SUPPLEMENT: Reisemagazin
Venedig: Stadt ohne Geräusche
Dtsch Arztebl 2009; 106(14): [16]


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Für das Buch ist es die zweite Reise. Mindestens. 1926 war es das erste Mal hier, denn zwischen den Seiten 48 und 49 liegt noch immer die Rechnung eines Hotels, das es längst nicht mehr gibt – gefaltet und offenbar als Lesezeichen genutzt. 150 Lire haben die sechs Übernachtungen damals gekostet – 1926, dem Erscheinungsjahr dieses Buchs. Das entspräche heute knapp einem Euro. Ob der Besitzer dieses Reiseführers danach je wieder nach Venedig gereist ist? Mit diesem Buch? Die Antworten darauf sind in den Zeiten verloren gegangen. Aber jener „Grieben Reiseführer Band 106 Venezia – Venedig und Umgebung“ in der neunten Auflage von 1926 hat alles überstanden, was seitdem mit der Welt geschah, und war zwischenzeitlich in einem Antiquariat gelandet: ein wenig vergilbt, aber in bestem Zustand. Jetzt ist das Buch wieder mit an die Adria gereist – und in vielem immer noch erstaunlich aktuell.
Der Markusplatz bietet zu jeder Zeit ein reiches, von Menschen aus allen Weltteilen belebtes Bild, wurde der Leser schon 1926 aufgeklärt. Und seinerzeit ebenso wie heute waren unter den vielen Reisenden nicht nur ehrliche Zeitgenossen: Geld und Wertsachen sollten auch dem bestverschlossenen Koffer niemals anvertraut werden. Waffentragen wird mit Gefängnis bestraft. Auch Stockdegen, Dolche und größere Messer sind verboten.
Jetzt ist das Buch wieder mit an die Adria gereist – und in vielem immer noch erstaunlich aktuell. Foto: Helge Sobik
Jeder Kutscher und Führer erwartet außer dem vereinbarten Preis noch ein kleines Trinkgeld. Heute erwarten sogar manche antike Statuen eine Spende. Erst auf den zweiten Blick fällt auf, dass sie trotz größter Sorgfalt gelegentlich blinzeln und zucken. Es sind junge Leute, die sich mit mattem Weiß angemalt haben, als Jupiter mit Lorbeer-Dekoration im Haar posieren, auf selbst gebauten Holzpodesten vor prächtigen Portalen nahezu reglos herumstehen und für Schreck, Überraschung oder bloßes Vorhandensein auf ein Trinkgeld spekulieren. Die Geschäftsidee ist deutlich jünger als der Grieben, der obendrein Top-Ten-Listen und Insider-Tipps heutiger Reiseführerreihen noch nicht kannte. Stattdessen zählten Sachaussagen:
Venedig ist die Stadt ohne Hast, die Stadt ohne Geräusche, die Stadt der lautlos schwebenden Gondeln, der gelassen schreitenden Frauen. Nervenleidenden bietet ein Aufenthalt in Venedig Erholung wegen des fehlenden Straßenlärms und der erfrischenden Luft. Laut ist es inzwischen geworden – aber die Luft ist immer noch gut. Der leichte Seewind sorgt dafür.
Um die 170 000 Einwohner hatte das historische Zentrum 1926 – etwa 60 000 sind es heute. Viele sind über die Jahrzehnte den Überschwemmungen gewichen, den Instandhaltungskosten, den Umständlichkeiten des Alltags in einer Stadt aus Kanälen und Brücken – und den Tagestouristen. Dabei bot die Lage am Wasser einst größere Nachteile als heute: Schutzmaßregeln gegen Moskitos – man nehme während der Sommermonate unbedingt nur Zimmer mit Musselinvorhängen um die Betten.
Wenn es dämmert und der Mond über den bröckelnden Fassaden der Palazzi und dem düsteren Wasser der Kanäle emporklettert, leeren sich die Gassen, und die Stadt holt Atem. Foto: mauritius images
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Nicht nur das Bild Venedigs, das traumhaft aus den Wassern steigt, ist einzig in der Welt. Einzig ist das Fluidum seiner Atmosphäre, das Leuchten seiner Farben. Im Dämmerlicht, im Mondschein wird die Stadt zum Märchen. Denn wenn es dämmert und der Mond über den bröckelnden Fassaden der Palazzi und dem düsteren Wasser der Kanäle emporklettert, leeren sich die Gassen, und die Stadt holt Atem. Es bleiben die, die sich eines der teuren Zimmer leisten. Die Nacht in Venedig ist die Investition wert, weil tatsächlich der Zauber zurückkehrt – aus der Zeit von 1926. Und weit davor. Helge Sobik
Informationen: Übernachtung in einfacheren Altstadthotels ab 30 Euro, zum Beispiel bei Dertour (www.dertour.de), im vornehmen „Cipriani“ ab 640 Euro pro Doppelzimmer (www.orient-express.com).
Weitere Informationen: Italienische Zentrale für Tourismus, Kaiserstraße 65, 60329 Frankfurt am Main, Telefon: 0 69/23 74 34, Internet: www.enit.de.
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