BÜCHER
Psychoanalyse/Neurobiologie: Mehr Mut zur Offenheit wünschenswert


Das Terrain, auf dem sich wesentliche Impulse dieser Zusammenführung ereignen, ist im Bereich der Traumafolgeforschung angesiedelt. Dies belegt der Band sehr informativ. Das aufgefächerte Spektrum ist reichhaltig und kann hier nur auszugsweise benannt werden: Zunächst werden allgemeine Probleme des interdisziplinären Dialogs erörtert, dann beleuchtet Mark Solms die neuro-psychoanalytische Forschung anhand des Korsakow-Syndroms. Aus Sicht der psychoanalytischen Traumaforschung skizziert Bohleber einige Probleme psychoanalytischer Traumatheorie, anschließend referiert Gullestad zur Dynamik der Dissoziation am Beispiel der multiplen Persönlichkeitsstörung (in neuer Nomenklatur: Dissoziative Identitätsstörung). Aus Sicht der neurobiologischen Traumaforschung folgen vier Beiträge: Sachsse geht der Integration neurobiologischer und psychoanalytischer Ergebnisse in der klinischen Umsetzung nach; Buchheim und Kächele verbinden das Konzept der Bindungstraumatisierung mit der Borderline-Persönlichkeitsstörung; Markowitsch und Reinhold stellen das Konzept des mnestischen Blockadesyndroms vor; Peter Fonagy diskutiert die Einschränkung der Fähigkeit zur Mentalisierung im Rahmen der Bindungstraumatisierung; schließlich zeigen Lehtonen, Purhonen und Valkonen-Korhonen die „soziobiotopische Einbettung“ der frühen physiologischen Hirnreifung in die gelungene Mutter-Kind-Interaktion. Zum Abschluss wird das Konzept der „Embodied Cognitive Science“ mit dem Konzept der „Spiegelneuronen“' erörtert, um den therapeutischen Rapport mit traumatisierten Patienten zu erhellen.
Auch wenn eine kritische Einschränkung angefügt werden muss, so ist dieser Band dennoch unbedingt zu empfehlen. Zur Kritik: Man hätte sich bei diesem integrativen Unterfangen – mit Ausnahmen (zum Beispiel Sachsse) – an vielen Stellen mehr Mut zu klinisch-methodischer Offenheit und Kombinatorik gewünscht. Gerade eine traumatherapeutische Behandlung benötigt diese dringend – dies ist mittlerweile Goldstandard. Hier kann sich eine, wenn auch neurobiologisch aufgeklärte, psychoanalytische Behandlungsführung als Prokrustesbett erweisen im Hinblick auf den erwünschten kurativen Effekt. Eine neue Variante der sprichwörtlichen „Modifikationen des psychoanalytischen Standardverfahrens“ wird diesen Störungsbildern nicht gerecht. Ein psychoanalytisch-neurobiologisches Grundverständnis allerdings erscheint unerlässlich. Und dies belegt der Band eindrucksvoll.
Michael Naumann-Lenzen
Marianne Leuzinger-Bohleber, Gerhard Roth, Anna Buchheim (Hrsg.): Psychoanalyse · Neurobiologie · Trauma. Schattauer, Stuttgart, New York, 2008, 200 Seiten, gebunden, 39,95 Euro
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