KULTUR
Tellkamps Turm: Vom Herunterspielen der großen Gefühle
DÄ plus


Wie autobiografisch
schreibt
Uwe Tellkamp?
Dazu das Interview
vorne im Heft
Foto: Eberhard Hahne
Es soll inzwischen Touristen geben, die mit dem „Turm“ in der Hand den „Weißen Hirsch“ in Dresden durchstreifen, um die Orte der Handlung von Uwe Tellkamps Roman kennenzulernen. Sie werden die eine oder andere Straße oder Villa identifizieren. Doch den Roman werden sie so nicht begreifen.
Sehr deutsch mutet Tellkamps mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnetes Epos an: gedankenreich, ernsthaft, auf sympathische Weise umständlich. Das 1 000-Seiten-Werk zeugt vom langen Atem wie vom Bildungsspektrum des Autors, und die deutsche Sprache beherrscht er derart, dass ihm sogar eigene Wortbildungen überzeugend gelingen. Den Leser versetzt Tellkamp in eine eigene Welt, versponnen, fast verschroben, wie längst vergangen – obwohl sie doch erst jüngst vergangen ist, die letzte Periode der DDR nämlich, in der die Handlung spielt.
Handlung? Nicht im üblichen Sinne. Es gibt keinen dramatisch aufgebauten Spannungsbogen, selbst der rote Faden wird über all den Familiengeschichten und eingestreuten kurzweiligen Geschichtchen gelegentlich dünn. Dennoch lässt das Buch den Leser, wenn er sich erst einmal darauf eingelassen und die ersten 100 Seiten überwunden hat, nicht mehr los. Er versinkt in dieser anderen Welt.
Uwe Tellkamp:
„Der Turm“,
Roman, Suhrkamp,
2008, 976 Seiten,
24,80 Euro
Die Türmer bleiben nicht ständig im Turm, sondern gehen draußen ihren Berufen nach – Kontinent zwei. Richard zum Beispiel, eine der Hauptfiguren, ist Oberarzt in der Orthopädie und kämpft mit dem Materialmangel und um seine Karriere. Onkel Meno arbeitet in einem ambitionierten Verlag und kämpft mit Zensur und um Papierzuteilungen. Meno wie Richard gewähren damit tiefe Einblicke in einen von Knappheit, Bürokratie und einer allgegenwärtigen Überwachung geprägten Berufsalltag. Der schwappt auch ins Private hinein, so, wenn Richard von der Staatssicherheit erpresst wird und sich nicht anders zu helfen weiß, als sich der Familie zu offenbaren.
Kontinent drei, die Nationale Volksarmee, kontrastiert völlig mit den Villen am Elbhang und ihren kultivierten Bewohnern. In das Leben der Schikanen und der brutalen Strafen gerät Richards Sohn Christian, der eigentlich Medizin studieren will, sich zuvor aber beim Militär bewähren muss. Über Christian lernt der Leser neben der Dresdener Exklave das harte Leben in Manöverdreck, Braunkohletagebau und Chemieindustrie bis ins Detail kennen.
Christians überlanger Militärdienst endet, als es mit der DDR und damit auch mit deren Armee zu Ende geht. Im Nachhinein scheint der Dienst somit sinnlos gewesen zu sein. Für Christian nicht. Nach seinen Bewährungseinsätzen in der Arbeitswelt ist er endgültig aus dem „Turm“ heraus.
Das widerfährt am Ende der DDR und des Romans auch den lange in sich zurückgezogenen Türmern selbst. Sie waren „wie Kinder, die aufgestanden sind und laufen lernen“, beschreibt Tellkamp den Umschwung von 1989. „Sie hatten die Köpfe erhoben, noch beklommen atmend, doch schon voller Stolz, dass es möglich war, dieses Geradeaus, dass sie aufrecht gingen.“
Da kamen sie schließlich doch, die großen Gefühle.
Norbert Jachertz
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Payk, Theo R.
Eckhardt, B.
Seifert, Bodo
Steiner, Edgar R.
Burgkhardt, Michael
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