THEMEN DER ZEIT
Nichtunterlegenheitsstudien: Fragwürdige Ethik


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Klinische Studien werden im Allgemeinen als Überlegenheitsstudien durchgeführt. Das heißt, die Sponsoren erwarten, dass ein Prüfpräparat (Innovation) besser wirkt als das Vergleichspräparat (Placebo, Goldstandard). Neuerdings gewinnen aber sogenannte Nichtunterlegenheitsstudien (NUS) an Bedeutung. Sie werden sogar von den zuständigen Behörden als Zulassungsstudien akzeptiert. Im Kern geht es darum nachzuweisen, dass ein neuer Wirkstoff nicht schlechter ist als ein bislang gebräuchlicher.
Ein aktuelles Beispiel ist die Studie ONTARGET („ongoing telmisartan alone and in combination with ramipril global endpoint trial“). Sie sollte nachweisen, dass der AT-I-Rezeptorantagonist Telmisartan (80 mg/d) dem ACE-Hemmer Ramipril (10 mg/d) bei der Behandlung von Hochrisikopatienten für kardiovaskuläre Ereignisse nicht unterlegen ist (1). In einem Editorial wurde ONTARGET als „an example of a high-quality noninferiority trial“ – als Beispiel einer hochwertigen Nichtunterlegenheitsstudie gelobt (2).
In einem provokanten „Viewpoint“ im Jahr 2007 bezeichneten Garattini und Bertelè NUS jedoch als unethisch, weil die Interessen der Patienten nicht ausreichend berücksichtigt würden (3). Ihre Meinung begründeten sie im Detail:
- NUS werden nur angewandt, wenn das Prüfpräparat gegenüber dem Vergleichspräparat voraussichtlich nur geringe oder keine Vorteile hat.
- Das Prüfpräparat darf sogar a priori weniger wirksam oder weniger sicher sein als das Vergleichspräparat. Der Grad der tolerierbaren Unterlegenheit (NU-Grenze Delta) beträgt in Studien bis zu zehn Prozent.
- NUS dienen nicht dem Patienteninteresse, sondern vorwiegend kommerziellen Zwecken. Praktische Relevanz für die Patienten haben nur Überlegenheitsstudien.
- Die Aufnahme von Patienten in NUS missbraucht ihr Vertrauen zum Prüfarzt.
- Wenn die Patienten wüssten, dass das Prüfpräparat auch schlechter sein kann als das Vergleichspräparat, würden wahrscheinlich weniger an NUS teilnehmen.
- Es werden keine klinisch relevanten Fragen gestellt.
- Es ist unethisch, Patienten im Versuch oder im realen Leben solchen Risiken (geringere Wirkung/Sicherheit) auszusetzen, ohne dass sie im Austausch einen Vorteil erhalten.
Das sind gravierende Einwände, die die Sponsoren, die Leiter der klinischen Prüfungen, die Prüfärzte und die Zulassungsbehörden aufmerken lassen müssten. Solche Studien würden gegen das Sittengesetz (Artikel 2 Absatz 1 Grundgesetz) verstoßen und demzufolge nichtig sein.
Wir müssen also fragen: „Was bedeutet unethisch?“ Raspe und Mitarbeiter geben eine kurze, präzise Antwort (4): „ . . . irrelevante, repetitive, obsolete oder invalide Forschung ist ethisch nicht akzeptabel. Schlechte Forschung ist unethisch, auch wenn sie keine nennenswerten Belastungen und Risiken für ihre Probanden oder Patienten mit sich bringt.“ Die wissenschaftliche Validität der klinischen Forschung ist also die erste und unabdingbare Voraussetzung, um ethisch akzeptabel zu sein. Dazu kommen gleichrangig die informierte Einwilligung („informed consent“) und der Respekt vor den Probanden/Patienten (5).
Folgt man diesen Hinweisen, dann gibt es dennoch manche Situationen, in denen NUS ethisch akzeptabel sein könnten.
Das betrifft fast alle Deeskalationsstudien in der Hämatologie/Onkologie. Viele Studienprotokolle fordern eine derart massive Polypharmakotherapie, dass eine Deeskalation bei gleicher Wirkung, aber weniger Nebenwirkungen nicht nur akzeptabel ist, sondern einem dringenden Erfordernis entspricht. Aktuell betrifft das zum Beispiel den Vergleich von Fludarabin, Cyclophosphamid und Rituximab (FCR) versus Bendamustin und Rituximab (BR) bei Patienten mit chronisch lymphatischer Leukämie. Derartige Deeskalationsstudien sind natürlich auch in anderen Fachrichtungen denkbar, beispielsweise Studien, die eine dreimal tägliche Applikation auf eine einmalige verringern wollen, wie bei Insulin Lispro, das durch Insulin Glargin ersetzt werden soll (6).
Auch der Vergleich von Antibiotika kann in NUS sinnvoll sein, um dem Arzt unter Berücksichtigung der lokalen Resistenzsituation die Auswahl zu erleichtern und die Therapie zu optimieren. Tuberkulostatika, die bei gleicher Wirksamkeit und geringeren Nebenwirkungen eine verkürzte Therapie erlauben, würden eine Nichtüberlegenheitsstudie ebenso rechtfertigen.
Dagegen sind meines Erachtens Studien grenzwertig ethisch, die beweisen sollen, dass kostenintensive AT-I-Antagonisten den sehr preiswerten ACE-Hemmern nicht unterlegen sind. In der eingangs genannten ONTARGET-Studie ging es um Telmisartan und Ramipril. Fünf Jahre früher wurde – mit dem gleichen Ergebnis der Nichtunterlegenheit – in der Studie VALIANT („valsartan in acute myocardial infarction trial“) Valsartan mit Captopril verglichen (7). Weitere Studien in dieser Richtung wären kaum noch zu rechtfertigen.
Auch für ethisch vertretbare NUS gilt selbstverständlich, dass die NU-Grenze Delta möglichst niedrig sein sollte (etwa fünf Prozent). Je niedriger diese Grenze ist, umso mehr Patienten müssen rekrutiert werden.
Eine zweite Forderung ist die eindeutige Information der Patienten. Bei Überlegenheitsstudien mit Placebo wird auch gesagt, dass es sich um eine Substanz ohne Wirkstoff handelt und der Patient von einem Placebo keinen persönlichen Nutzen erwarten kann.
Für NUS gilt prinzipiell, dass das Prüfpräparat dem Vergleichspräparat unterlegen sein kann und in dem Fall alle Patienten, die das Prüfpräparat erhalten, keinen Nutzen aus der Studienteilnahme ziehen. Der Patient muss also erfahren, worauf er sich einlässt. Leider wurde dieser Aspekt im „Mustertext für die Patienten-Information und -Einwilligung“, der vom Arbeitskreis Medizinischer Ethik-Kommissionen empfohlen wurde (10. November 2007), nicht berücksichtigt. Die Ethik-Kommissionen stehen in der Pflicht, sich dieser Situation zu stellen, um die Integrität und Autonomie der potenziellen Studienteilnehmer zu sichern.
Garattini und Bertelè (3) ist zu danken, dass sie uns für die Probleme der Nichtunterlegenheitsstudien sensibilisiert haben.
Zitierweise dieses Beitrags:
Dtsch Arztebl 2008; 105(43): A 2268–9
Anschrift des Verfassers
Prof. Dr. med. Frank P. Meyer
Magdeburger Straße 29
39167 Groß Rodensleben
1.
The ONTARGET Investigators: telmisartan, ramipril, or both in patients at high risk for vascular events. N Engl J Med 2008; 358: 1547–59. MEDLINE
2.
McMurray JJV: ACE-Inhibitors in cardiovascular disease – unbeatable? N Engl J Med 2008; 358: 1615–6. MEDLINE
3.
Garattini S, Bertelè V: Non-inferiority trials are unethical because they disregard patients’ interests. Lancet 2007; 370: 1875–7. MEDLINE
4.
Raspe H, Hüppe A, Steinmann M: Empfehlungen zur Begutachtung klinischer Studien durch Ethikkommissionen. Köln: Deutscher Ärzte-Verlag 2005.
5.
Emanuel EJ, Wendler D, Grady C: What makes clinical research ethical? JAMA 2000; 283: 2701–11. MEDLINE
6.
Bretzel RG, Nuber U, Landgraf W, Owens DR, Bradley C, Linn T: Once-daily basal insulin glargine versus thrice-daily prandial insulin lispro in people with type 2 diabetes on oral hypoglycaemic agents (APOLLO): an open ranomised controlled trial. Lancet 2008; 371: 1073–84. MEDLINE
7.
Pfeffer MA, McMurray JJV, Velazquez EJ et al.: Valsartan, captopril, or both in myocardial infarction complicated by heart failure, left ventricular dysfunction, or both. N Engl J Med 2003; 349: 1893–906. MEDLINE
1. | The ONTARGET Investigators: telmisartan, ramipril, or both in patients at high risk for vascular events. N Engl J Med 2008; 358: 1547–59. MEDLINE |
2. | McMurray JJV: ACE-Inhibitors in cardiovascular disease – unbeatable? N Engl J Med 2008; 358: 1615–6. MEDLINE |
3. | Garattini S, Bertelè V: Non-inferiority trials are unethical because they disregard patients’ interests. Lancet 2007; 370: 1875–7. MEDLINE |
4. | Raspe H, Hüppe A, Steinmann M: Empfehlungen zur Begutachtung klinischer Studien durch Ethikkommissionen. Köln: Deutscher Ärzte-Verlag 2005. |
5. | Emanuel EJ, Wendler D, Grady C: What makes clinical research ethical? JAMA 2000; 283: 2701–11. MEDLINE |
6. | Bretzel RG, Nuber U, Landgraf W, Owens DR, Bradley C, Linn T: Once-daily basal insulin glargine versus thrice-daily prandial insulin lispro in people with type 2 diabetes on oral hypoglycaemic agents (APOLLO): an open ranomised controlled trial. Lancet 2008; 371: 1073–84. MEDLINE |
7. | Pfeffer MA, McMurray JJV, Velazquez EJ et al.: Valsartan, captopril, or both in myocardial infarction complicated by heart failure, left ventricular dysfunction, or both. N Engl J Med 2003; 349: 1893–906. MEDLINE |
Jakob, Helga Maria
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