POLITIK
EU-Arbeitszeitrichtlinie: Aktiv gegen inaktive Phasen


„Heimweh?“, lautet
die Überschrift zu diesem
Plakatmotiv des
Marburger Bundes, der
sich vehement gegen
die drohende Verschlechterung
des Arbeitsschutzes
in den
Kliniken wehrt.
Mehr als drei Jahre hatten die EU-Regierungen um eine gemeinsame Position für eine Neufassung der Vorschriften zur Arbeitszeitgestaltung in Krankenhäusern, Rettungsdiensten und anderen Bereichen gerungen, bevor sie sich im Juni endlich einigten. Nun könnte das Europäische Parlament (EP) den Kompromiss erneut zu Fall bringen.
Zwar ist es bis zur endgültigen Abstimmung im EP am 15. Dezember noch etwas hin, in den Fraktionen ist man aber bereits eifrig dar-um bemüht, die Stimmung unter den Mitgliedern auszuloten. Dabei zeichnet sich ab, dass zahlreiche Abgeordnete die Forderungen des Rates wohl nicht mittragen werden. Dies würde bedeuten, dass ausgewählte Vertreter von Rat und EP im Rahmen eines Vermittlungsverfahrens über einen möglichen Kompromisstext entscheiden müssten.
Derweil versuchen der Marburger Bund (MB) und die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG), die Entscheidungen der Europaabgeordneten zu beeinflussen.
So forderte der MB seine Mitglieder auf, alle deutschen Abgeordneten brieflich oder per E-Mail dazu zu bewegen, gegen die geplante Aufteilung des Bereitschaftsdienstes zu stimmen. „Die Bereitschaftsdienstbewertung als Arbeitszeit ist Voraussetzung für den Gesundheitsschutz der Klinikärzte, der überlangen Arbeitszeiten, Übermüdung und möglichen Behandlungsfehlern vorbeugen soll“, sagt der MB-Vorsitzende Rudolf Henke. Jedwede Aufweichung dieser Definition berge die Gefahr neuer Marathondienste für Ärzte. Die Kritik des MB richtet sich vor allem gegen die Forderung des Rates, Bereitschaftsdienste in aktive und inaktive Phasen aufzuteilen. Letztere sollen nicht als Arbeitszeit gewertet werden. Nach dem Willen der Regierungen soll es ferner möglich sein, auf einzelstaatlicher Ebene tarifvertraglich Ausnahmen von der regulären wöchentlichen Höchstarbeitzeit von 48 Stunden zu vereinbaren. Theoretisch wären somit Dienste von 65 Stunden und mehr möglich.
Die DKG wiederum sieht in der vom Ministerrat gefundenen Lösung einen „ausgewogenen Kompromiss zwischen Arbeitszeitflexibilisierung und Arbeitnehmerschutz“. Dieser dürfe durch die zweite Lesung im EP nicht ins Gegenteil verkehrt werden, mahnt die Krankenhausgesellschaft.
Die Mehrheit der Europaabgeordneten hatte sich in erster Lesung klar gegen die vom Rat geforderten Ausnahmeregelungen ausgesprochen. Der Berichterstatter für das EP, der spanische Sozialist Alejandro Cercas, drängt darauf, dieser Linie in der abschließenden zweiten Lesung treu zu bleiben. Die Zustimmung der Mehrheit der 216 sozialdemokratischen Europaabgeordneten dürfte ihm gewiss sein. Aus Sicht vieler Sozialisten ist der Ratsvorschlag ein „Schlag ins Gesicht aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer“. „Wir werden uns auf diesen Kompromiss auf gar keinen Fall einlassen“, so die SPD-Politikerin Karin Jöns.
Mit den Stimmen der Sozialisten allein kann es allerdings nicht gelingen, den Ratsbeschluss zu kippen. Für eine Ablehnung in zweiter Lesung bedarf es einer qualifizierten Mehrheit von mindestens 393 der 785 Abgeordneten. Zwar sind auch Vertreter anderer Parteien gegen eine Kehrtwende beim europäischen Arbeitsschutz. Deutsche Abgeordnete der christlich-konservativen Volkspartei EVP beispielsweise kündigten an, sich gegen eine Änderung des EU-Rechts zu wehren, die es erlauben würde, dass Ärzte sechs Tage am Stück im Krankenhaus anwesend sein müssen. „Dies wäre nach dem Ratstext möglich, denn danach kann sogar von dem Grundsatz, dass die inaktive Zeit keine Ruhezeit ist, abgewichen werden“, erklärt die CSU-Politikerin Anja Weisgerber. Gleichwohl sind zahlreiche EVP-Mitglieder wie auch liberale Abgeordnete der Ansicht, dass die neu gefasste Arbeitszeitrichtlinie den EU-Ländern und Tarifvertragsparteien ausreichende Freiräume für individuelle Vereinbarungen zur Arbeitszeitgestaltung lassen muss. „Der MB argumentiert zu Recht, dass übermüdete Ärzte ein Risiko für Patienten darstellen“, räumt das Mitglied der liberalen Fraktion, Holger Krahmer, ein. Diesen Konflikt könne jedoch keine europäische Richtlinie lösen, weil die nationalen Gesundheitssysteme zu unterschiedlich aufgebaut seien. Petra Spielberg
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