THEMEN DER ZEIT
Soziale Psychiatrie: Die wilden Wendejahre sind vorbei


Das Plakatmotiv
(Ausschnitt) entstand
1989/90 als Gemeinschaftsarbeit
ehemaliger
Psychiatriepatienten
in „Rosis Zirkel“
im Kulturhaus
Arthur Hoffmann. Die
Künstlerin Rosi Haase
hatte seit Mitte
der 80er-Jahre unter
anderem auf einer
geschlossenen Station
in Leipzig-Dösen
mit Patienten gearbeitet.
Mit einem Hinweis auf die wildbewegte Jahrestagung 1993 hatte die Deutsche Gesellschaft für soziale Psychiatrie in diesem Jahr wiederum nach Leipzig gelockt. Tatsächlich hatte die Bürgerbewegung, die 1989/90 zur politischen Wende führte, auch die Psychiatrie erfasst. Patienten entließen sich selbst, organisierten sich, wurden im Neuen Forum aktiv und machten die Lage der Psychiatrie zur öffentlichen Angelegenheit. Leipzig war nicht nur ein Zentrum der politischen friedlichen Revolution, sondern auch dieses Aus- und Aufbruchs der Psychiatrie, kulminierend in einem Tag der Sozialpsychiatrie am 18. August 1990 auf dem Markt in Leipzig, ausgerichtet von Initiativgruppen Betroffener. 1993 mündete der Aufbruch mit dem Sächsischen Landespsychiatrieplan in geregelte Bahnen.
Immerhin hatten bis dahin die regionale Presse die klägliche Unterbringung der Patienten in den psychiatrischen Anstalten thematisiert und das Bundesgesundheitsministerium 1991 einen Bericht zur Lage der Psychiatrie in der ehemaligen DDR vorgelegt. Darin wurden – durchaus im Einklang mit der Bürgerbewegung – wohnortnahe Versorgung, betreutes Wohnen und die Auflösung der Großanstalten gefordert.
Einige wenige Initiativen haben in Leipzig bis heute überlebt, etwa das Wohnprojekt „Das Boot“ oder der Verein „Durchblick“, der unter anderem ein Psychiatriemuseum betreibt. Das erinnert derzeit in einer Ausstellung an die wilden Wendejahre. Einer der Initiatoren des Projekts „Das Boot“, der heute als Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut arbeitet, resümiert dort: „Ich glaube, die ‚Träume‘ der Wendezeit sind den Weg alles Irdischen gegangen, sie sind gestorben mit der zunehmenden Anpassung der Akteure an die Realität.“
1. die kritische Einstellung zu Neuroleptika, ein Thema, das auch beim Leipziger Aufbruch 1989/90 die Gemüter bewegte. Der Psychiater Dr. Volkmar Aderhold (Greifswald) verwies auf die vielfach noch unterschätzten Nebenwirkungen (metabolisches Syndrom, Diabetes, kardiovaskuläre Schäden). Außerdem stört überzeugte Vertreter der Sozialpsychiatrie an Neuroleptika, dass sie die Aktivierung der Patienten und deren Selbstbehauptung beeinträchtigen. Zu Neuroleptika will die Gesellschaft im Februar 2009 in Frankfurt am Main einen Kongress ausrichten, auch soll voraussichtlich im Juni 2009 in Berlin eine Politiker-Anhörung stattfinden.
Der Tag der Leipziger
Sozialpsychiatrie
fand am 18. August
1990 auf dem
Leipziger Markt statt.
Erstmals konnte sich
in der DDR die Psychiatrie
in der Öffentlichkeit
vorstellen.
Fotos: Sächsisches Psychiatriemuseum
Die Psychologin Prof. Dr. Beate Mitzscherlich (Leipzig) bedauerte, dass in der Psychatrie zu viel in Gebäude und Geräte und zu wenig in Personen investiert werde. Viele Einrichtungen seien auf Praktikanten angewiesen, um den Betrieb aufrechterhalten zu können. Die Kostenträger, so Mitzscherlich zugespitzt, gingen davon aus, dass die Einrichtungen am besten funktionierten, wenn die Patienten chronifiziert würden; richtig aber wäre es, zu belohnen, wenn die Patienten zur Gesundheit geführt würden.
Die Referentin erkannte aber auch an, dass sich Leipzig ein gut ausgebautes Netz psychiatrischer Versorgung leiste, in dem mehr als tausend Menschen arbeiteten. Keiner falle durch das Netz, so Mitzscherlich im Leipziger Stadtmagazin, auch nicht die schwierigsten Patienten, „die keiner mehr haben oder auch nur behandeln will“.
Norbert Jachertz
Soziale Psychiatrie
Die Deutsche Gesellschaft für soziale Psychiatrie (Zeltinger Straße 9, 50969 Köln) entstammt der 68er-Bewegung und wurde 1970 gegründet. 1992 kam die (ostdeutsche) Gesellschaft für kommunale Psychiatrie hinzu.
Die Gesellschaft zählt nach eigenen Angaben 2 300 Mitglieder, darunter Ärzte/Ärztinnen (16 Prozent), Psycholog(inn)en (10), Sozialarbeiter(innen) (17), Sozialpädagog(inn)en (14), Krankenpflegekräfte (12). Vorsitzender ist der Psychologe Friedrich Walburg (Stuttgart); dem Vorstand gehört, so Walburg, stets ein Psychiatrieerfahrener an. Bei der Leipziger Tagung registrierte der Veranstalter 250 Teilnehmer.
Weitere Informationen im Internet unter: www.psychiatrie.de
Hier ist auch eine aktuelle Auseinandersetzung zu Neuroleptika mit dem Arbeitskreis „Biologische Psychiatrie“ der Bundesdirektorenkonferenz psychiatrischer Krankenhäuser in Deutschland zu finden.
Psychiatrie in der Wende
Das Sächsische Psychiatriemuseum (Mainzer Straße 7, 04109 Leipzig), getragen von der Initiative Psychiatrie-Betroffener „Durchblick“, zeigt bis zum 15. Januar 2009 die Ausstellung „Psychiatrie in der Wende“. Thematisiert werden der Aufbruch 1989/90, aber auch frühe Reformansätze der DDR-Psychiatrie (Rodewischer Thesen 1963, „Leipziger Modell“).
Dokumentiert werden auch Vorwürfe des politischen Missbrauchs der Psychiatrie, so eine Artikelserie des „Stern“. Die Zeitschrift hatte 1990 das Krankenhaus für Psychiatrie in Waldheim (nicht zu verwechseln mit dem hier nicht betroffenen Krankenhaus der dortigen Justizvollzugsanstalt!) als Stasifolterklinik gekennzeichnet. Eine daraufhin eingesetzte Untersuchungskommission der Sächsischen Landesregierung hatte zwar, bis auf einen Fall, keinen Psychiatriemissbrauch feststellen können, wohl aber Übergriffe des Personals und Verfehlungen des ärztlichen Leiters. Die Klinik wurde 1991 geschlossen.
Informationen: www.psychiatriemuseum.de
Ausführlich zu Waldheim: Sonja Süß: Politisch mißbraucht? Psychiatrie und Staatssicherheit in der DDR. Berlin 1998
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