ArchivDeutsches Ärzteblatt PP10/2008Alexander Mitscherlich: „Diese extrem naturwissenschaftliche Konzeption der Medizin ist gescheitert“

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Alexander Mitscherlich: „Diese extrem naturwissenschaftliche Konzeption der Medizin ist gescheitert“

Goddemeier, Christof

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Die Psychoanalyse ist aus der Medizin hervorgegangen . . . es hieße, sie zum Absterben verurteilen, wollte man sie ihrer primären Erfahrungsquelle aus der Krankenbehandlung berauben.“ Alexander Mitscherlich (1964) Foto: ullstein bild
Die Psychoanalyse ist aus der Medizin hervorgegangen . . . es hieße, sie zum Absterben verurteilen, wollte man sie ihrer primären Erfahrungsquelle aus der Krankenbehandlung berauben.“ Alexander Mitscherlich (1964) Foto: ullstein bild
Vor 100 Jahren wurde der Arzt und Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich geboren.

Zeitlebens setzte Alexander Mitscherlich sich für die Anerkennung psychologischen Denkens in der Medizin ein. Die beiden Bände „Krankheit als Konflikt. Studien zur psychosomatischen Medizin“ (1966/67) haben Ärzten und Studierenden nahegebracht, dass körperliches Kranksein seelische Ursachen haben kann. Dabei ging er immer wieder den Zusammenhängen zwischen psychischen, familiären und gesellschaftlichen Konflikten nach. Mit beachteten Beiträgen meldete er sich im politischen Tagesgeschehen zu Wort. Seine Bücher „Auf dem Weg in die vaterlose Gesellschaft“, „Die Unwirtlichkeit unserer Städte“ und „Die Unfähigkeit zu trauern“ (zusammen mit Margarete Mitscherlich-Nielsen) brachten Probleme und Stimmungen der westdeutschen Gesellschaft auf den Punkt und wurden in den 60er-Jahren zu Bestsellern. Schlüssel zum Verständnis von Mitscherlichs Weltanschauung ist die Erfahrung des Nationalsozialismus. So ist seine theoretische und therapeutische Arbeit immer auch eine Bewältigung des Grauens, das die Hitler-Diktatur in ihm ausgelöst hat.

Am 20. September 1908 wird Alexander Mitscherlich in München geboren. Die zerrüttete Ehe der Eltern prägt die „ziemlich unglückliche Kindheit“ des Einzelkinds. Die Möglichkeit einer Trennung versetzt den Jungen dennoch in „ratlose Angst“. Der Mitscherlich-Biograf Hans-Martin Lohmann führt dessen späteres Interesse an Themen der Väterlichkeit und Vaterlosigkeit auf diese Kindheitserfahrungen zurück. Zunächst studiert Mitscherlich in München Geschichte, Philosophie und Literatur. Seine Dissertation über Luther-Darstellungen im 19. Jahrhundert beendet er nicht – 1930 stirbt sein Doktorvater Paul Joachimsen. Mitscherlich geht nach Berlin, eröffnet eine Buchhandlung und studiert Medizin. Als er offen für Ernst Niekischs Schrift „Hitler – ein deutsches Verhängnis“ wirbt, wird die Gestapo auf ihn aufmerksam. Dabei kritisierte Niekisch an Hitler nicht etwa den Diktator, sondern dass er sich zur Stütze der Weimarer Republik entwickelt habe. Mit Ernst Jünger gehörte Niekisch zu den herausragenden Figuren der „Konservativen Revolution“.

Doch so antidemokratisch Niekisch seine Kritik an Hitler auch begründen mochte – letztlich verhilft sie Mitscherlich zu einer kompromisslosen Ablehnung des Nationalsozialismus. In seinen Erinnerungen sieht Mitscherlich seine Haltung am Ende der Weimarer Republik kritisch: „Soweit ich hier mithielt und mich ganz offenbar auf falschem Gleis bewegte, war ich naiv und ignorant“, schreibt er etwa über den Kreis um Jünger. Als Thomas Mann 1930 zur Verteidigung der Republik aufruft, ist Mitscherlich mit einigen Vertretern der „Konservativen Revolution“ dabei, um dessen Vortrag zu stören. Noch 50 Jahre später empfindet er es als „schmerzlich, damals auf der falschen Seite gestanden zu haben“.

1937 setzt Mitscherlich sein Studium in Zürich fort. Hier schließt er dauerhafte Freundschaften, etwa mit dem Psychoanalytiker Gustav Bally, der den Kontakt zu Viktor von Weizsäcker und Felix Schottlaender vermittelt. Auf einer Reise nach Deutschland wird Mitscherlich festgenommen und von der Gestapo drei Monate in Nürnberg inhaftiert. Im Gefängnis liest er von Weizsäckers Schriften zur Psychopathologie und beschließt, sein Studium in Heidelberg fortzusetzen, wo von Weizsäcker lehrt. Ihn und Sigmund Freud bezeichnet Mitscherlich fortan als seine „geistigen Väter“.

Mitscherlich promoviert 1941 mit der Arbeit „Zur Wesensbestimmung der synaesthetischen Wahrnehmung“ und arbeitet in Heidelberg zunächst auf neurologischem Gebiet. Nach Kriegsende wird er als einer der wenigen Unbelasteten seiner Generation in die praktische Verantwortung genommen: „Immer wieder wurden in Heidelberg politische Forderungen an mich herangetragen. Aufgaben, von denen wir alle (. . .) nichts verstanden oder nur sehr wenig.“ Für einige Wochen ist Mitscherlich in der amerikanischen Besatzungszone Minister für Ernährung und Gesundheit. Die Alliierten bieten ihm einflussreiche politische Posten an. In einem Interview sagt er später dazu: „Das hat mir große Konflikte gebracht. (. . .) Aber was habe ich gemacht? Ich bin krank geworden. (. . .) Ich würde nicht im geringsten zweifeln, dass dies die somatische Antwort auf eine psychische Krise war, in der ich mich nicht entscheiden konnte.“

Wegbereiter der psychosomatischen Medizin
Fünf Jahre kämpft Mitscherlich für die Errichtung eines Instituts für Psychotherapie an der Heidelberger Universität. In einer Denkschrift beklagt er, dass die universitäre Psychiatrie an Freuds „Psychologie des Unbewussten“ entweder „vorbeigegangen“ sei oder sie „offen bekämpft“ habe. Dabei gebe es zwischen beiden keine Konkurrenz, die Psychiatrie könne nur profitieren. Psychotherapie in diesem Sinne sei „auf dem Weg zu einer ihr gemäßen Anthropologie und speziellen Anthropotherapie“. Auch von Weizsäcker sieht die Psychoanalyse als bislang unerprobte Methode, derer sich die Medizin bedienen müsse. Doch er steht Freuds Lehre zwiespältig gegenüber, weil er die sinnstiftenden Möglichkeiten der Religion der Kulturkritik Freuds nicht zu opfern bereit ist. Nicht einverstanden sind die Psychiater mit Mitscherlichs Vorstoß. Kurt Schneider erteilt einem psychotherapeutischen Lehrstuhl eine klare Absage. „Aus einer Sexualtrieb-Lehre alles Geistige abzuleiten“, hält er für eine „Verirrung“. Für Mitscherlich endet der Kampf erfolgreich: Ab 1950 wird die Heidelberger Klinik zur Keimzelle der psychosomatischen Medizin und Psychoanalyse in der Bundesrepublik.

Im Auftrag der Westdeutschen Ärztekammern ist Mitscherlich 1947 als Sachverständiger beim Nürnberger Ärzteprozess zugegen. Hier werden „Untaten von so ungezügelter und zugleich bürokratisch-sachlich organisierter Lieblosigkeit, Bosheit und Mordgier“ verhandelt, die ihn „niedergedrückt von Scham und Verzweiflung“ zurücklassen. Eine Kollektivschuld der Deutschen, wie sie etwa Carl Gustav Jung vertritt, lehnt Mitscherlich ab. Die mehr oder weniger deutlich formulierte Erwartung der medizinischen Fakultäten, sein Bericht werde beweisen, „dass nur eine verschwindend kleine Zahl von Ärzten (. . .) sich schuldig gemacht hat, (. . .) dass aber die deutsche Ärzteschaft (. . .) frei von Schuld und nicht mit Vorwürfen zu belasten ist“, erfüllt Mitscherlich indes nicht. Ihm zufolge zeigen die verhandelten Verbrechen „die Katastrophe einer Wissenschaft, die sich von einer politischen Ideologie scheinbar in Richtung ihrer eigenen Ziele forttreiben lässt und plötzlich bei der Organisation des Mordes steht“. In „Das Diktat der Menschenverachtung“ dokumentieren Mitscherlich und Fred Mielke den Prozess. Aufseiten der Ärzteschaft stößt der Bericht vielfach auf Ablehnung. Mitscherlich rücke, so der Vorwurf, Unschuldige in die Nähe von Verbrechern und laste diese Verbrechen einer modernen „Organmedizin“ an, ohne einen Zusammenhang im Einzelnen belegen zu können. In der Öffentlichkeit wird sein Bericht positiv aufgenommen.

Früh schlägt Mitscherlich den Bogen von der Individual- zur Sozialpsychologie. Freud zufolge kann Soziologie „nichts anderes sein (. . .) als angewandte Psychologie“. Diese Annahme teilt eine immer stärker empirisch ausgerichtete Soziologie zwar nicht, doch dem Psychoanalytiker Mitscherlich erlaubt sie, seinen diagnostischen Blick vom Einzelnen auf die Gesellschaft zu erweitern.

1951 reist Mitscherlich in die USA und ist beeindruckt von der Kooperation zwischen Allgemeinmedizin, Psychiatrie und Psychoanalyse, die er hier antrifft. Zurück in Deutschland, sucht er mithilfe der Psychoanalyse die Zusammenhänge zwischen der Krankheit und der Lebenssituation des Kranken zu erhellen. Ziel ist die „biografische Anamnese“. Das Interesse an der Lebensgeschichte und die Betonung subjektiver Aspekte sind fortan integrale Bestandteile der psychosomatischen Medizin und einer anthropologisch orientierten Psychiatrie. 1960 wird Mitscherlich Direktor des neu gegründeten Sigmund-Freud-Instituts in Frankfurt am Main, das er bis 1976 leitet. In seiner Ansprache zur Eröffnung sieht er „die geduldige Selbsterforschung“ als „das einzig verlässliche Mittel, um uns Glaubwürdigkeit zu verschaffen und uns zugleich gegen die Inhumanitäten zu verteidigen, die uns unter der Decke der Zivilisation drohen“. Dabei ist „das Herzstück dieses Instituts die Medizin, und sie muss es bleiben. Die Psychoanalyse ist aus der Medizin hervorgegangen. So weit ihre Auswirkungen auch reichen mögen, es hieße, sie zum Absterben verurteilen, wollte man sie ihrer primären Erfahrungsquelle aus der Krankenbehandlung berauben“. (1964)

Skeptisch hinsichtlich der Kultureignung des Menschen
1969 erhält Mitscherlich den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Ihm zufolge kann der Sache der Humanität nur dienen, wer „für das Martialische in sich selbst“ hellhörig ist. Verharmlosung menschlicher Aggression hält er für unverantwortliches Wunschdenken. Wie Freud ist Mitscherlich skeptisch hinsichtlich der „Kultureignung“ des Menschen. Doch widerspricht er deutlich jenen, die „aus einer angeblichen Unbeeinflussbarkeit der Aggression ein sozialdarwinistisches Weltbild ableiten“. In der psychoanalytischen Behandlung sah er einen Weg, menschliche Solidarität zu entwickeln. Am 26. Juni 1982 starb Alexander Mitscherlich in Frankfurt am Main.
Christof Goddemeier
1.
Dehli, Martin: Leben als Konflikt – Zur Biographie Alexander Mitscherlichs, Göttingen 2007.
2.
Freimüller, Tobias: Alexander Mitscherlich, Göttingen 2007.
3.
Hoyer, Timo: Im Getümmel der Welt, Alexander Mitscherlich – Ein Portrait, Göttingen 2008.
4.
Lohmann, Hans-Martin: Alexander Mitscherlich, Hamburg 1987.
1. Dehli, Martin: Leben als Konflikt – Zur Biographie Alexander Mitscherlichs, Göttingen 2007.
2. Freimüller, Tobias: Alexander Mitscherlich, Göttingen 2007.
3. Hoyer, Timo: Im Getümmel der Welt, Alexander Mitscherlich – Ein Portrait, Göttingen 2008.
4. Lohmann, Hans-Martin: Alexander Mitscherlich, Hamburg 1987.

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