POLITIK
Gesetzliche Krankenversicherung: „2009 wird das Jahr der Buchhalter“
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Ganze 31 statt 24 Türchen: Die Techniker-Krankenkasse (TK) hat dieses Jahr besondere Adventskalender verschickt. So ließen sich die Tage bis zum Beginn des nächsten Jahres gut zählen, heißt es im Begleitschreiben. 2009 steht für die TK etwas Besonderes an: Dann gibt es sie seit 125 Jahren. Am 27. Oktober 1884 wurde sie in Leipzig als „Eingeschriebene Hilfskasse für Architekten, Ingenieure und Techniker Deutschlands“ gegründet.
Ein anderer Anlass für eine Feier als das Jubliäum ist derzeit nicht in Sicht. Die TK muss wie alle Krankenkassen die Neuerungen durch den Gesundheitsfonds und den morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA) verkraften. Weil sie viele gut verdienende Mitglieder versichert, zahlte die TK zuletzt fast vier Milliarden Euro in den Risikostrukturausgleich (RSA) ein. Dennoch blieb genug Geld für die eigenen Versicherten übrig. Der neue Morbi-RSA wird diese Einkommensvorteile aber noch weiter nivellieren (siehe Kasten).
Die TK zählt damit zu den Verlierern des neuen Systems. Unter dem Strich büßten die Ersatzkassen 2009 circa 500 Millionen Euro ein. Bei den Innungskrankenkassen beläuft sich das Minus auf rund 450 Millionen Euro, bei den Betriebskrankenkassen (BKK) gar auf etwa 1,1 Milliarden Euro. Nach den Berechnungen des Bundesversicherungsamts (BVA) sind die Allgemeinen Ortskrankenkassen (AOK) die Gewinner des Morbi-RSA: Zusammen bekommen alle AOKen im Land rund 2,4 Milliarden Euro an Beitragsgeldern aufgrund des neuen Ausgleichs. Dies ist eine direkte Folge davon, dass der Morbi-RSA die Ausgaben für kranke Versicherte zwischen den Kassen besser ausgleicht als bisher.
Gerüchte, die TK werde schon bald einen Zusatzbeitrag von ihren Versicherten erheben müssen, zerstreute ihr Vorstandsvorsitzender, Prof. Dr. Norbert Klusen, bei einer Euroforum-Veranstaltung Ende November in Berlin: Seine Kasse habe den neuen Morbi-RSA simuliert und sei nicht überrascht worden von den offiziellen Bescheiden des BVA.
Herbert Rebscher, DAK: 2010 wird die Prämie Normalität im Kassensystem sein. Foto: DAK
Fürs Jubiläumsjahr 2009 gab er eher düstere Prognosen ab. Es werde „kein Jahr der großen Versorgungsmodelle und der großen Innovationen sein“, prophezeite Klusen. Der Vorstandsvorsitzende der DAK, Prof. Dr. Herbert Rebscher, stimmte zu: „2009 wird das Jahr der Buchhalter, nicht das der Versorger.“ Die Kassen würden alles daransetzen, so wenig Geld wie möglich auszugeben. Dennoch wird diese Strategie aus seiner Sicht Grenzen haben: 2010 werde die Zusatzprämie wohl Normalität im Kassensystem werden, meinte Rebscher. Ralf Sjuts, Vorstandsvorsitzender der BKK FTE in Wolfsburg, prognostizierte, dass die Prämie bereits 2009 kommen werde. 60 Kassen wüssten schon jetzt, dass sie im nächsten Jahr mit den Zuweisungen aus dem Fonds nicht auskommen würden.
Dass das Geld knapp sein wird, befürchtet auch der Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Dr. med. Andreas Köhler. Er verwies darauf, dass sich die finanziellen Zukunftssorgen der Krankenkassen längst auswirkten: „Es ist Fakt, dass Versorgungsverträge flächendeckend gekündigt werden.“ Beispiele dafür seien die Onkologie- und die Sozialpsychiatrie-Vereinbarungen. Dafür gebe es über den März 2009 hinaus noch keine sichere Fortsetzung.
Köhler verwies zudem darauf, dass der Schätzerkreis für seine Ausgabenprognose 2009 keine Innovationskomponente eingebaut habe. Das heißt: Zusätzliches Geld für neue Leistungen ist nicht eingeplant, obwohl der Gemeinsame Bundesausschuss bereits die Einführung neuer Therapien in die ambulante Versorgung beschlossen hat, beispielsweise die Balneotherapie (Zusatzkosten: rund 58 Millionen Euro pro Jahr) oder PET-Diagnostik (Zusatzkosten: rund 280 Millionen Euro pro Jahr).
Was ihn weiter besorgt, sind Fehlanreize durch den neuen Morbi-RSA. Manche Diagnosen sieht er zu Unrecht nicht abgebildet, das heißt: Für die entsprechenden Kranken erhalten die Kassen zu wenig Geld. Andere Diagnosen verleiteten zu Fehlcodierungen, mutmaßte Köhler: Wenn ein Arzt beispielsweise eine Depression diagnostiziere und Medikamente verordne, würden dafür im Morbi-RSA rund 1 050 Euro angesetzt. Diagnostiziere er eine depressive Verstimmung und empfehle eine Psychotherapie, wären es 1 700 Euro. Dies verführe dazu, bestimmte Behandlungsansätze zu forcieren, warnte Köhler. Er ist überzeugt davon, dass Krankenkassen sich mit Ärzten abstimmen werden, um Patienten eine „wertvollere“ Diagnose stellen zu können.
Johannes Vöcking, Barmer sieht weder Grund zum Jammern noch zum Champagnertrinken. Foto: Barmer
An die Vorstandskollegen anderer Kassen appellierte er, ihre Kritik genauer abzuwägen: „Es ist fatal, 2009 zum Jahr der Buchhalter auszurufen.“ Vielmehr biete die Morbiditätsorientierung allen Kassen die Chance, passende Versorgungsprogramme für schwer Kranke aufzulegen, ohne dass man befürchten müsse, rote Zahlen zu schreiben. Vöcking geht zudem davon aus, dass sinnvolle Versorgungsverträge künftig mit neuen Elementen, etwa der leistungsorientierten Bezahlung der Ärzte, gekoppelt werden. Ausdrücklich wandte er sich dagegen, diese Verträge dafür zu nutzen, Ärzte für „richtiges Codieren“ der Patientenmorbidität finanziell zu belohnen.
Welche Strategien im Vertragsgeschäft 2009 verfolgt werden, ist also noch offen. Wie viel Geld es für krankenversicherte Männer und Frauen aus dem Fonds gibt, steht aber zumindest fest. Das Bundesversicherungsamt hat kürzlich mitgeteilt, dass den Kassen 2009 im Durchschnitt je Versicherten eine monatliche Grundpauschale von rund 185 Euro zusteht. Für ihre Verwaltungsausgaben erhalten sie zusätzlich rund 5,50 Euro monatlich, für den Verwaltungsaufwand im Rahmen der Chronikerprogramme außerdem 15 Euro im Monat.
Wer genau wissen möchte, welche Krankheit wie viel Euro an Zuschlag bringt, kann die Details auf der Homepage des BVA nachlesen. Dort sind die alters-, geschlechts- und risikoadjustierten Zu- und Abschläge je Versicherten aufgeführt. Danach reduziert sich die durchschnittliche Pauschale von 185 Euro bei eher gesunden Versicherten erheblich.
Einige Beispiele: Kassen erhalten künftig für versicherte Frauen zwischen 45 und 49 Jahren pro Monat 80 Euro, für Frauen zwischen 75 und 79 Jahren etwa 170 Euro. Erst für über 80-Jährige gibt es einen Zuschlag von fünf Euro auf die Pauschale von 185 Euro. Ähnlich sieht es bei den Männern aus. Erst für Männer im Alter zwischen 75 und 79 Jahren gibt es durchschnittlich 8,50 Euro mehr pro Monat, also rund 200 Euro Beitragsgelder aus dem Fonds.
Dazu kommen allerdings noch zahlreiche Morbiditätszuschläge: Für HIV/Aids-Patienten sind dies rund 880 Euro pro Monat, für Diabetes-mellitus-Typ-I-Kranke knapp 200 Euro, für Männer oder Frauen mit multipler Sklerose etwas mehr als 600 Euro. Die Zuschläge sollen keine laufenden Kosten der Behandlung abdecken, sondern Folgekosten im Jahr nach der Diagnose.
Insgesamt sollen im Jahr 2009 rund 166 Milliarden Euro im Fonds zur Verfügung stehen. Ein Plus von rund zehn Milliarden Euro hat die Mehrheit des zuständigen Schätzerkreises – unabhängig von der neuen Fondskonstruktion – für geboten gehalten, um alle zu erwartenden Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung finanzieren zu können. Die Kassen hatten sogar noch mehr Geld für nötig befunden. Denn sowohl die Honorarreform der Ärzte als auch die Forderungen der Krankenhäuser und Kostensteigerungen bei Arzneimitteln schlagen im nächsten Jahr zu Buche.
Doch das ist nicht der einzige Grund, warum viele Kassenchefs so zaudernd auf das neue Jahr blicken. Sie fürchten auch, mit Einnahmeausfällen angesichts der Finanzkrise konfrontiert zu werden, die sich über eine steigende Arbeitslosigkeit und damit rückläufige Beitragseinnahmen auf die Kassen auswirken könnten.
Zwar versucht das Bundesgesundheitsministerium hartnäckig, diese Sorgen zu zerstreuen, doch Fakt ist: Der Gesundheitsfonds wird 2009 noch nicht über eine Liquiditätsreserve verfügen. Die Beiträge erhöhen, wenn das Geld knapp wird, können die Kassen aber auch nicht mehr. Sollte es finanzielle Engpässe geben, müsste die Bundesregierung als Kreditgeber für den Fonds einspringen. Doch solche Darlehen müssen zurückgezahlt werden – wenn keine Liquiditätsreserve des Fonds vorhanden ist, von den Krankenkassen.
Samir Rabbata, Sabine Rieser
Der neue MORBI-RSA: Kranke gesucht
Mit der jüngsten Gesundheitsreform beschloss die Koalition, den Risikostrukturausgleich (RSA) der Kassen noch umfassender auszugestalten und die Morbidität der Versicherten darin zumindest teilweise zu berücksichtigen.
Bislang gleicht der RSA Unterschiede in der Versichertenstruktur wie Alter, Geschlecht und Einkommen aus. Beim neuen sogenannten Morbi-RSA entfällt der Ausgleich für die unterschiedlichen Einkommen der Versicherten. Dieser Finanzkraftausgleich ergibt sich automatisch, weil alle Kassen ja Versicherten eine identische Grundpauschale aus dem Fonds erhalten.
Allerdings werden nach der neuen RSA-Systematik Zu- und Abschläge auf diese Grundpauschale ermittelt. Neben Alter und Geschlecht hat auch die Morbidität Einfluss. Dafür hat das Bundesversicherungsamt eine Zuschlagsliste für 80 Krankheiten erarbeitet, die besonders kostenintensiv und für das Versorgungsgeschehen bedeutsam sein sollen. Ein Versicherter muss unter anderem mindestens zwei Diagnosen einer solchen Krankheit in mindestens zwei verschiedenen Quartalen eines Jahres aufweisen, damit seine Kasse zusätzliches Geld bekommt.
Ein Beispiel: Die Grundpauschale beträgt 185 Euro pro Monat. Für weibliche Versicherte zwischen 45 und 49 Jahren werden aber nur 80 Euro aus dem Fonds überwiesen. Hat eine Frau dieses Alters jedoch multiple Sklerose, bekommt die Kasse einen Zuschlag von mehr als 600 Euro pro Monat.