ArchivDeutsches Ärzteblatt47/2008Influenzaimpfung: Wie sind die WHO-Ziele bis 2010 zu erreichen?

MEDIZINREPORT

Influenzaimpfung: Wie sind die WHO-Ziele bis 2010 zu erreichen?

Buchholz, Udo; Szecsenyi, Joachim

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Foto: Novartis-Behring
Foto: Novartis-Behring
Der Hausarzt hat eine Schlüsselposition, um die Impfquote auf das WHO-Ziel von 75 Prozent in der älteren Bevölkerung zu erhöhen.

Die zwei größten Bevölkerungsgruppen, für die von der Ständigen Impfkommission am Robert-Koch-Institut eine Influenzaschutzimpfung empfohlen ist, umfassen zum einen die Personen, die älter als 60 Jahre sind, und zum zweiten – unabhängig vom Alter – die Personen mit vorbestehenden Grunderkrankungen, wie zum Beispiel chronischen Atemwegserkrankungen, chronischen Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Diabetes. Die Impfempfehlungen für diese Gruppen bestehen seit 1988 und gehen den Empfehlungen der 56. Weltgesundheitsversammlung aus dem Jahre 2003 voraus, als den Mitgliedstaaten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfohlen wurde, „den geimpften Anteil der Personen mit erhöhtem Risiko (für schwere Verläufe) einschließlich der älteren Bevölkerung und der Personen mit Vorerkrankungen (. . .) zu erhöhen, mit dem Ziel, bis zum Jahr 2010 eine Impfquote von 75 Prozent in der älteren Bevölkerung zu erreichen“. Im Folgenden soll dargestellt werden, warum die Influenzaschutzimpfung bei über 60-Jährigen und das Erreichen des WHO-Ziels wichtig sind, wie hoch die Impfquoten in dieser Altersgruppe sind und was getan wird beziehungsweise noch getan werden kann, um das WHO-Ziel zu erreichen.

Trotz hoher Zahl der Opfer stagniert die Impfquote
Für die Saisons 2001/02 bis 2006/07 führte das Robert-Koch-Institut Schätzungen zur Zahl der über das normale Maß auftretenden Todesfälle (sogenannte Exzesstodesfälle) durch, die während der Influenzawellen in der älteren Bevölkerung auftraten und der Influenza zugeschrieben werden (1). Es zeigte sich, dass die geschätzte Zahl der direkt oder indirekt an Influenza verstorbenen Personen über 60 Jahre in diesem Zeitraum stark von Saison zu Saison schwankte. Die Zahl aller der in diesem Zeitraum an Grippe verstorbenen Personen der älteren Bevölkerung wird auf 20 000 bis 31 000 geschätzt. Durch die schon durchgeführten Impfungen in diesem Zeitraum konnte eine geschätzte Anzahl von 3 400 bis 5 300 weiteren Grippetodesfällen verhindert werden. Wäre das WHO-Ziel einer Impfquote von 75 Prozent in der älteren Bevölkerung bereits in der Saison 2001/02 erreicht worden, hätte unter den Modellannahmen jedoch eine geschätzte Anzahl von weiteren 1 800 bis 2 800 Grippetoten verhindert werden können.

Die noch relativ hohe Zahl der an Grippe Verstorbenen, die trotz einer angenommenen Impfquote von 75 Prozent bestehen bleibt, ist vor allem ein Resultat daraus, dass bei Älteren der Grippeimpfstoff weniger effektiv vor dem tödlichen Verlauf schützt als bei jüngeren Menschen.

Wenn es gelänge, in den nächsten Jahren den Impfstoff durch neue Entwicklungen wie Adjuvanzien effektiver zu machen, könnte die Zahl der an Grippe Verstorbenen in dieser Altersgruppe möglicherweise noch weiter gesenkt werden.

Tatsächlich lag die Impfquote in der älteren Bevölkerung in Deutschland seit 2001/02 im Bereich um etwa 50 Prozent (44 bis 59 Prozent; Grafik; 2, 3), sodass sie in den nächsten zwei bis drei Jahren um weitere 20 bis 25 Prozentpunkte gesteigert werden müsste, um das WHO-Ziel zu erreichen. Im europäischen Vergleich liegt Deutschland bezüglich der Impfquoten in der älteren Bevölkerung im Mittelfeld, andere größere europäische Länder, wie zum Beispiel Italien, Spanien und Großbritannien, wiesen in den letzten Jahren durchweg höhere Impfquoten als Deutschland auf (4).

Um das gesteckte WHO-Ziel bis 2010 zu erreichen, finden bereits umfassende Aktivitäten in folgenden drei Bereichen statt:

1. Die Themen Influenza und Influenzaschutzimpfung müssen stärker im Bewusstsein der Öffentlichkeit und der Fachwelt präsent sein. Besonders geeignet erscheint dazu die wissenschaftlich fundierte Information der Laien- und Fachwelt über die Grippeaktivität, wie sie seit 1993 von der Arbeitsgemeinschaft Influenza durchgeführt wird (www.influ enza.rki.de/agi). Seit Beginn der Tätigkeit der Arbeitsgemeinschaft Influenza konnte die Zahl der durchgeführten Influenzaschutzimpfungen von anfänglich zwei bis drei Millionen auf inzwischen fast 20 Millionen gesteigert werden. Problematisch sind jedoch die stagnierenden Impfquoten in der älteren Bevölkerung, aber auch in den Bevölkerungsgruppen mit vorbestehenden Grunderkrankungen.

2. Die Nutzung der Schlüsselposition des Hausarztes. Im Jahr 2006 beauftragte das Bundesministerium für Gesundheit die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und das Robert-Koch-Institut, durch eine Informationskampagne die Impfquoten der Bevölkerungsgruppen zu verbessern, für die eine Impfempfehlung durch die Ständige Impfkommission am Robert-Koch-Institut ausgesprochen wurde. Zur Unterstützung der Arbeit in den Praxen sollte hierbei niedergelassenen Ärzten herstellerunabhängiges und zielgruppenspezifisches Informationsmaterial zur Verfügung gestellt werden. Aus Vorstudien war bekannt, dass bei Personen die Bereitschaft zu einer Influenzaschutzimpfung größer ist, wenn sie einen festen Hausarzt haben oder wenn ihnen anlässlich eines Arztbesuchs die Influenzaschutzimpfung aktiv angeboten wurde (57). Aus diesem Grund wurde die Strategie der Kampagne zunächst auf die niedergelassenen, impfenden Ärzte als zentrale Vermittler der Motivation zur Impfung ausgerichtet. Unter dem Motto „Wir kommen der Grippe zuvor“ wurden Flyer und zielgruppenspezifische Plakate zur Information der Allgemeinbevölkerung erstellt, die mit einem Anschreiben an alle circa 53 000 niedergelassenen, impfenden Ärzte verschickt wurden. Sämtliche Materialien der mehrjährigen Kampagne können auch kostenlos bei der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung bestellt werden (www.bzga.de >Infomaterialien/Bestellung > Grippeschutzimpfung).

3. Intensivierung der Aktivitäten von Hausärzten zur Erreichung einer höheren Impfquote unter den von ihnen betreuten älteren beziehungsweise an chronischen Grunderkrankungen leidenden Patienten. Hausärzte sollten zum einen durch systematisches Ansprechen ihrer entsprechenden Patienten im Herbst beziehungsweise vor Beginn der Influenzawelle, aber auch durch die Einrichtung von Erinnerungssystemen (sogenannte Recall-Systeme) versuchen, die Impfquoten in der entsprechenden Patientenklientel zu erhöhen. Schätzungsweise zwei Drittel aller Hausarztpraxen setzen schon jetzt die systematische Erinnerung von Patienten an die Influenzaimpfung ein. Vielversprechend erscheinen auch erste Ansätze, das Erreichen einer hohen Impfquote mit konkreten finanziellen Anreizen für die Praxis zu verbinden, wie dies jetzt erstmals in Deutschland in dem Vertrag zur hausarztzentrierten Versorgung zwischen der AOK Baden-Württemberg, der Hausärztlichen Vertragsgemeinschaft und dem Medi-Verbund realisiert wird. Dort wird das Erreichen der WHO-Impfquote von 75 Prozent als ausdrückliches Vertragsziel genannt und ein Indikator zur Messung dieser Quote detailliert beschrieben (8). Praxen erhalten einen Zuschlag von zwei Euro je eingeschriebenen Versicherten, wenn sie den Zielwert überschreiten. Dieser wird, ausgehend von einem Basiswert von 55 Prozent ab 2010 schrittweise um jeweils fünf Prozent angehoben, wenn – was realistisch erscheint – mindestens 60 Prozent der Praxen diesen Zielwert erreichen. Aufgrund der Erfahrungen, die man in anderen Ländern mit derartigen Anreizsystemen gemacht hat, besteht auch die Möglichkeit, dass der Anstieg der Impfquote wesentlich schneller erfolgt, als man es vorab erwartet. Da aber keine verlässlichen Basiswerte vorliegen, haben die Vertragspartner zunächst eine vorsichtige Anpassung der Zielwerte vereinbart.

Optimierung der Vakzine und der Impfquoten
Influenzaerkrankungen mit schweren oder sogar tödlichen Verläufen kommen vor allem in der älteren Bevölkerung und bei Patientengruppen mit chronischen Vorerkrankungen vor. Durch eine erhöhte Impfquote in diesen Bevölkerungsgruppen könnten mehr Personen vor tödlichen Grippeinfektionen geschützt werden, jedoch stellt die abnehmende Reaktionsfähigkeit des Immunsystems in der älteren Bevölkerung eine natürliche Schranke für noch bessere Impferfolge dar. Gegenwärtig gibt es daher zwei wichtige Zielstellungen bei verschiedenen Akteuren im Gesundheitswesen, um den Schutz der älteren Bevölkerung vor tödlichen Influenzaerkrankungen nachhaltig zu verbessern: Die Verbesserung der Schutzwirkung des Impfstoffs ist eine Aufgabe der impfstoffherstellenden Industrie, die Erhöhung der Impfquoten obliegt den öffentlichen Gesundheitsbehörden und impfenden Ärzten. Das Erreichen beider Ziele sollte bis 2010 angestrebt werden.
Dr. med. Udo Buchholz
Prof. Dr. med. Joachim Szecsenyi

Dr. Udo Buchholz und die Mitautoren Dietmar Walter, Dr. vet. Silke Buda und Priv.-Doz. Dr. med. Walter Haas: Robert-Koch-Institut (Berlin); Mitautorin Silja Wortberg: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (Köln); Prof. Dr. Joachim Szecsenyi: Universitätsklinikum Heidelberg

Literatur im Internet:
www.aerzteblatt.de/lit4708
1.
Buchholz U: Pressekonferenz der Arbeitsgemeinschaft Influenza am 10. September 2008. Unterlagen aufgerufen am 30. Oktober 2008. 2008. http://www.rki.de/cln_100/ nn_200120/DE/ Content/ InfAZ/I/Influenza/ PK__AGI__2008__Informationen.html
2.
Holm MV, Blank PR, Szucs TD: Trends in influenza vaccination coverage rates in Germany over five seasons from 2001 to 2006. BMC Infect Dis. 2007; 7: 144. MEDLINE
3.
TNS Healthcare: European Vaccine Manufacturers; persönliche Kommunikation; 2008.
4.
Blank PR, Schwenkglenks M, Szucs TD: Influenza vaccination coverage rates in five European countries during season 2006/07 and trends over six consecutive seasons. BMC Public Health. 2008; 8: 272. MEDLINE
5.
Rehmet S, Ammon A, Pfaff G, Bocter N, Petersen LR: Cross-sectional study on influenza vaccination, Germany, 1999–2000. Emerg Infect Dis. Dec 2002; 8: 1442–7. MEDLINE
6.
Wiese-Posselt M, Leitmeyer K, Hamouda O, et al.: Influenza vaccination coverage in adults belonging to defined target groups, Germany, 2003/2004. Vaccine. Mar 24 2006;24: 2560–6. MEDLINE
7.
Gulich M, Eberhardt S, Blankenhorn S, Zeitler H-P: Motivation zur Grippeimpfung bei hausärztlichen Patienten in der Saison 2005/2006. Z Allg Med 2006; 82: 334–7.
8.
Vertrag zur Hausarztzentrierten Versorgung in Baden-Württemberg Aufgerufen am: 10.10.2008. www.hausaerzteverband.de/ cms/ uploads/media/ 17-HzV_AOK_BW_Anhang_2_zu_Anlage_12_08-06-30.pdf
1. Buchholz U: Pressekonferenz der Arbeitsgemeinschaft Influenza am 10. September 2008. Unterlagen aufgerufen am 30. Oktober 2008. 2008. http://www.rki.de/cln_100/ nn_200120/DE/ Content/ InfAZ/I/Influenza/ PK__AGI__2008__Informationen.html
2. Holm MV, Blank PR, Szucs TD: Trends in influenza vaccination coverage rates in Germany over five seasons from 2001 to 2006. BMC Infect Dis. 2007; 7: 144. MEDLINE
3. TNS Healthcare: European Vaccine Manufacturers; persönliche Kommunikation; 2008.
4. Blank PR, Schwenkglenks M, Szucs TD: Influenza vaccination coverage rates in five European countries during season 2006/07 and trends over six consecutive seasons. BMC Public Health. 2008; 8: 272. MEDLINE
5. Rehmet S, Ammon A, Pfaff G, Bocter N, Petersen LR: Cross-sectional study on influenza vaccination, Germany, 1999–2000. Emerg Infect Dis. Dec 2002; 8: 1442–7. MEDLINE
6. Wiese-Posselt M, Leitmeyer K, Hamouda O, et al.: Influenza vaccination coverage in adults belonging to defined target groups, Germany, 2003/2004. Vaccine. Mar 24 2006;24: 2560–6. MEDLINE
7. Gulich M, Eberhardt S, Blankenhorn S, Zeitler H-P: Motivation zur Grippeimpfung bei hausärztlichen Patienten in der Saison 2005/2006. Z Allg Med 2006; 82: 334–7.
8. Vertrag zur Hausarztzentrierten Versorgung in Baden-Württemberg Aufgerufen am: 10.10.2008. www.hausaerzteverband.de/ cms/ uploads/media/ 17-HzV_AOK_BW_Anhang_2_zu_Anlage_12_08-06-30.pdf

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