ArchivDeutsches Ärzteblatt PP9/2008Argumentationstheorie: Erweiterung der Weltsicht

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Argumentationstheorie: Erweiterung der Weltsicht

Koch, Joachim

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Nach jahrelangen Bemühungen hat Harald Wohlrapp jetzt seine Monografie zum Thema Argumentationstheorie vorgelegt. Und um es schon vorwegzunehmen: Damit ist ihm ein großer Wurf gelungen.

Argumentationstheorie ist primär eine Teildisziplin der Philosophie, sie wird aber auch in anderen Fächern wie der Psychologie oder der Rechtswissenschaft betrieben. Das argumentierende Reden hat eine lange (denken wir an die alten Griechen) und wechselvolle Geschichte. Wohlrapp legt in den zehn Kapiteln seines Buchs die philosophische Grundlage einer Theorie der Argumentation dar, die in der Praxis verortet ist. Im Gegensatz zu anderen Positionen sind für den Autor Theorien nicht nur intellektuelle Spielereien, sondern sie stützen Praxen, werden im praktischen Vollzug entwickelt und bewähren sich dort. Deshalb entwickelt Wohlrapp den Gang seiner Darstellung mithilfe von illustrierenden Beispielen, die er be- und hinterfragt. Die vier Felder, aus denen er seine Beispiele nimmt, sind die berühmte Entdeckungsreise des Kolumbus, die historische Episode um den Wärmestoff „Phlogiston“ aus den Anfängen der wissenschaftlichen Chemie, Frankreichs Weg in die Republik sowie aktuelle Diskussionen zu gesellschaftspolitischen Fragen, die Grenzbereiche der Wissenschaften betreffen und strittig sind. Hierbei scheut sich der Autor nicht, selbst Stellung zu beziehen. Besonders eindrucksvoll ist die Analyse einer Diskussion um das Lebensrecht des Embryos zwischen dem CDU-Bundestagsabgeordneten Hubert Hüppe und Reinhard Merkel, der Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Hamburg lehrt. Als Vorbereitung auf die Analyse der Hüppe-Merkel-Diskussion hat der Autor einen Leitfaden zur Argumentationsanalyse aufgestellt.

Am Anfang des Buchs ist es Wohlrapp wichtig zu verdeutlichen, dass es positives theoretisches Wissen gibt und dass nicht nur alles hypothetisch ist. Während andere argumentationstheoretische Ansätze davon ausgehen, dass überzeugendes Argumentieren primär eine Folge von logischem Schließen ist, sieht Wohlrapp die Möglichkeit der Erweiterung der Weltsicht, die im argumentierenden Reden stecken kann, als besonders wichtig an. Es gibt Wissen (die epistemische Perspektive), das sicher ist. Dabei handelt es sich um das, was wir schon wissen beziehungsweise was schon praktisch ist, was bereits durch die Form unseres Lebens realisiert ist. Daneben gibt es die thetische Konstruktion: Hierbei handelt es sich um Behauptungen, die fraglich sind und als neue Theorie konstruiert werden, um undurchschaute Zonen der Welt zu erhellen. Mit den drei „argumentativen Grundoperationen“ – das sind die Schritte des Behauptens, des Begründens und des Kritisierens – wird versucht, die jeweilige These als gültig oder als nicht gültig auszuweisen. Der Prozess der argumentativen Klärung umfasst aber noch mehr: Die vielfachen Bedingungen und Voraussetzungen, die in den Prozess einfließen wie das Selbstverständnis der Beteiligten oder die Rahmenstrukturen, in denen Wahrnehmen und Argumentieren stattfindet. Besonders spannend legt Wohlrapp im fünften Kapitel dar, wie verschieden die Rahmen sein können, die Menschen bilden und wie Rahmenwechsel und Rahmenaufhebung vor sich gehen können.

Nebenbei erfährt man im Buch noch spannende Einschätzungen des Autors, zum Beispiel zur Philosophie des berühmten, kürzlich verstorbenen Philosophen Richard Rorty, Aspekte der Diskussion des Gefangenendilemmas in den letzten Jahren oder den Hinweis darauf, dass es mehr vernünftige Handlungsgründe gibt als die Nutzenmaximierung, wobei sich der Autor auf Ausführungen von Amartya Sen bezieht.

Seinen Ansatz grenzt Harald Wohlrapp eindeutig gegenüber der Ratgeberliteratur ab. Normierte Dialogregeln können nur bedingt Eingang in die Theorie einer allgemeinen Argumentationstheorie finden. Dem Autor ist es gelungen, weit gefächerte, komplexe theoretisch-praktische Inhalte (auf die hier in keiner Weise detailliert eingegangen werden kann) in einer gut verständliche Form und in einer Art und Weise darzulegen, die das Interesse des Lesers bis zum Schluss des Buchs zu halten versteht. Joachim Koch

Harald Wohlrapp: Der Begriff des Arguments. Über die Beziehungen zwischen Wissen, Forschen, Glaube, Subjektivität und Vernunft. Königshausen und Neumann, Würzburg, 2008, 544 Seiten, 49,80 Euro

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