ArchivDeutsches Ärzteblatt43/2008Filmkritik: Mutter ohne Liebe

KULTUR

Filmkritik: Mutter ohne Liebe

Osterloh, Falk

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Die junge Regisseurin Emily Atef zeigt in „Das Fremde in mir“ die Qualen einer Mutter, die ihr Kind nicht lieben kann.

Kaum einem menschlichen Gefühl wird so viel unerschütterliche Intensität zugesprochen wie der Liebe einer Mutter zu ihrem Kind. Sie gilt als Naturgewalt, als Naturgesetz, das in einer Welt voller Lebensabschnittsgefährten und globalisierter Bankenkrisen wie eine der letzten Konstanten der Menschlichkeit erscheint. Die Sonnenseiten des Mutterglücks sind so häufig in Joghurtwerbung und Politkampagnen zur Schau gestellt worden, dass die öffentliche Meinung jungen Müttern nichts anderes als eine aufopferungsvolle Liebe zu ihren Kindern zugesteht. Dass es in Deutschland viele Frauen gibt, die nach der Entbindung keine Liebe für ihr Kind empfinden können, ist wenig bekannt. Die franko-iranische Regisseurin Emily Atef hat sich in ihrem zweiten Langfilm „Das Fremde in mir“ diesem Thema angenommen.

Statt Geborgenheit hält das Familienleben für die junge Familie nur Sprachlosigkeit und Unverständnis bereit. Fotos: Bavaria-Film
Statt Geborgenheit hält das Familienleben für die junge Familie nur Sprachlosigkeit und Unverständnis bereit. Fotos: Bavaria-Film
Bei Rebecca und Julian läuft alles super. Rebecca ist hochschwanger, Wunschkind Lukas hat bereits sein liebevoll eingerichtetes Kinderzimmer im neuen Haus. Die Eltern freuen sich auf ihr Leben zu dritt. Rebecca schließt ihr Blumengeschäft, um sich um Lukas kümmern zu können. Julian übernimmt ein arbeitsintensives Projekt, um das fehlende Gehalt auszugleichen. Dann kommen die Wehen, die Geburt verläuft ohne Komplikationen, die Hebamme legt das Baby in Rebeccas Arme. Und Rebecca fühlt nichts. Dann wird sie aus dem Krankenhaus entlassen, das Kinderzimmer wird eingeweiht, Lukas liegt an ihrer Brust. Und Rebecca bekommt Angst. Dann verlässt Julian früh am Morgen das Haus, Rebecca ist allein mit dem Baby, das nicht aufhören will zu schreien. Den ganzen Tag ist sie allein. Und Rebecca fühlt Ablehnung/Fremdheit. Rebecca ist in ihrer neuen Welt gefangen mit Gefühlen, die sie nicht einordnen kann. In dem Maß, indem ihr Baby ihr fremd ist, wird sie sich selbst fremd, entfremdet sie sich von ihrer Umwelt und ihrem Mann. Der überforderte Julian missachtet die Signale und zieht sich zurück. Statt Geborgenheit hält das Familienleben für die jungen Eltern nur Sprachlosigkeit und Unverständnis bereit. Erst als es beinahe zur Katastrophe kommt, erhält sie psychologische Hilfe und beginnt den steinigen Weg der Genesung. Doch die Ablehnung ihrer Umwelt wird dadurch nicht geringer.

In Deutschland leiden etwa 80 000 Frauen pro Jahr an einer postpartalen Depression. Die Ursachen für diese Krankheit sind dabei ebenso mannigfaltig wie ihre Intensität. Rebecca leidet an einer schweren Depression, die von Teilnahmslosigkeit über Angstzustände bis hin
zu Suizidversuchen verläuft. „Das Fremde in mir“ zeigt den exemplarischen Fortgang dieser Krankheit mit einer hilf- und sprachlosen Protagonistin und einem Verständnis verweigernden Umfeld. Dabei geht es Regisseurin Atef nicht um Zwischentöne, die eine realitätsnahe Charakterisierung ermöglichen, sondern es geht ihr darum, mit aller Deutlichkeit und ohne jegliche Relativierung die Qualen von jungen Müttern zu zeigen, die an einer postpartalen Depression leiden. Mit wenig Musik, einer stets kaum merklich wackelnden Kamera und hartem Licht inszeniert Atef die seelenwunde Stimmung ihrer Protagonistin. „Das Fremde in mir“ nähert sich dem sensiblen Thema nicht behutsam, sondern mit Nachdruck. Deshalb ist der Film kein nuancenreiches Erzählkino, sondern ein eindringliches Statement. Bei dem 15. Filmfest Oldenburg gingen mit dem Jury- dem Publikums- und dem Preis für den besten Nachwuchsregisseur alle Auszeichnungen an „Das Fremde in mir“.
Falk Osterloh

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