POLITIK
Kinder- und Jugendpsychiatrie: Der Countdown läuft


Kündigungen
drohen den Mitarbeitern
sozialpsychiatrischer
Praxen zum 1. April
2009. Dann verlieren
allerdings viele
psychisch gestörte
Kinder und Jugendliche
ihre Ansprechpartner.
Foto: Superbild
Das Telefon in der Praxis von Dr. med. Jan Nedoschill steht nicht mehr still. Im Sommer des vergangenen Jahres kündigten der Verband der Ersatzkassen bundesweit für alle Ersatzkassen und eine große Anzahl regionaler Kassen die Sozialpsychiatrie-Vereinbarung (SPV) zum 31. Dezember 2008. Als Grund hierfür nannten sie ihre unsichere Finanzlage unter den neuen Bedingungen des Gesundheitsfonds. Danach erreichten den Facharzt für Psychiatrie zahlreiche Anrufe besorgter Eltern, Lehrer und Schulpsychologen sowie Jugendämter. „Alle waren bestürzt, fragten nach den Auswirkungen und bekundeten, dass sie auf die Zusammenarbeit mit mir angewiesen seien“, berichtet Nedoschill. „Noch schlimmer traf es aber meine Patienten.“ Viele Eltern hätten daher angeboten, die Behandlung ihres Kindes – notfalls über einen Kredit – lieber aus eigener Tasche zu bezahlen, als auf die Behandlung zu verzichten. „Es herrscht große Betroffenheit und Verstörung, und beinahe jeden Tag werde ich von Eltern gefragt, wie es denn nun weitergeht.“
Der bayerische Facharzt arbeitet wie etwa die Hälfte der niedergelassenen Kinder- und Jugendpsychiater und Psychotherapeuten mit einer sozialpsychiatrischen Praxisstruktur. Qualifizierte Mitarbeiter wie zum Beispiel Sozial- oder Heilpädagogen führen in diesem Modell unter der Leitung des dazu berechtigten Facharztes die nicht medizinischen Leistungen durch. „Damit wurde eine effiziente und kostengünstige Versorgung für psychisch gestörte Kinder und Jugendliche geschaffen – die auch inhaltlich gar nicht umstritten ist“, erklärt Dr. Maik Herberhold, Vorsitzender des Berufsverbandes für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie. Bei komplexen sozialpädiatrischen und psychiatrischen Behandlungsproblemen soll die ambulante ärztliche Betreuung als Alternative zur stationären Versorgung ermöglicht werden.
Ausgang der Verhandlungen ist ungewiss
„Mit Unterstützung des Bundesministeriums für Gesundheit konnte nach der Kündigung der SPV zunächst bis zum 31. März 2009 eine Übergangsvereinbarung gefunden werden“, berichtet Herberhold. Damit habe zunächst verhindert werden können, dass Mitarbeiter entlassen werden müssen – und dass etwa 200 000 Kinder und Jugendlichen ihre bisherigen Ansprechpartner verlieren.
Nun läuft der Countdown für diese gewachsenen sozialpsychiatrischen Strukturen allerdings erneut. Seit Anfang Februar verhandeln der GKV-Spitzenverband und die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) über die bundesweit einheitliche Fortführung der SPV. „Wir fordern eine Anschlussvereinbarung ab dem 1. April 2009“, sagt Dr. med. Andreas Köhler, Vorstandsvorsitzender der KBV. Der GKV-Spitzenverband besitze allerdings nur ein Mandat für eine „aktive Beitrittsregelung“, also einer Rahmenvereinbarung, welche erst durch den Beitritt von Kassen und KVen wirksam werde. Damit bestehe keine bindende Wirkung wie bei der Übergangsregelung für das erste Quartal 2009. Noch hofft die KBV dennoch auf einen Abschluss der Verhandlungen bis Mitte März.
Nedoschill hat vorerst Glück. Für ihn und seine Mitarbeiter hat sich die Situation etwas entspannt, da regional bereits Lösungen gefunden wurden – so auch in Bayern. „Der Fortbestand der sozialpsychiatrischen Praxen in anderen Bundesländern wie zum Beispiel Baden-Württemberg, Brandenburg und Niedersachsen ist allerdings weiterhin gefährdet. Da bisher keine Anschlussregelung gefunden wurde, müssen vorsorglich Kündigungen ausgesprochen werden“, so Herberhold. Und weiter: „Diese Form der Versorgungsstruktur ist nicht ersetzbar. Sozialpsychiatrie ist keine Wettbewerbsmedizin, sondern eine Basisversorgung und muss allen Kindern und Jugendlichen unabhängig von der Kasse zur Verfügung stehen.“ Sunna Gieseke
Neuschitzer, Walter
Sprinz, Andreas
Tamm, Dietrich