THEMEN DER ZEIT
Sterbekultur im Krankenhaus: Ein würdevoller Abschied


Angehörige und
Erkrankte können
die „Rückzugszimmer“
aufsuchen, die
mit Schlafsofa, Sessel,
Couchtisch und
Schrank eingerichtet
sind.
Es gab keinen Protest, als meine Großmutter 1980 wie selbstverständlich ihre letzten Lebenstage im Badezimmer eines Krankenhauses verbrachte. Bei meiner ersten Arztstelle Mitte der 80er-Jahre war es dann immerhin ein Einzelzimmer am Ende des Flurs, wo Menschen (trotz!) laufender Infusion starben – häufig als Ersatz für jedweden menschlichen Beistand. Immerhin wurde ein Morphinpräparat in hoher Dosierung eingesetzt, „damit der Betroffene nichts spürt“. Weder Krankenhausmitarbeiter noch Angehörige fühlten sich darüber hinaus zuständig.
Wie konnte es zu dieser beschämenden Fehlentwicklung in einem sich selbst als kulturell hochstehend und zivilisiert bezeichnenden Land mit einem „fortschrittlichen“ Gesundheitssystem kommen? Zum einen haben die millionenfachen Sterbe- und Todeserlebnisse im Zweiten Weltkrieg zu einem Trauma geführt, das ein Überleben nur mit durchgängiger Verdrängung dieser Erlebnisse (und aller aktuell Sterbenden) zuließ. Damit verbunden gingen traditionelle Rituale, die das Sterben und den Tod begreifbarer machen, verloren. Zum anderen hat sich dank medizinischer Entwicklungen mit zuverlässigen und nachhaltigen Behandlungserfolgen ein euphorisches Gefühl der Kontrolle über Krankheiten ausgebildet. Als „Nebenwirkung“ wurde der Tod als Versagen und Misserfolg gedeutet. Damit musste auch das Sterben als Vorstufe zum Tod kollektiv verdrängt werden. Hospiz und Palliativmedizin stellten die Vorstellung einer rational begründeten Beherrschbarkeit von Krankheit infrage.
Die Einrichtung
einzelner Zimmer
reicht für die Implementierung
einer
Sterbekultur im
Krankenhaus nicht
aus, sondern bildet
eine Basis für einen
respektvollen Umgang
mit Schwerstkranken.
Fotos: Marienstift Braunschweig
Die meisten Befragten in Deutschland legen ihren Wunschsterbeort nach Hause – gleichzeitig liegt die Wahrscheinlichkeit, in Deutschland in einem Krankenhaus zu sterben, bei über 50 Prozent. Die Hospiz- und Palliativversorgung verfolgt seit mehr als zwei Jahrzehnten mit teilweise großem Erfolg das Ziel, die Rahmenbedingungen für ein Sterben zu Hause zu verbessern. Trotz dieser erfolgreichen Flächenbewegung wird das Krankenhaus weiterhin ein häufiger Sterbeort in Deutschland bleiben. Die bisherige Betreuung von Sterbenden in Krankenhäusern ist meist noch von zufälligem Bemühen, Unkenntnis, Verdrängung und Zeitdruck gekennzeichnet. Selbst die in einigen Kliniken bereits eingerichteten Palliativstationen und -bereiche ziehen nicht zwangsläufig eine systematische Veränderung der Sterbekultur für alle Patienten der Häuser nach sich.
Der Beitrag gibt Erfahrungen wieder, die auf der Einrichtung eines integrierten Palliativbereichs im Klinikum Salzgitter seit 1994 (fünf Hospizzimmer auf vier Stationen) und auf der Etablierung eines Palliativzentrums im Marienstift Braunschweig seit 2005 (Angliederung einer 6-Betten-Palliativstation an eine Normalstation und je ein Palliativzimmer auf zwei weiteren Stationen) beruhen. Zunächst sollten würdevolle Räume eingerichtet werden. Wir haben uns für Einzelzimmer für die Betroffenen entschieden. Würde bezieht sich aber nicht nur auf die materielle Struktur, sondern vielmehr auf die Atmosphäre des Raums, die den Kranken in seiner letzten Lebensphase bedürfnisorientiert umhüllt. Jede (innere) Station hat mindestens ein Palliativzimmer erhalten. Damit soll eine durchgängige Umsetzung der Palliativversorgung verankert und gelebt werden. Die Raumausstattung dieser Palliativzimmer unterscheidet sich in einigen Aspekten von „normalen“ Krankenräumen, indem jeweils eine Bettcouch und ein bequemer Polstersessel mit Stehlampe hinzugefügt wurden. Die Krankenbetten und der Nachttisch sind zum Teil aus Holz gefertigt.
In die Palliativzimmer werden schwer kranke symptomatische Patienten mit einer begrenzten Lebenserwartung, Sterbende sowie Patienten mit Beschwerden zur Einstellung auf eine palliative Behandlung (zum Beispiel Tumorkranke in einem relativ stabilen Zustand) aufgenommen. Das Zimmer kann aber auch für Kranke genutzt werden, die eine intensive Betreuung durch Angehörige erfahren. Idealerweise sind sowohl Patienten als auch Angehörige über den Stand der Erkrankung aufgeklärt und über die Ziele der Hospizidee und Palliativmedizin informiert. Zumindest werden alle Betroffenen gefragt, ob sie mit der Verlegung in ein Einzelzimmer einverstanden sind.
Da sich sowohl die Erkrankten als auch die Angehörigen zeitweise zurückziehen möchten, wurde ein Aufenthaltsraum der Station umgestaltet. So ist ein sogenanntes Rückzugszimmer mit Schlafsofa, Sessel, Couchtisch und Schrank entstanden, das auch Angehörigengesprächen dient. Bereits die Einrichtung mit Bettcouch spricht eine ausdrückliche Einladung an die Familie zur Begleitung rund um die Uhr aus. Mahlzeiten werden unentgeltlich angeboten. Damit lehnt sich das Konzept an das „Rooming-in“ der Geburtshilfe und Pädiatrie an. Je nach Fähigkeiten werden die Angehörigen in Pflegemaßnahmen einbezogen. Nach Eintritt des Todes können sich Familie und Bekannte ohne zeitliche Begrenzung verabschieden.
Unerwartet Verstorbene aus einem Mehrbettzimmer oder der Intensivstation können in das sogenannte Abschiedszimmer verlegt werden, wo durch eine entsprechende Einrichtung mit Bildern, Pflanzen und dezenter Beleuchtung eine besinnliche Atmosphäre geschaffen wurde. Dort sind Abschiednehmen und Aussegnung möglich. Da der nicht vorhergesehene Tod in einem Mehrbettzimmer selten eintritt, dient das Abschiedszimmer auch als Besprechungszimmer. Diese Multifunktionalität entspricht wie auch bei den Palliativ- und Rückzugszimmern einer bewusst gewählten konzeptionellen Durchlässigkeit. Seelsorger leisten neben einem regelmäßigen Gesprächs- und Begleitangebot einen Bereitschaftsdienst. Jeder Angehörige eines im Krankenhaus Verstorbenen wird zu einem „nachgehenden“ Gespräch und außerdem zu einem gemeinsamen Abschiedsgottesdienst eingeladen. Hospizhelfer werden bei alleinstehenden Schwerkranken oder auf Wunsch beziehungsweise mit Einverständnis von Angehörigen in Kooperation mit dem örtlichen Hospizverein vermittelt. Ehrenamtliche übernehmen auch die Begleitung zu Hause nach der Entlassung, wobei das erste Kennenlernen idealerweise schon in der Klinik stattfindet. Palliativerfahrene Pflegende und Ärzte stehen mit ihren Kenntnissen für jeden Betroffenen auch außerhalb der Palliativstation beziehungsweise des Palliativzimmers zur Verfügung. Eine exklusive Insellösung soll verhindert werden. Als weiterer Nebeneffekt werden auch „normale“ Patienten nach den gleichen Regeln der Symptomenkontrolle behandelt. Menschen in ihrer geschwächten Lebensphase sind ganz besonders auf eine gute Kommunikation zwischen den ambulant-stationären Versorgungsstrukturen angewiesen. Neben einer Sozialarbeiterin und „Überleitungsschwester“ stehen die Mitglieder eines ambulanten Palliativpflegedienstes zur Seite, um Art und Ausmaß der weiteren Versorgung abzusprechen, vorzubereiten und je nach Bedarf zu übernehmen.
Die schwierigste Aufgabe bezieht sich auf die Haltungsänderung der Mitarbeiter. Mindestens ein Arzt oder eine Ärztin sowie ein Pfleger oder eine Pflegerin haben eine Zusatzausbildung mit dem Abschluss „Palliativmedizin“ beziehungsweise „palliative care“ absolviert. Die gemeinsame Vorbereitungsphase zum Thema Tod und Sterben aller Stationsmitglieder einschließlich Seelsorgerin umfasste neun Treffen a` 1,5 Stunden im monatlichen Abstand und ist inhaltlich an einen Kurs für Hospizhelfer angelehnt. Formal handelte es sich um Dienstbesprechungen mit verpflichtendem Charakter unter der Leitung beziehungsweise Moderation des palliativmedizinischen Arztes. Nach Abschluss der Vorbereitung finden regelmäßig und verpflichtend themenbezogene Stationsbesprechungen und Supervisionen statt. Die Reflexion im geschützten Kreis dient dem Lerneffekt und der emotionalen Stabilisierung.
Das Konzept kann bei der Entwicklung des Projekts „Sterbekultur im Krankenhaus“ Unterstützung bieten: Der entscheidende erste Schritt besteht in der Motivation und Initiative zu diesem Projekt, muss er doch alle gängigen Tabus durchbrechen. Außerdem benötigt man die Bereitschaft, sich organisatorisch und menschlich auf die Versorgung von Schwerkranken, Sterbenden und ihren Angehörigen vorzubereiten. Auch die Bereitstellung und Ausstattung von Räumen, Qualifizierungsmaßnahmen in der Palliativmedizin für einzelne Mitarbeiter sowie Begleitung der Mitarbeiter durch regelmäßige Besprechungen und Supervision sind erforderlich. Und schließlich ist Geduld angebracht, weil sich menschliche Haltung nur in einem längeren Prozess verändert.
Respektvolle und mitfühlende Kommunikation
Die Erfahrungen zeigen eine zunehmende Wahrnehmung für die Bedürfnisse von Schwerstkranken. Die Betroffenen wirken zufrieden. Angehörige sind häufig trotz Belastung und Abschiedsschmerz dankbar für die An- und Aufnahme. Die betreuenden Mitarbeiter berichten über eine höhere Arbeitszufriedenheit. Sterbende „erziehen“ zu einer allgemein respektvollen und mitfühlenden Kommunikation.
Ausblick: Die Einrichtung einer Palliativstation beziehungsweise einzelner Zimmer reicht für die Implementierung einer Sterbekultur im Krankenhaus nicht aus, sondern bildet eine Basis, von der aus die Versorgung aller Betroffenen organisiert werden muss. Die nachhaltige Reflexion über Möglichkeiten und Grenzen der Medizin auf das Leid eines jeden einzigartig betroffenen Menschen führt zu einer von Bescheidenheit und Demut geprägten Haltung.
Dr. med. Rainer Prönneke
Marienstift Braunschweig
Helmstedter Straße 35, 38102 Braunschweig
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