ArchivDeutsches Ärzteblatt51-52/2008Gehörschutz für Musiker: „Man gibt ein Stück seiner Seele“

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Gehörschutz für Musiker: „Man gibt ein Stück seiner Seele“

Klinkhammer, Gisela

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LNSLNS Geräuschbelastungen sind nicht nur in der Rock- und Popmusik ein Problem. Auch klassische Orchester haben mit berufsbedingten Hörproblemen zu tun. Ein Erfahrungsbericht eines Posaunisten und einer Violinistin

Als das Gürzenich-Orchester Köln im vergangenen Jahr die siebte Sinfonie von Gustav Mahler spielte, saß Posaunist Karlheinz Gottfried zwischen den Bläsern und vor dem Schlagzeug. „Bei dieser Sinfonie müssen die Klarinetten extrem laut und hoch spielen. Das ist so, als würde Ihnen jemand mit einem scharfen Messer ins Ohr stechen“, berichtete der Musiker im Gespräch mit dem Deutschen Ärzteblatt. Rechts neben ihm erklangen die ebenfalls sehr lauten Hörner. Die Folge: „Nach der zweiten Aufführung war mein Ohr total zu.“ Bereits in den 90er-Jahren hatte Gottfried zwei Hörstürze erlitten, die jedoch wieder ausgeheilt waren. „Aber jetzt, beim dritten Hörsturz, hat das Ohr wohl gesagt, dass es ihm reicht.“

Zunächst sei er davon ausgegangen, dass er an einem von einer Erkältung verursachten Tubenkatarrh leide. Schließlich sei er dann nach einigen Tagen doch zum Arzt gegangen, der einen Hörsturz diagnostiziert habe. Die klassische Therapie mit Infusionen habe aber, so sein HNO-Arzt, nur eine „dezente Verbesserung“ gebracht. Der Tinnitus blieb bisher irreversibel. „Was mir hilft, sind die Ohrknochen, über die ich mein Posaunenspiel kontrollieren kann.“ Aber auch das Zielhörvermögen sei eingeschränkt: „Wenn alle durcheinanderreden, muss ich mich unheimlich konzentrieren.“ Und nach einer rund vierstündigen Aufführung von Richard Wagners „Lohengrin“ hätten sich beispielsweise der Pfeifton und das Rauschen verstärkt. Daher sind regelmäßige Ruhepausen unbedingt erforderlich, damit sich das Gehör regeneriert.

„Wer ein schweres Solo spielt, muss perfekt hören.“Karlheinz Gottfried, Posaunist
„Wer ein schweres Solo spielt, muss perfekt hören.“
Karlheinz Gottfried, Posaunist
Gottfried ist mit dieser Krankengeschichte kein Einzelfall. Der durchschnittliche Lärmpegel eines Musikers summiert sich durch Übungsstunden, Proben und Konzerte wöchentlich auf 85 bis 95 Dezibel, „und das entspricht durchaus der Belastung, die man an vielen Arbeitsplätzen in der Industrie findet“, erläuterte Georg Brockt von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin in Dortmund im Deutschlandradio. Deshalb bezieht die EU-Lärmschutzverordnung, die im Februar dieses Jahres in deutsches Recht umgesetzt wurde, auch den Musik- und Freizeitsektor ein.

„Natürlich ist die EU-Richtlinie primär für den industriellen Bereich und für die Produktion ausgelegt. Dementsprechend findet man hier auch Maßnahmen, die sich zunächst einmal auf den Lärmschutz an der Quelle beziehen, danach folgen Lärmschutzmaßnahmen auf dem Ausbreitungswege, also von der Quelle zum betroffenen Arbeitnehmer, und letztendlich dann beim Arbeitnehmer selbst, sprich Gehörschutz und Vorsorge“, sagt Brockt. Lärmschutz an der Quelle scheide allerdings aus. Wagneropern, die es auf bis zu 120 Dezibel bringen, könne man schließlich nicht einfach leiser spielen.

„Wir benötigen unser Gehör einfach 150-prozentig.“Elisabeth Polyzoides, Violinistin
„Wir benötigen unser Gehör einfach 150-prozentig.“
Elisabeth Polyzoides, Violinistin
Es bleibt der Gehörschutz. Doch sogar der birgt ein Problem: Wenn sich ein Musiker Watte in die Ohren stopft, klingt es nicht nur leise, sondern auch dumpf. Das bestätigte auch Gottfried: „Wer ein schweres Solo spielt, muss perfekt hören. Ohrstöpsel nehmen zwar die Spitzen weg, aber man kann sich nicht mehr kontrollieren, und die Klangfarbe kann man nicht mehr richtig wahrnehmen.“ Die Erste Violinistin Elisabeth Polyzoides kann dies nur bestätigen: „Ohrstöpsel beeinträchtigen einen.“ Sie und ihre Kollegen hätten schon diverse Formen ausprobiert und sogar selbst Gehörschutz aus Papiertaschentüchern und Watte gebastelt. „Aber wir benötigen unser Gehör einfach 150-prozentig“, so die Violinistin. Sie erläutert dies an einem Beispiel: „In der Oper spielen die Piccoloflöten oft ähnliche Frequenzen wie wir, das heißt dass ich mich einerseits vor ihnen schützen, andererseits aber auch die gleichen Frequenzen genau hören muss. Das ist ein Ding der Unmöglichkeit. Dann ziehen wir es doch vor, ohne Gehörschutz zu spielen.“

Schließlich seien auch nicht alle Musikstücke gleich laut, räumten die Musiker ein. Doch selbst in Mozarts „Zauberflöte“ gebe es Passagen, „da muss hochgefahren werden“, meinte Gottfried. Noch dynamischer sei es allerdings oft bei modernen Kompositionen. So hätte das Gürzenich-Orchester einmal ein Stück für Blechbläser von Oliver Messiaen gespielt. „Messiaen, damals um die 80 Jahre alt, war selbst anwesend. Er hörte nicht mehr gut, sodass ihm die Schlagzeuger immer zu leise spielten. Wir hatten schließlich alle Ohrstöpsel im Ohr.“

Bei Opern können außerdem „lautstarke“ Inszenierungen zu weiteren Hörproblemen führen. Polyzoides erinnerte sich an eine Auseinandersetzung wegen einer Schießerei auf der Bühne. „Die Schüsse waren unerträglich laut. Das war nicht nur eine momentane Lärmbelästigung, sondern das ging direkt auf die Psyche. Der Regisseur riet uns, uns mental darauf vorzubereiten, was aber nicht funktionierte. Die Geigen haben schließlich einfach aufgehört zu spielen.“ Bei einer Aufführung der Oper „Aus einem Totenhaus“ von Leos Janácek sei beispielsweise sogar mit Ketten gerasselt und auf Eisenbahnschienen mit Hämmern herumgehauen worden – eine unglaublich große Belastung für die im Orchestergraben unter der Bühne sitzenden Musiker.

Da Ohrstöpsel also nur bedingt tauglich sind, wurden auch Schallschutzschilde entwickelt, die zwischen den Musikerreihen aufgestellt werden können. Diese sind im oberen Teil um 45 Grad abgeknickt, sodass der Schall über den Kopf des davor sitzenden Musikers nach oben hinweggeleitet wird. Die Musiker halten die Schilde zwar für hilfreich, aber, so Polyzoides: „Man kommt dauernd mit dem Bogen dagegen, und außerdem fühlt man sich wie in einer Glocke. Je nach Sitzordnung sind wir dennoch froh, dass wir sie haben.“ Diese Stellwände hätten allerdings tatsächlich eher eine psychologische Wirkung, ergänzte auch der Orchesterdirektor des Gürzenich-Orchesters, Matthias Greß.

Dennoch gebe es Lösungen. Nach Ansicht von Greß müssten die Musiker bereits in der Ausbildung mit persönlichem Gehörschutz üben, da ihnen dann später die Umsetzung leichter falle. Wichtig seien auch Umbaumaßnahmen im Orchestergraben und auf der Konzertbühne. In Köln sei zurzeit der Operngraben viel zu klein für die Aufführung großer Werke. Mit der geplanten Sanierung des Kölner Operhauses bestünde allerdings die Chance, den Graben zu vergrößern und ihn so auszustatten, dass er akustisch bessere Verhältnisse biete. Außerdem müssten Akustikdämmplatten eingebaut werden.

Der Posaunist empfiehlt außerdem, das Wissen zu bündeln und den Austausch mit Kollegen zu pflegen. „Jeder sucht verzweifelt nach Hilfen, und das ganz allein.“ Viele Musiker hätten einfach Angst um ihren Arbeitsplatz. Er habe sich jedoch ganz bewusst dafür entschieden, offensiv mit seiner Hörbeeinträchtigung umzugehen, und ist inzwischen ein gefragter Ansprechpartner für zahlreiche Kollegen aus verschiedenen Orchestern. Er sei auch bisher bundesweit erst der zweite Musiker, der seinen Tinnitus als Arbeitsunfall gemeldet habe. Polyzoides kritisierte, dass in der Hochschulausbildung die Themen Fitness und Haltung nach wie vor vernachlässigt würden.

„Berufsmusiker zu sein, ist ein Handwerk, aber es ist eben auch ein künstlerischer Beruf“, sagte Gottfried. „Man gibt nicht nur Töne, sondern auch sehr viel von seiner Seele ab, wenn man musiziert.“ Und um Seele abgeben zu können, benötige man dringend regelmäßige Ruhezeiten. Dennoch, auch darin waren sich die Violinistin und der Posaunist einig, sei der Beruf des Musikers ein schöner Beruf. „Wenn man nach dem Konzert in der Straßenbahn sitzt und Menschen sieht, die Tränen in den Augen haben und von dem Konzert schwärmen, dann bekommt man auch unheimlich viel zurück“, betonte Gottfried.

Gisela Klinkhammer

Gürzenich-Orchester Köln
Die Wurzeln des Kölner Gürzenich-Orchesters reichen zurück bis zur Gründung der großen und kleinen Domkapelle im 15. Jahrhundert. Das Orchester hatte bis Ende des 18. Jahrhunderts in der Domstadt gleichermaßen die Kirchenmusik, das Konzertwesen und die Theatermusik zu versorgen. 1827 übernahm die „Cölner Concert-Gesellschaft“ unter dem Patronat betuchter und kunstengagierter Bürger die Trägerschaft. Sie organisierte die sogenannten Gesellschaftskonzerte beziehungsweise Abonnementskonzerte, die seit 1857 im Gürzenich, der Festhalle im Zentrum der Kölner Altstadt, stattfanden. Stets kamen führende Komponisten und Dirigenten zum Kölner Traditionsorchester, zum Beispiel Richard Wagner oder Giuseppe Verdi. 1986 wurde die neu eröffnete Kölner Philharmonie zum Stammsitz des Orchesters. Seit der Spielzeit 2003/2004 ist Markus Stenz Gürzenich-Kapellmeister. Im Oktober 2005 führten Stenz und das Gürzenich-Orchester „GO live!“ ein – alle Konzerte des Orchesters in der Kölner Philharmonie werden live mitgeschnitten und direkt im Anschluss als „Sofort-CD“ oder zum Abspeichern auf dem MP3-Player verkauft. Zahlreiche Einladungen führen das Kölner Traditionsorchester regelmäßig auf bedeutende internationale Konzertpodien, zum Beispiel nach Wien, Athen, Amsterdam und zuletzt zu den BBC Proms 2008 nach London. Das nächste Konzert mit Werken unter anderem von Richard Strauss und Henri Dutilleux findet am 11. Januar 2009 statt.
Weitere Informationen: www.guerzenich-orchester.de

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