration
Weißes Licht enthält ein breites Band von Wellenlängen. Das menschliche Auge ist dabei empfindlich für Licht von etwa 400 nm (blau) bis 700 nm (rot) Wellenlänge. Ein großes Problem für die Steuerung des Augenlängenwachstums ist, daß kurzwelliges Licht stärker gebrochen wird als langwelliges (Dispersion). Als Folge davon wird blaues Licht vor der Netzhaut fokussiert, wenn das Bild für rotes Licht in der Netzhautebene liegt. Der Unterschied zwischen beiden Ebenen ist durchaus nicht vernachlässigbar und beträgt zwei bis drei dpt. Um dieses Problem zu umgehen, hat das Auge keine gute Sehschärfe im blauen Licht, und tatsächlich befinden sich in der Fovea, der Stelle des schärfsten Sehens, gar keine Blaurezeptoren. Das Bild wird also stets nur für den grünen bis roten Bereich scharfgestellt, während erhebliche Unschärfe im Blauen toleriert wird. An Hühnern wurde dann auch gezeigt, daß die Blaurezeptoren an der Augenlängenwachstumssteuerung gar nicht beteiligt sind: zieht man die Tiere mit Linsen im Blaulicht auf, so entstehen keine gezielten Änderungen mehr im Augenlängenwachstum. Dagegen werden vorgesetzte Linsen im Rotlicht genauso gut kompensiert wie im Weißlicht. Auf diese elegante Weise umgeht das Auge das Problem der chromatischen Aberration.


Dopamin und Fehlsichtigkeit
Dopamin zeichnet sich in der Netzhaut durch einen ausgeprägten Tag/Nachtrhythmus aus: am Tage liegt sein Spiegel 30 bis 50 Prozent höher als in der Nacht. Da die oben beschriebenen Experimente auf einen Zusammenhang von Dopamin und Augenlängenwachstum hindeuten, kann man vermuten, daß auch das Augenlängenwachstum tageszeitlichen Rhythmen unterworfen ist. Diese Hypothese wurde getestet: durch Ultraschallmessungen am Morgen und am Abend wurde am Huhn nachgewiesen (Grafik 6 A), daß das Auge tatsächlich nur am Tage wächst (etwa 0,12 mm), während das Wachstum in der Nacht gehemmt ist (etwa 0,04 mm). Erzeugt man Deprivationsmyopie, so brechen die Wachstumsrhythmen zusammen: das Auge wächst dann sowohl tags als auch nachts und wird damit zu lang. Setzt man ein Neurotoxin ein, das die retinalen Dopaminspeicher entleert, so kehren die Wachstumsrhythmen trotz bestehender Deprivation zurück (Grafik 6 A). Da die tageszeitlichen Rhythmen im Dopamin in diesem Fall verschwunden sind, das Auge aber dennoch einen ausgeprägten Wachstumsrhythmus zeigt, muß ein vorgeschalteter Rhythmusgenerator vermutet werden. Es wurde gezeigt, daß das Melatonin in den Photorezeptoren einen ausgeprägten Tag/Nachtrhythmus zeigt, der selbst bei Deprivation oder Anwendung von Neurotoxinen unbeeinflußt bleibt (Grafik 6 B). Aus diesen Beobachtungen wurde ein Modell entwickelt (Grafik 6 B), nach dem das Melatonin der Photorezeptoren der zentrale Rhythmusgenerator ist, der sich normalerweise gegenphasig zum Dopamin verhält. Bei Deprivation bewirkt retinale Bildverarbeitung, daß beide Rhythmen entkoppelt werden. Offensichtlich kann jedoch Melatonin auch direkt auf das Wachstum der Lederhaut wirken, da bei Ausschaltung des dopaminergen Systems die Wachstumsrhythmen zurückkehren.
Es ist bekannt, daß die Dopaminkonzentration in der Netzhaut nicht nur durch Deprivation, sondern auch einfach von der Bildhelligkeit beeinflußt wird. Wenn die Bildhelligkeit abnimmt, nimmt auch der Dopamingehalt in einer "Dosis"-abhängigen Weise ab. Falls Dopamin wirklich einen Einfluß auf das Längenwachstum des Auges hat, müßte bei geringer Bildhelligkeit ebenfalls verstärktes Längenwachstum auftreten. Beim Vorsetzen von Graugläsern verschiedener Stärke wurde am Huhn auch tatsächlich gefunden, daß Abdunkelung des Netzhautbildes in dem betroffenen Auge Kurzsichtigkeit erzeugt. Dabei fiel der Dopaminspiegel in vergleichbarem Maße ab wie bei Deprivation. Dieses Experiment zeigt, daß nur eine unvollständige Trennung des retinalen "Kanals" für Bildschärfemessung und für Helligkeitsmessung besteht und daß beide Einfluß auf das Augenlängenwachstum haben können. Das Ergebnis unterstützt in gewisser Weise die Vermutung, daß Lesen bei geringen Helligkeiten der Entwicklung der Kurzsichtigkeit förderlich sein könnte.


Pharmakologische Beeinflussung experimenteller Refraktionsfehler
Die Aufklärung des faszinierenden Vorganges, wie ein Bildsignal in ein gerichtetes Wachstumssignal übersetzt wird, ist sicher von großem grundlagenwissenschaftlichen Interesse. Klinisch relevant ist jedoch primär der Teilaspekt, wie durch Einsatz von Medikamenten dieser Umsetzungsschritt verändert werden kann. Offensichtlich reagiert das Auge bei Tätigkeit in der Nähe mit verstärktem Längenwachstum, was ja auch als Anpassung an die geänderte Sehbedingung interpretiert werden kann. Diese Anpassung ist jedoch in diesem Falle sicher nicht gewünscht. Man muß also nach Pharmaka suchen, die die Umsetzung von Bildverarbeitung in Wachstum weniger wirksam machen oder ganz unterdrücken. Untersuchungen dieser Art werden in einer Reihe von Labors mit großem Einsatz vorangetrieben, und es sind inzwischen auch eine ganze Reihe von Transmittersystemen identifiziert, die bei diesem Prozeß beteiligt sind. Deren Beteiligung läßt sich nachweisen, indem Tiere mit Mattgläsern oder Linsen aufgezogen werden und getestet wird, ob Agonisten oder Antagonisten der vermuteten Transmitter die Wachstumsantwort des Auges blokkieren oder verstärken.
Es zeigt sich, daß Deprivationsmyopie relativ leicht beeinflußt werden kann, während die durch Linsen vermittelten Refraktionsfehler weniger empfindlich reagieren. Andererseits scheint gerade die durch Streulinsen erzeugte Kurzsichtigkeit der des Menschen am nächsten zu stehen, so daß die hier wirksamen Pharmaka am interessantesten sind. Es ist auch klar, daß Neurotoxine, die bestimmte Transmittersysteme ausschalten, als Therapiemöglichkeit nicht in Frage kommen, sondern nur zur Identifikation beteiligter Transmitter im Tiermodell interessant sind.
Transmitter können natürlich auf verschiedenen Ebenen in dem Umsetzungsprozeß von Bildverarbeitung und Längenwachstum beteiligt sein: Sie können entweder die Bildverarbeitung selbst beeinflussen, so daß bei Bildstörung kein Fehlersignal mehr entsteht, oder sie können die Ausschüttung von stofflichen Signalen aus der Netzhaut verändern, die schließlich direkt oder indirekt auf die Lederhaut wirken. Gegenwärtig wird die Ausschüttung des retinalen Dopamins als ein mögliches Signal betrachtet. Dopamin wird, abhängig von der Bildqualität auf der Netzhaut, von einer Gruppe von Zellen der Netzhaut (Amakrinzellen) freigesetzt und wandert relativ langsam (15 bis 20 sec) im Extrazellulärraum von der Netzhaut zum Pigmentepithel, wo es an D2/4-Rezeptoren bindet. Es wäre denkbar, daß die Sättigung dieser Rezeptoren die Längenwachstumsrate des Auges bestimmt; viele Agonisten und Antagonisten, die auf das Augenlängenwachstum wirken, ändern auch die Freisetzungsrate von Dopamin, so daß deren Wirkung indirekt sein könnte. Gegenwärtig werden jedoch immer noch weitere Substanzen entdeckt, die die visuelle Kontrolle des Augenlängenwachstums verändern, und es ist noch nicht klar, welche Substanzklassen den besten Wirkungsgrad bei geringsten Nebenwirkungen zeigen. Es ist auch noch nicht klar, warum die Wirkung auf das Längenwachstum des Auges entfaltet wird.


Ausblick
Experimente an Tiermodellen haben eindeutig gezeigt, daß die Feinsteuerung des Augenlängenwachstums über Bildverarbeitung in der Netzhaut erfolgt. Dabei gliedern sich die Steuerungsmechanismen in drei pharmakologisch und bezüglich der beteiligten Gewebe unterschiedliche Mechanismen (Grafik 7). Da die Ergebnisse bei weit voneinander entfernten Wirbeltierklassen wie Vögeln und Säugern bemerkenswert konsistent sind, muß man davon ausgehen, daß eine optische Korrektur auch beim Menschen die Refraktionsentwicklung beeinflußt. Es scheint angeraten, beim Lesen oder anderen Arbeiten mit kurzer Sehdistanz keine volle Korrektur zu verwenden, da dies die Wachstumsregelkreise (zumindest im Tiermodell) beschleunigt. Da andererseits ein schlechtes Netzhautbild die Deprivationsmyopie begünstigt, kann deutliche Unterkorrektur beim Sehen in der Ferne eine negative Wirkung haben. Man muß allerdings auch bedenken, daß Sammellinsen (die ja auch einer "Unterkorrektur" entsprächen) im Tiermodell Weitsichtigkeit erzeugen.
Da die Umsetzungsschritte von Bildverarbeitung in Augenlängenwachstum prinzipiell aufgeklärt werden können, besteht hier die Möglichkeit einer medikamentösen Intervention. Verschiedene Transmittersysteme wurden bereits identifiziert, die diese Umsetzung verändern. Es ist zu erwarten, daß in Zukunft auch Pharmaka gefunden werden, die die Entwicklung der Kurzsichtigkeit hemmen können.


Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 1997; 94: A-1121-1128
[Heft 17]
Literatur
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Eine vollständige Literaturliste kann bei den Autoren angefordert werden.


Anschrift für die Verfasser
Priv.-Doz. Dr. rer. nat. Frank Schaeffel
Universitäts-Augenklinik
Abteilung für Pathophysiologie des Sehens und Neuroophthalmologie
Schleichstraße 12-16
72076 Tübingen

Fachgebiet

Der klinische Schnappschuss

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