MEDIZINREPORT
Evolution und Infektabwehr: Wettlauf der Gene


Foto: picture-alliance/maxppp
Bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts glaubten die meisten Forscher, die genetische Information stecke in irgendeiner Form in den Proteinen. Erst 1944 publiziert der kanadische Bakteriologe Oswald Th. Avery Ergebnisse seiner Experimente mit Pneumokokken, und diese belegen eindeutig: Die molekulare Basis der Vererbung ist ein von Proteinen unterschiedliches Biopolymer, und zwar die Desoxyribonukleinsäure (DNA). In den 50er- und 60er-Jahren werden räumliche Strukturen und molekularer Aufbau der DNA entschlüsselt, das Prinzip ihrer Verdoppelung, ohne die eine genetische Variation nicht möglich wäre, molekularbiologisch nachvollziehbar. „Nukleinsäuren stellen die einzige bekannte Klasse von Molekülen dar, die zur Evolution im Sinne Darwins befähigt sind“, sagt der Wiener Evolutionsforscher Prof. Dr. rer. nat. Peter Schuster gegenüber dem Deutschen Ärzteblatt.
In den 70er-Jahren folgen Evolutionsexperimente im Reagenzglas, darunter im Team von Prof. Dr. rer. nat. Sol Spiegelman (New York) und Prof. Dr. rer. nat. Manfred Eigen (Göttingen), mit dem Schuster zeitweise zusammengearbeitet hat. Eine von Eigens – experimentell bestätigten – Thesen hat das Verständnis der Resistenzentwicklung gegenüber Medikamenten und der Immunabwehr von Krankheitserregern erweitert. Pathogene Organismen wie Viren könnten als „Quasispezies“ existieren, postuliert Eigen. Die Erklärung: Genetische Information wird als Programm in der Bausteinfolge der Nukleinsäuren gespeichert und an die Nachkommen weitergegeben. Damit sich das Programm stabilisiert und erhalten kann, muss aus ihm ein Produkt entstehen, das auf das Programm selbst zurückwirkt. Ist das Programm gut, ermöglicht es eine hohe Reproduktionsrate und wird konserviert, ist es schlecht, wird es verdrängt.
Die Triebkräfte der Evolution – Amplifikation, Mutation und Selektion – sind also nicht an komplette Organismen gebunden, wie Darwin vermutete, nicht einmal an intakte Zellen, sondern an das Vorhandensein von Nukleinsäure, sofern die Laborbedingungen deren Verdoppelung ermöglichen. Selektiert wird dabei eine Verteilung von Programmen. „Das Programm produziert aufgrund von Fehlern bei der Vermehrung ständig Mutanten. Dieses Spektrum von Varianten ist die eigentliche Zielscheibe der Evolution und hat von uns den Namen Quasispezies erhalten“, erläuterte der Wissenschaftler, als er 1992 den Paul-Ehrlich-Preis für seine Evolutionsforschung erhielt. Quasispezies deshalb, weil der Selektionsdruck auf die Mutantenverteilung quasi wie auf den Wildtyp einer Spezies wirkt. Der Wildtyp ist nur der Schwerpunkt der Verteilung, ihm entspricht jener Teil der genetischen Information, in dem alle Varianten übereinstimmen, also der „Konsensussequenz“. Aber es gibt eine kritische Mutationsrate, eine Fehlerschwelle. Wird sie überschritten, entstehen also pro Verdoppelung zu viele Fehler, löst sich die für die optimale Reproduktion notwendige genetische Information auf.
Virus-Fluchtmutanten gegen passende Antikörper
Auch für das menschliche Immunschwächevirus HIV wird der Begriff Quasispezies angewandt. Eines der Erfolgsrezepte von HIV sei es, sich mit einer Mutationsrate knapp unterhalb der Fehlerschwelle zu vermehren, meint Eigen. Auf diese Weise blieben die Viren flexibel genug, um sich verändernden Umgebungsbedingungen wie einem Selektionsdruck durch antivirale Medikation anzupassen oder „Fluchtmutanten“ zu bilden, wenn passende Antikörper auftauchten. Denn wenn ein Pathogen ein Wirbeltier infiziert, beginnt ein Wettlauf zwischen Krankheitserreger und Wirt um die bestangepassten Gene. Das Immunsystem des Wirts produziert ein Spektrum von Antikörpern, wobei diejenigen B-Lymphozyten am stärksten zur Vermehrung und Immunglobulinbildung stimuliert werden, deren Antikörper am besten binden (klonale Selektion).
Die Zahl möglicher Variationen wird auf 260 Millionen geschätzt, eine Vielfalt, die sich nur durch die große Trickkiste genetischer Mechanismen (Rekombination, Nukleotidaddition, Genkonversion, Punktmutation) erklären lässt, aus der B-Lymphozyten schöpfen, wenn sich die Gene für die Bindungsstellen der Antikörper, die hypervariablen Regionen, arrangieren.
Zum Begriff der
Quasispezies: Im
Organismus eines
HIV-Infizierten findet
man eine breite Verteilung
von Viren
mit genetischen
Varianten und einer
gemeinsamen Konsensussequenz.
Foto:Gilead Sciences
Bei jenen, die lang (mehr als durchschnittlich zehn Jahre) ohne antiretrovirale Therapie und Aidssymptome leben, ist dagegen das Variationsspektrum der HIV-Quasispezies größer, was auf einen hohen Selektionsdruck durch das Immunsystem, vor allem in der frühen Phase der Infektion, zurückgeführt wird. Außerdem sind die Patienten häufiger mit replikationsschwachen oder genetisch defekten Viren infiziert, oder sie hatten Zeit, sich auf das Virus immunologisch einzustellen, weil entweder eine Infektion mit sehr geringen Virusmengen oder eine medikamentöse Therapie während der Primärinfektion erfolgte.
Viele Ansätze der HIV-Impfung (circa 50 verschiedene Kandidaten) machen konservierte Peptide – auf der genetischen Ebene entsprechen sie „Konsensussequenzen“ – zum Ziel der Immunisierung. So konnten mithilfe von Seren HIV-Langzeitüberlebender mehrere Epitope des HIV-Hüllproteins gp120 identifiziert werden, die beim Menschen offenbar eine Bildung neutralisierender Antikörper hervorgerufen hatten und – zumindest in Mäusen – immunogen wirkten. Bei den in klinischer Prüfung befindlichen Vakzinen soll meist eine Immunantwort gegen die konservierten Epitope mehrerer Proteine erzeugt werden, damit der Körper der Entwicklung von Mutanten des Virus einen Schritt voraus ist.
Eine andere, bislang allerdings theoretisch gebliebene Strategie, wäre genau der umgekehrte Weg: Statt Mutationen entgegenzuwirken, könnte mithilfe von Chemotherapeutika die Fehlerrate künstlich erhöht werden, um den Schwellenwert zu überschreiten, bei dem die genetische Information verloren geht (Hypermutation). Das würde eine Fehlerkatastrophe induzieren und das Virus schwächen. Allerdings würde man zwangsläufig auch Mutationen im Erbgut des Wirts, also des HIV-Infizierten, erzeugen und damit wahrscheinlich die Krebsentstehung fördern. Aus diesem Grund gilt der Ansatz als zu riskant.
Täglich eine Tablette als Bremse der Virusevolution
„Nachdem wir HIV wegen der zu erwartenden schweren Nebenwirkungen nicht durch Medikamente in die Hypermutation treiben können, können wir aus der Evolutionstheorie nur den folgenden Schluss ziehen: Die Therapie muss vermeiden, dass Mutanten entstehen. Sie muss also die Virenvermehrung absolut sicher unterdrücken“, sagt die Infektiologin und HIV-Expertin Prof. Dr. rer. nat. Helga Rübsamen-Schaeff (Wuppertal).
Man müsse Medikamente mit unterschiedlichen Wirkmechanismen kombinieren, sie möglichst in einer Tablette pro Tag anbieten und extrem gut verträglich machen. „Nur so wird ein Patient, der sich ja meist in jungen Jahren infiziert und das Virus lebenslang nicht mehr loswerden wird, es schaffen, den Viren und ihren Mutationen ein Leben lang keine Chance zu geben, indem er täglich seine Tablette nimmt.“
Dr. rer. nat. Nicola Siegmund-Schultze
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