ArchivDÄ-TitelSupplement: PRAXiSSUPPLEMENT: PRAXiS 5/2008Design in der Arztpraxis: Mehr als extravagante Spielereien

SUPPLEMENT: PRAXiS

Design in der Arztpraxis: Mehr als extravagante Spielereien

Dtsch Arztebl 2008; 105(50): [22]

Bimmerlein, Julia; Reetz, David K.

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Medikationen und medizinische Werte können auch online besprochen werden; immer vorausgesetzt, die Ärztin kennt den Patienten.
Medikationen und medizinische Werte können auch online besprochen werden; immer vorausgesetzt, die Ärztin kennt den Patienten.
Gutes Design geht über die Gestaltung des Wartezimmerstuhls hinaus. Ziel muss es sein, die Praxis als Marke zu etablieren und so Patienten zu gewinnen und zu halten.

Design ist ein inflationär gebrauchter Begriff, zu dem es bei Google auf Deutsch rund 40-mal so viele Einträge gibt wie zum Begriff Medizin. Benutzt man das Wort Design im Zusammenhang mit einer Arztpraxis, weckt dies möglicherweise Assoziationen zu exklusiven Einrichtungsgegenständen oder extravagant entworfener Medizintechnik, kurzum zu durchwegs stimmig und modern gestalteten medizinischen Räumlichkeiten. Dem einen mag dies mehr, dem anderen weniger wichtig sein.

Doch die Disziplin hat sich entwickelt – vom individuell künstlerischen Formgestalter über das Dogma „form follows function“ zu einem heute stark nutzerorientiert arbeitenden Innovationsfachgebiet, das seinen ästhetischen Anspruch jedoch nicht verloren hat. In Zusammenarbeit mit anderen Experten werden nutzerorientierte Lösungen für Mensch-System-Schnittstellen erarbeitet. Ein Schwerpunkt liegt dabei im organisatorischen Bereich. Es geht nicht um experimentelle extravagante „Designerentwürfe“, sondern um methodisch und vom Nutzerbedürfnis ausgehende Entwicklungen. Diese sind auf ihren jeweiligen Kontext abgestimmt.

Die Arztpraxis ist ein System, in dem verschiedene Menschen agieren und unterschiedlichste Prozesse ablaufen. Deshalb entstehen dort zwischen dem System und seinen Nutzern ständig Schnittstellen, für die gute Lösungen gesucht werden müssen.

Die Liberalisierung des Gesundheitssystems nimmt stetig Fahrt auf. Rechtliche Rahmenbedingungen ändern sich fortlaufend und erhöhen einerseits die Eigenverantwortung der Patienten für ihre Gesundheit und schaffen andererseits Raum für neue Organisationsformen in der medizinischen Versorgung. Der aktuell vorherrschenden Unzufriedenheit mit der Versorgungssituation im Gesundheitswesen können innovative Lösungen in der Praxisorganisation entgegenwirken. Diese müssen Nutzerbedürfnisse berücksichtigen und damit sowohl den Ärzten und Praxisangestellten als auch den Patienten entgegenkommen. Eine Praxis, die es schafft, überraschende und funktionierende Serviceideen zu etablieren und nutzerzentrierte Lösungen zu entwickeln, fällt auf und stärkt ihr Profil. Durch diesen Innovationsvorsprung bleibt sie Patienten leicht im Gedächtnis. Da umfassende Designlösungen auf dem Gebiet der niedergelassenen Medizin bisher wenig verbreitet sind, können Pioniere in der Zusammenarbeit zwischen Medizin und Design die Patientenbindung stärken. Dies wird zunehmend wichtiger, wenn sich Arztpraxen mit den unterschiedlichsten Organisationsformen auf einem sich liberalisierenden Gesundheitsmarkt behaupten wollen.

Das Praxisprofil schärfen
Im Kontext der Zukunftsfähigkeit einer Praxis werden zusätzlich zur fachlichen Qualität auch die Schärfung des Praxisprofils und eine Markenbildung immer wichtiger. Hier kann jeder Arzt in dem für seine Organisation erforderlichen Umfang handeln.

Ob via SMS, per Mail oder Sprachnachricht, die Arztpraxis integriert neben einer effizienten Terminvergabe einen Informationsdienst für Terminverschiebungen.
Ob via SMS, per Mail oder Sprachnachricht, die Arztpraxis integriert neben einer effizienten Terminvergabe einen Informationsdienst für Terminverschiebungen.
Branchenübergreifend hat sich der Begriff Corporate Identity (CI) etabliert, die ein Unterscheidungsmerkmal zu konkurrierenden Unternehmen darstellt, indem sie das eigene Firmen-/ Markenbild durch ein einheitliches Erscheinungsbild prägt. Auch Arztpraxen, vor allem größere, haben bereits erkannt, wie wichtig es ist, mit einem Praxislogo und durchgängig darauf abgestimmten Drucksachen einen einheitlichen Auftritt zu erzeugen. Doch eine CI beschränkt sich nicht nur auf gut gestaltete Medien (print und digital). Diese sind lediglich ein kleinerer, wenn auch bedeutender und vor allem sofort sichtbarer Teil der gesamten Unternehmensidentität. Die CI setzt sich aus Corporate Design (CD) und Corporate Culture (CC) zusammen. Verkürzt dargestellt betrifft ihre Gestaltung, neben den erwähnten Medien, alle Produkte und Dienstleistungen, die Einrichtung und das Umfeld der Praxis sowie auch die individuelle Unternehmenskultur. Gestaltung und nutzerorientierte Organisation findet man daher auch in weniger sichtbaren und vielmehr spürbaren Bereichen der Praxis wieder, etwa in einem gezielten Serviceangebot des Unternehmens, der Ausbildung von Mitarbeitern oder den Umgangsformen der Praxisangestellten. Vor allem durch diese weniger offensichtlichen Merkmale lässt sich das Werteverständnis der Organisation gut vermitteln.

Eine selbsterklärende digitale Serviceplattform, die den Patienten einen einfachen und zeitsparenden Zugang zu medizinischem Wissen ermöglicht, vermittelt diesen, dass die Praxis ihre Bedürfnisse und Fragen als Nutzer sehr ernst nimmt und deshalb passende Dienste anbietet. Praxispersonal, das stets in sauberer Kleidung seinen Dienst verrichtet und im Bedarfsfall sofort Ersatztextilien zur Hand hat, zeigt den Patienten, welchen hohen Stellenwert Hygiene in der Praxis einnimmt. Dieses Verhalten lässt darüber hinaus auf ebenso verantwortungsvolles Handeln bei anderen Aufgaben in der Praxis schließen. Ärzte und Helferinnen, die stets freundlich alle auftretenden Fragen beantworten, können ein klarer Hinweis auf das Bemühen um Transparenz im Leistungsangebot der Praxis sein. Solche Aspekte des Praxisalltags sind sowohl Bestandteile des Corporate Designs als auch der Corporate Culture einer Praxis und können bei Patienten ein nachhaltiges positives Bild der Organisation erzeugen. Sie werden aber häufig als wichtige Bestandteile für den Entwurf einer CI zu wenig beachtet.

Design ist ein fortlaufender Prozess. Die Entscheidung, Design in eine Organisation mit einzubeziehen, ist eine langfristige. Ebenso wie sich eine Praxisorganisation, ihre Mitarbeiter und Leistungen weiterentwickeln, sind auch die CI und das Markenbild von diesem Prozess betroffen und einer stetigen Veränderung unterworfen. Die „erwünschte Wahrnehmung“ einer Praxis durch den Patienten muss wachsen. Daraus kann eine starke Bindung an die Praxis resultieren, weil der Patient weiß, welche Versorgung ihn hier erwartet.

Lösungen entwerfen
Die Zusammenarbeit mit zwei Allgemeinmedizinern ermöglichte ein Projekt, das sich mit dem Konzeptentwurf für eine deutschlandweit verbreitete allgemeinmedizinische Praxiskette beschäftigte. Dieser wurde im Hinblick auf Einrichtung, Vermarktung und Organisation erschlossen. Die entstandenen Teilentwürfe ordnen sich dabei einem allgemeinen Markenbild unter, das für das geplante Unternehmen entwickelt wurde. Die Service- und Konzeptgestaltung für diese neue Organisationsform in der niedergelassenen Medizin zeigt, dass gutes Design über die Gestaltung eines schönen Wartezimmerstuhls weit hinausgeht.

Mithilfe von farbigen Linien auf dem Boden werden die Patienten vom Eingang durch die Praxis über das Behandlungszimmer zum Ausgang geleitet.
Mithilfe von farbigen Linien auf dem Boden werden die Patienten vom Eingang durch die Praxis über das Behandlungszimmer zum Ausgang geleitet.
Nachfolgende Beispiele stellen einige Einzelentwürfe aus den drei Bereichen des Konzepts vor und illustrieren Lösungen, die eine Praxis als Marke langfristig etablieren und ihr dabei helfen, eine CI auszubilden.

- Wie Wirtschaftlichkeit und umfassende Patientenversorgung harmonieren
Effektive Praxisauslastung: Am Morgen zum Physiotherapeuten, nachmittags zur Krankengymnastik und abends den Vortrag eines Ernährungsexperten anhören. Ein umfassendes Angebot, das durch die Integration von zusätzlichen Gesundheitsdienstleistungen in einer „Filialpraxis“ entsteht. Es stellt den Patienten in den Vordergrund und ermöglicht eine wirtschaftliche Auslastung der Räumlichkeiten. Praxen werben auf diese Weise für sich und bieten ihren Patienten an einem Ort mehr Service. Der externe Versorger kann viele potenzielle Kunden ansprechen und benötigt keine eigene Praxis.

- Wie man den Hausarzt von morgen entdeckt
Attraktives Studentenprogramm: Ein abgeschlossenes Medizinstudium und dann die Frage: Welcher Arztberuf ist der richtige für mich, oder gehe ich doch in die Wirtschaft? Dem Berufsmodell „Hausarzt“ fehlt es an Attraktivität, dabei wächst der Bedarf – vor allem in ländlichen Gebieten. Die Praxiskette wirbt mit einem organisierten Praktikum an der Universität um junge Mediziner und bietet eine alternative Famulatur in der Klinik an. Als niedergelassener Mediziner ohne eigenen finanziellen Aufwand in den Job zu starten, wird einem angestellten Arzt der Kette ermöglicht und ist daher für Absolventen interessant. So sorgt das Studentenprogramm stets für qualifizierten Nachwuchs.

- Wie man direkt das Behandlungszimmer findet
Gezieltes Leitsystem: Vorwiegend ältere Patienten begleitet ein Gefühl von Unsicherheit, wenn sie im Wartezimmer gebeten werden, das Behandlungszimmer aufzusuchen und sich dann allein auf die Suche machen. Viele müssen schließlich doch die Hilfe der Arzthelferinnen in Anspruch nehmen, um ihr Ziel zu erreichen. Das Leitsystem „Hänsel und Gretel“ teilt den Praxisbesuch in drei Phasen und leitet den Patienten mithilfe von farbigen Linien auf dem Boden vom Eingang durch die Praxis über das Behandlungszimmer zum Ausgang. Auf den Linien geht der Nutzer wie auf Wegen, er lässt sich so intuitiv leiten und kann sich selbstständig orientieren.

- Wie Kommunikationstechnik eine familiengerechte Arbeitssituation schafft
Zeitgemäßes Berufsmodell: In vielen Berufen ist es heute selbstverständlich: das Arbeiten von zu Hause aus, ermöglicht durch die Nutzung des Internets. Die Ausübung des Hausarztberufs via World Wide Web wird im Kontext einer Praxiskette vorstellbar. Patienten könnten ihren Arzt kontaktieren, ohne in die Praxis zu gehen. Es ist möglich, Medikationen und medizinische Werte über das Web weltweit zu besprechen, immer vorausgesetzt, der „Onlinemediziner“ kennt den Patienten – eine zeitgemäße Lösung für verschiedenste Lebenskontexte bei Ärzten und Patienten.

- Wie Patienten, Praxen und andere Partner zusammenfinden
Digitale Dienste: Der Patient kommt zu seinem Termin in die Praxis und nimmt „noch mal kurz im Wartezimmer Platz“. Aus kurz wird meist länger, und in der Zeit hätte er eigentlich noch etwas erledigen können. Ob via SMS, per Mail oder Sprachnachricht, die Praxiskette integriert neben einer effizienten Terminvergabe einen Informationsdienst für Terminverschiebungen. Auch der Empfang und das Nutzen digitaler Rezepte per Handy sind für Patienten möglich. Diese nutzengekoppelten, werbefinanzierten Dienste werden von Patienten akzeptiert und erhöhen ihren Freiheitsgrad.

- Wie Akzeptanzprobleme überwunden werden können
Individuelle Patientenkarte: Das Schreckgespenst „gläserner Patient“ ruft bei vielen Bürgern eine ablehnende Haltung gegenüber der elektronischen Gesundheitskarte hervor. Aber die Karte wird kommen. Es ist wichtig, dem Patienten die Chancen und persönlichen Vorteile durch die Karte zu vermitteln sowie weitere Verwendungsmöglichkeiten zu entwickeln. Die Möglichkeit, die eigene Gesundheitskarte individuell zu gestalten, erhöht die Identifikation des Patienten mit ihr. Das Urlaubsfoto oder die Zeichnung als Motiv sind einzigartig wie die Daten, auf die mithilfe der Karte zugegriffen werden kann.

Die Herausforderungen eines sich liberalisierenden Gesundheitsmarkts betreffen jeden niedergelassenen Arzt individuell. Die Frage nach der besten Organisationsform und Ausrichtung der Praxis muss sich jeder stellen, der wettbewerbsfähig praktizieren möchte. Design ist in diesem Zusammenhang ein Baustein, der dabei hilft, eine Praxisorganisation zukunftsfähig zu gestalten und ihr Profil mit außergewöhnlichen Lösungen langfristig zu stärken. Dabei kann es keinen allgemeingültigen Idealweg aufzeigen, sondern muss seine Lösungen an den individuellen Kontexten und Bedürfnissen einer Organisation und der Menschen, die in ihr agieren, entwickeln.
Julia Bimmerlein, David K. Reetz*

*Die Autoren sind Studierende der Fachrichtung „Systemdesign“ an der Universität Kassel. Ihr Forschungsprojekt trägt den Titel „Die Praxisreform“.

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