

Einen kritischen Blick wirft die Autorin auch auf die emanzipatorischen Konnotationen der Eigenverantwortung. Mitnichten gehe es um eine Aufhebung des traditionellen Paternalismus im Gesundheitswesen, vielmehr sei der Eigenverantwortungsdiskurs gerade dessen zeitgemäße Form: Es geht darum, dass die Menschen wollen, was sie sollen. Nicht buttom up, sondern top down verlaufe die Zuschreibung der Eigenverantwortung.
Des Weiteren wird die These von der Prävention als Mittel der sozialen Distinktion diskutiert, eine These, die auf Bourdieus „feine Unterschiede“ zurückgeht. Dazu zieht Schmidt vor allem die Adipositasprävention und der Ernährungsratschläge heran. Die Erfolgreichen sind schlank und gesund, Dicksein zeigt die Zugehörigkeit zur sozialen Verlierergruppe an. Auch dies ist ein Punkt, der dem Appell zur Eigenverantwortung zuwiderläuft: Warum sollen die Ausgegrenzten Verantwortung für ein System übernehmen, das sie ausgrenzt?
Der Lösungsvorschlag der Autorin für dieses Dilemma ist erfreulich unprätentiös: Sie schlägt ein gestuftes Verantwortungskonzept vor, das sich daran orientiert, wer welche Lasten tragen kann. Dies systematisiert sie anhand von bioethischen Prinzipien: Die Zuschreibung von Verantwortung soll die Autonomie der Betroffenen respektieren, gerecht sein und nicht schaden. Das Buch ist unbedingt zu empfehlen. Es ist ausgesprochen anregend und vermittelt neue Perspektiven. Es verlangt allerdings, dass man gründlich liest. Es ist kein Buch für eine Nacht. Daher wird es seine Leser wohl vor allem in der Wissenschaft finden, der Politik ist so viel Eigenverantwortung bei der Überprüfung ihrer Denkschablonen vermutlich nicht zuzumuten. Joseph Kuhn
Bettina Schmidt: Eigenverantwortung haben immer die Anderen. Huber, Bern 2007, 230 Seiten, kartoniert, 24,95 Euro
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