THEMEN DER ZEIT
Vietnam: Die stillen Opfer von Agent Orange


Ausgeschlossen.
Die vietnamesische
Regierung kümmert
sich kaum um
Menschen mit Behinderungen.
Innerhalb
der Gesellschaft
werden sie
stigmatisiert und
ausgegliedert.
Einen Moment lang blickt Xuyen auf, dann wendet er seinen Kopf wieder ab. Er bewegt ihn einige Zentimeter zu weit nach rechts, scheint es. Dabei zuckt sein rechter Arm, seine Pupillen drehen sich wild im Kreis. Xuyen sei nervös, erklärt Elisabeth Dabrowski, schließlich kämen nicht täglich Besucher hierher. Die Physiotherapeutin streichelt dem vietnamesischen Jungen liebevoll über den Kopf, sie sagt, er habe sich hier gut entwickelt. Sie sagt auch, Xuyen nehme mehr wahr, als auf Anhieb zu erkennen sei. Xuyen ist eigentlich kein Junge mehr, er ist 28 Jahre alt. Er wurde an diesen Ort – in das Dorf der Freundschaft – gebracht, weil er zu den geschätzten 300 000 Kindern in Vietnam zählt, die Opfer des dioxinhaltigen Entlaubungsmittels Agent Orange sind. Es sind unschuldige Kinder, die mit körperlichen Missbildungen und geistigen Behinderungen zur Welt gekommen sind. Viele Jahre nach dem Ende des Vietnamkriegs.
Das Dorf der Freundschaft
hilft rund 120 behinderten Kindern
auch medizinisch-therapeutisch.
Foto: Martina Merten
Vor und nach dem Einsatz von Agent Orange –
Die Aufnahme zeigt Waldgebiete rund 90 Kilometer
von Saigon im Jahr 1965 (oben) und fünf Jahre später.
Nur ganz wenige Bäume überlebten.
Fotos: ap
Die 120 Kinder, die Dr. Do Thi Binh regelmäßig hierher bringt, haben dennoch großes Glück. Denn in den zwei bis drei Jahren, die sie hier verbringen dürfen, erhalten sie gutes Essen und werden ärztlich versorgt. Zweimal jährlich kommen Orthopäden und Chirurgen aus der Schweiz ins Freundschaftsdorf, um die Kinder kostenfrei zu behandeln. Darüber hinaus lernen sie, wie man Seidenblumen herstellt, auch Nähen und Sticken bringen ihnen die Mitarbeiter im Dorf bei. Außerdem können sie neuerdings lernen, am Computer zu arbeiten. Dabrowski, die Physiotherapeutin, bietet jeden Vormittag Krankengymnastik und Yogaübungen für die Kinder an. Zudem hat sie auch die lokalen Physiotherapeuten fortbilden können. Manchmal, gesteht Dabrowski ein, gehe ihr zwar vieles zu langsam, es bestünden Sprachbarrieren und unterschiedliche Vorstellungen von Arbeitsmoral. Dennoch, so glaubt Mizo, nähmen die Kinder einiges mit nach Hause. „Und wenn es nur Kleinigkeiten wie eigenständiges Waschen, Anziehen und Essen sind.“
Während Xuyen über den Innenhof des Geländes läuft, ziehen zwei alte Männer an ihm vorbei. Die Köpfe sind leicht nach vorn gebeugt, die Rücken krumm. Als Dabrowski die beiden Männer auf vietnamesisch grüßt, grüßen sie höflich zurück. Hoang Dinh In, so der Name des einen, läuft gerade zum Essenssaal. Das Mittagessen ist ein heiliges Ritual. Später, nach dem Essen, sitzt der ehemalige Kriegsveteran mit einer Zeitung auf einer einfachen Liege in einem Zimmer. Das Zimmer teilt er sich mit drei weiteren Männern. Sie dürfen ebenfalls eine Zeitlang – wenngleich nicht so lang wie die Kinder – im Dorf der Freundschaft verbringen. Auch sie dürfen sich hier erholen und werden ärztlich versorgt. Das ist wichtig, denn sie alle leiden unter Schmerzen. Mal der Kopf, mal der Rücken, mal die Gliedmaßen, berichtet In, fühlten sich zeitweise taub an. Mit diesen Schmerzen, scheint es, haben sie jedoch gelernt zu leben. Die Männer machen keinen unglücklichen Eindruck. Schön sei es, sagen sie zum Abschied, dass das Essen im Dorf gut schmecke. Und auch die Luft hier tue ihnen gut.
Martina Merten
Rezai, M.
Pozza, Robert Dalla; Netz, Heinrich
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