THEMEN DER ZEIT
Eine Visite in Gaza: Medizin unter Belagerung


Erez Crossing:
Palästinensische
Krankenpfleger
schieben zwei Kinder
über die Grenze. Sie
sollen in Israel operiert
werden. Nicht
immer verläuft der
Transfer von Kranken
so reibungslos.
Foto: dpa
Eine große, mit Überwachungstechnologie üppig ausgestattete, klimatisierte, aber nahezu menschenleere Schalterhalle – das ist „Erez Crossing“, ein Grenzübergang von Israel in den Gazastreifen. Seit dort die islamistische Hamas die Verwaltung übernommen hat, ist die Region hermetisch abgeriegelt. Die israelische Regierung deklariert sie als „feindliches Gebiet“.
Nachdem wir die Kontrollen passiert und etwa einen Kilometer Fußweg vorbei an zerbombten Fabrikanlagen zurückgelegt haben, empfängt uns unser Gastgeber Dr. Husam Al-Najar, ein in Deutschland ausgebildeter Umweltingenieur. Einen ersten Eindruck von den Folgen des Embargos vermittelt der charakteristische Geruch nach Pflanzenöl. Viele Autofahrer haben wegen des Mangels an Diesel auf den alternativen Treibstoff umgestellt. Ein spezifischer Geruch geht auch von dem großen Klärteich im Norden der Stadt Gaza aus. Weil es an Ersatzteilen für die Pumpen fehle, funktioniere die Belüftung der Abwässer nicht, erläutert Al-Najar. Dadurch werde Methangas freigesetzt. Ein scharfer Gestank geht auch von den Müllbergen auf den Straßen aus, die sich in der Hitze schnell zersetzen. Die Müllabfuhr verfügt nur noch über 60 Prozent des benötigten Kraftstoffs für den Abtransport, und die nun eingesetzten Esel- und Pferdekarren können die fehlende Kapazität nicht kompensieren.
Die Blockade des Gazastreifens beeinträchtigt die Lebenspläne der Menschen enorm. Al-Najar kann beispielsweise die dringend erforderliche Erweiterung der Kläranlage nicht vornehmen lassen, obwohl die deutsche Kreditanstalt für Wiederaufbau Gelder dafür bereitgestellt hat, denn Zement zählt zu den Gütern, die „aus Sicherheitsgründen“ nicht importiert werden dürfen.
Das Ahli Arab Hospital in der Stadt Gaza macht einen sehr gepflegten Eindruck. Das Krankenhaus gehört der anglikanischen Kirche und wird offensichtlich mit großem Engagement betrieben. Doch der Betrieb des 100-Betten-Hauses, das auch eine große Facharztambulanz für die unterversorgte ärmere Bevölkerung unterhalte, bereite enorme Schwierigkeiten, betonen die Direktorin Suhalia Tarazi und Chefarzt Dr. Maha Ayyad. Die finanzielle Situation wird immer prekärer, weil die Patienten kaum noch in der Lage sind, Zuzahlungen zu leisten. Es bedeutet eine große Anstrengung, ausreichend Lebensmittel und Medikamente für die stationären Patienten bereitzustellen. Stundenlange Stromausfälle und der Mangel an Dieseltreibstoff für die Notfallgeneratoren hatten die Leitung einige Tage zuvor beinahe gezwungen, das Krankenhaus zu schließen – wie dies für die Ambulanz im Monat zuvor tatsächlich der Fall war.
Das Personal kommt wegen des Treibstoffmangels für den öffentlichen Nahverkehr häufig zu spät zum Dienst. Histopathologische Untersuchungen von Operationspräparaten werden enorm erschwert. Sie können in Gaza nicht mit der erforderlichen Qualität vorgenommen werden, doch ihr Transport nach Jerusalem wird bürokratisch behindert. Für jedes Präparat muss eine gesonderte Genehmigung beantragt werden. Dringende Renovierungsarbeiten an dem 100 Jahre alten Gebäude können nicht ausgeführt werden, weil es an Zement mangelt. Das bittere Resümee von Direktorin und Chefarzt: „1,4 Millionen Menschen in einem Käfig zu halten, ist inhuman. Die ganze Welt sieht uns zu, und niemand unternimmt etwas.“
Nahrungsmittelhilfe für 80 Prozent der Bevölkerung
Der Gazastreifen bedeckt eine Fläche, die ungefähr halb so groß ist wie die Hamburgs. Hier leben etwa 1,4 Millionen Menschen. Eine der weltweit höchsten Geburtenraten lässt bis zum Jahr 2030 eine Verdoppelung der Bevölkerungszahl erwarten. Der wirtschaftliche Niedergang, beschleunigt durch die seit Januar 2006 mehrfach verschärfte Blockade, hat dazu geführt, das inzwischen rund 80 Prozent der Bevölkerung von Nahrungsmittelhilfen der Vereinten Nationen (United Nations, UN) abhängig sind. Die UNRWA, die Hilfs- und Arbeitsagentur für palästinensische Flüchtlinge, ist seit 1948 in der Region tätig. Im April dieses Jahres musste sie selbst für vier Tage ihre Lebensmittellieferungen an 650 000 Bedürftige einstellen, weil es an Treibstoff für die Fahrzeuge fehlte.
Mit vier weiteren UN-Institutionen bildet die UNRWA die Koordinierungsstelle OCHA, die regelmäßig über die Lage in den besetzten palästinensischen Gebieten berichtet. So veröffentlichte das „Gaza Strip Inter-Agency Humanitarian Fact Sheet“ im Juni dieses Jahres einen Artikel, der einen Rückgang in der Gemüseproduktion verzeichnete, weil die Bauern nicht genügend Treibstoff für den Betrieb ihrer Bewässerungspumpen erhielten.
Ahli Arab Hospital:
Das Krankenhaus in
Gaza macht einen
gepflegten Eindruck,
leidet aber zunehmend
unter den Folgen
der Blockade.
Foto: Flickr
Die Betriebe zur Wasseraufbereitung erhielten im April nur 31 Prozent ihres Treibstoffbedarfs, was zu gravierenden Einschränkungen führte: 15 Prozent der Bevölkerung hatten nur vier bis sechs Stunden pro Woche fließendes Wasser, 25 Prozent hatten alle vier Tage fließendes Wasser, und nur 60 Prozent verfügten täglich über Trinkwasser. Keine der drei Abwasseranlagen funktionierte reibungslos. Ersatzteil- und Energiemangel führten dazu, dass täglich 77 Millionen Liter Abwässer unzureichend oder ungeklärt ins Mittelmeer geleitet werden mussten.
Auch der in Gaza amtierende Gesundheitsminister spricht von drängenden Problemen. Von der Liste der 450 essenziellen Medikamente seien für das palästinensische Gesundheitswesen aktuell zwischen 50 und 150 Substanzen nicht ständig verfügbar, sagt Dr. Basem Naim. Die ärztliche Fortbildung, die auf Reisemöglichkeiten und internationalen Austausch angewiesen sei, liege seit etwa drei Jahren brach. Mithilfe der Europäischen Union sei ein relativ gut funktionierendes Gesundheitswesen aufgebaut worden, das nun allmählich zerstört werde. Naim kritisiert außerdem Angriffe auf medizinische Einrichtungen bei militärischen Operationen der israelischen Armee.
Von Januar bis April 2008 fielen dem Beschuss mit „Qassam“-Raketen vom nördlichen Gazastreifen aus vier israelische Zivilisten zum Opfer. Im selben Zeitraum starben bei Luft- und Panzerangriffen der israelischen Armee im Gazastreifen 300 Palästinenser, 61 davon Kinder (Frankfurter Rundschau vom 11. Juni 2008). Trotz allem gibt es auf beiden Seiten der Mauer medizinische Initiativen, die Hass und Gewalt Vernunft und Humanität entgegensetzen und dabei sehr gut kooperieren. Das Gaza Community Mental Health Programme beispielsweise betreut eine große Zahl psychisch traumatisierter Patienten und leistet damit einen Beitrag zur Gewaltprävention. Außerdem bietet es Kurse zur Konfliktlösung in Schulen an und organisiert Gruppen für Frauen, die deren Stellung in der patriarchischen Familie und Gesellschaft stärken sollen. Schulungen mit palästinensischen Polizisten und Gefängnisbeamten sollen darüber hinaus in diesen Berufsgruppen ein Bewusstsein für die Menschenrechte schaffen. Im Oktober wird sich in Gaza eine internationale Konferenz mit den psychosozialen Folgen der Belagerung beschäftigen. Sie steht unter dem Titel „Siege and Mental Health – Walls versus Bridges“. Mitveranstalter ist die Weltgesundheitsorganisation.
Auf israelischer Seite streiten die „Physicians for Human Rights – Israel“ für das Recht auf Gesundheit. Sie leisten ärztliche Hilfe für mittellose Migranten in Israel und unbezahlte fachärztliche Konsultationen im Westjordanland. Außerdem treten sie entschieden für das Recht schwer kranker Palästinenser ein, Spezialbehandlungen in Israel in Anspruch nehmen zu können, sofern diese in den besetzten Gebieten nicht zugänglich sind. In Tel Aviv berichtet Miri Weingarten von den schwierigen Auseinandersetzungen mit den Regierungsinstitutionen um jeden einzelnen Patienten, der zum Beispiel wegen einer Krebserkrankung eine Bestrahlung braucht oder wegen einer komplizierten Herzoperation eine Ausreisegenehmigung aus dem Gazastreifen benötigt. Immer wieder werden solche Genehmigungen verweigert oder so lange verzögert, bis der Betroffene auf der Warteliste gestorben ist. Schätzungen zufolge ist das hier bereits in mehr als 100 Fällen geschehen.
Die Europäische Union unterstützt de facto die Blockadepolitik um den Gazastreifen und trägt Mitverantwortung für die gravierenden humanitären Folgen. Gerade im Gesundheitssektor gilt es, diese Folgen aufmerksam zu beobachten und die Möglichkeiten der Brückenbildung in angebliche „Feindgebiete“ zu nutzen.
Matthias Jochheim,
Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs (IPPNW), E-Mail: ippnw@ippnw.de
Söll, Robert
Gips, Johann I.