ArchivDeutsches Ärzteblatt PP4/2009Otto Rank: Vom Trauma der Geburt

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Otto Rank: Vom Trauma der Geburt

Goddemeier, Christof

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LNSLNS Vor 125 Jahren wurde der Psychoanalytiker Otto Rank geboren.

O tto Rank steht in der Geschichte der Psychoanalyse an herausragender Stelle. Mehr als 20 Jahre gehörte er in leitender Funktion zum engsten Kreis um Sigmund Freud. Als „Neopsychoanalytiker“ gelangte er zu einer „Psychologie der zwischenmenschlichen Beziehungen“ und räumte dem Ich gegenüber dem Es eine gewisse Eigenständigkeit ein. Wie die Neo-psychoanalytiker nach ihm kritisierte er Freuds Triebbegriff und das Konstrukt der Libido, das ihm zugrunde liegt. Als einer der ersten erweiterte er den freudschen Ansatz um philosophische Fragestellungen. Indem er das schöpferische Element menschlicher Existenz betonte, war Rank ein Vorläufer der „humanistischen Psychologie“.

„Ich wurde am 22. April 1884 in Wien, vollständig behaart, als drittes Kind schwacher, jedoch ziemlich gesunder Eltern geboren“, schreibt Otto Rosenfeld in sein Tagebuch. Der Name Rank ist zunächst schriftstellerisches Pseudonym, ab 1919 legaler Nachname. Dem Wunsch der Eltern gemäß besucht Otto die Gewerbeschule und lässt sich in Maschinenbau ausbilden. „So wuchs ich auf, mir selbst überlassen, ohne Erziehung, ohne Freunde, ohne Bücher“, schreibt er.

Doch früh sieht er sich als „künstlerischen Menschen“ – mit 15 Jahren entdeckt er die Kultur, liest viel und besucht Konzerte und Theatervorstellungen. 1905 begegnet er Sigmund Freud zum ersten Mal. Der schätzt Ranks Schrift über den Künstler und rät ihm, die Universität zu besuchen und sich den nicht ärztlichen Anwendungen der Psychoanalyse zu widmen: „Der kleine Verein erwarb so einen eifrigen und verlässlichen Sekretär, und ich gewann an Otto Rank den treuesten Helfer und Mitarbeiter.“

1912 trifft Rank Freuds Lieblingsschüler Sándor Ferenczi. Aus einem kollegialen Verhältnis entwickelt sich eine Freundschaft, die nicht zuletzt in ähnlicher Denkweise wurzelt. Ähnlich wie der elf Jahre ältere Ferenczi richtet Rank seine Aufmerksamkeit auf die konkrete analytische Situation und nimmt die Analytiker-Analysand-Beziehung in den Blick. Ihm zufolge ist die Psychoanalyse ein „individuell bestimmter, zeitlich begrenzter Vorgang innerhalb der Libido- und Ichentwicklung des Patienten“. Mit seiner „aktiven Technik“ will Ferenczi die sich oft über Jahre erstreckenden psychoanalytischen Behandlungen verbessern und verkürzen. Auch Rank strebt eine Verkürzung der Behandlung an. Er setzt Behandlungstermine – so muss der Analysand sich von Anfang an darauf einstellen, seine Probleme innerhalb einer bestimmten Zeit zu klären. 1924 veröffentlichen Rank und Ferenczi ihr Buch „Entwicklungsziele der Psychoanalyse“. Zwar knüpfen sie damit an Freuds Arbeit „Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten“ an, doch wo Freud vor allem auf das Erinnern abstellt und die Wiederholung als Zeichen von Widerstand ansieht, sehen Rank und Ferenczi gerade in der Reproduktion beziehungsweise im Wiederholungszwang jenes Material, das nicht einfach erinnert werden kann. Denn Reproduktionen sind entstellte Mitteilungen des Unbewussten, die zunächst unverständlich sind. Dabei bildet den Schwerpunkt der Behandlung nicht die Klärung der Vergangenheit des Patienten, sondern die Probleme neurotischer Menschen liegen Rank und Ferenczi zufolge in ihrer Gegenwart. Im Widerstand wehrt das Ich sich gegen die Reproduktionen und gegen die Interpretation des Widerstands.

Laut Rank liegt das Seelische jedem menschlichen Leben zugrunde. Er versteht darunter einen „dynamischen Dualismus“ – die Spannung zwischen Gegensätzlichem zieht sich durch sein ganzes Werk: Männliches und Weibliches, Vererbung und Umwelt, Rationalität und Irrationalität, Konstruktion und Destruktion. Folgerichtig gibt es weder die Psychoanalyse noch die Psychologie, sondern nur deren widersprüchliche Vielfalt. Diese Feststellung bildet den Kern von Ranks „psychologischer Relativitätstheorie“, die er im Übrigen auch auf sich selbst angewendet wissen will.

In den Augen Freuds neigt der unsystematisch-sprühende Rank bisweilen zu einseitiger und voreilig generalisierender Arbeits- und Denkweise. Freud führt das darauf zurück, dass Rank nicht naturwissenschaftlich-medizinisch ausgebildet ist. Dennoch denkt er hinsichtlich einer Nachfolge noch 1922 – Alfred Adler, Carl Gustav Jung und Wilhelm Stekel haben sich bereits von der analytischen Bewegung getrennt – zuerst an Rank: Er vereinige in idealer Weise die Genauigkeit und Klarheit Karl Abrahams mit Ferenczis Begabung und Ernest Jones’ unermüdlicher Feder. Doch in seinem Buch „Das Trauma der Geburt“ (1924) weicht auch Rank von der offiziellen Lehre ab.

Beim Versuch, Seelisches aus seinen Ursprüngen zu erklären, finden Psychoanalytiker seelische Traumatisierungen bereits in den ersten beiden Lebensjahren. Sind noch frühere seelische Verletzungen denkbar? Rank zufolge wird der Mensch entscheidend durch seine Geburt geprägt. Dabei komme es durch Luftnot und den Austritt aus dem warmen Mutterleib zu schweren Angstgefühlen, die sich im späteren Leben bei Trennungen aus einer schützenden Umgebung wiederholen. Damit bestimmen Angst und die Möglichkeiten ihrer Bewältigung wesentlich das Leben jedes Menschen.

Freud selbst hatte schon früh über „Geburtstraumatisierungen“ nachgedacht. Deshalb ist er zunächst bereit, den Neuerungen Ranks mit einigen Vorbehalten zu folgen. Noch die ersten Bände von „Technik der Psychoanalyse“ (1926) und „Grundzüge einer genetischen Psychologie“ (1927) arbeiten im Wesentlichen mit den Prämissen Freuds. Doch im zweiten Band der „Technik“ und in „Wahrheit und Wirklichkeit. Entwurf einer Philosophie des Seelischen“ (beide 1929) vertritt Rank eine Philosophie des menschlichen Willens und seiner Kreativität sowie die Notwendigkeit von Illusionen. Damit verlässt er den Bereich psychoanalytischer Theorie und geht endgültig seinen eigenen Weg.

Nach Rank lassen psychoanalytische Behandlungsmethoden nicht erkennen, worin ihr „therapeutisches Medikament“ besteht, was also zur Heilung führt. Die Annahme, das bloße Finden des „Fehlers im Entwicklungsgang“ habe bereits therapeutische Folgen, hält er für einen Irrtum. Was in der therapeutischen Situation und in jeder zwischenmenschlichen Beziehung wirkt und weiterführt, ist ihm zufolge der Wille: „Die Macht des Willens ist so groß und seine Äußerungen im Individuum wie in der Menschheit so offenkundig, dass man Bände und Bibliotheken mit der Schilderung menschlicher Willensakte (. . .) füllen könnte (. . .).“ An der Psychoanalyse kritisiert Rank, dass sie den Menschen nicht bloß gesund, sondern auch ,gut‘ machen wolle: „(. . .) das ,Schlechte‘, das Erzübel ist der Wille, gleichgültig, ob man ihn wie Freud biologisch als Sexualtrieb (Libido) oder wie Adler soziologisch als Herrschsucht oder pädagogisch als Trotz interpretiert.“ Der Hilfesuchende leidet nur scheinbar an einer Willensschwäche. Tatsächlich hat er einen starken Willen, den er aber durch Verleugnen, Rationalisieren, Projizieren brechen muss, weil er ihn nicht verwirklichen kann. Wo Freud das „Normale“ zum Maßstab nimmt, orientiert Rank sich am Künstler. Der rebelliert gegen die Mittelmäßigkeit, bejaht seinen Eigenwillen und schafft sich eine eigene Welt. Wenn der Analytiker sich zurückhält und die Selbstentfaltung des Gegenübers in den Vordergrund stellt, kann der Wille zu schöpferischem Ausdruck finden. Die Persönlichkeit des Therapeuten sieht Rank als einen der wirkungsvollsten Faktoren der Behandlung. Dass man diese durch eine Lehranalyse ausbilden könne, bezweifelt er: „Denn mit der besten analytischen Unterweisung vonseiten des Lehrers und den besten Überzeugungen des Schülers schafft man noch keinen Psychotherapeuten, ein Beruf, zu dem man vielleicht mehr als zu jedem anderen berufen sein muss.“ (1929) Das „Ausschlaggebende des Persönlichkeitsmoments“ sieht er dadurch belegt, dass gerade die erfolgreichsten Analytiker nicht analysiert gewesen seien.

Obwohl eins seiner persönlichen zehn Gebote lautet „Du sollst keine Ehe eingehen“, heiratet Rank 1918 Beata Tola Mincer, die später eine geachtete Psychoanalytikerin wird. 1924 geht er zum ersten Mal in die USA, hält Vorträge und arbeitet als Lehranalytiker. 1929 tritt er aus der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung aus, pendelt zwischen Frankreich und den Vereinigten Staaten und lässt sich 1935 endgültig in New York nieder. Eine zweite Ehe mit seiner Sekretärin Estelle Buel im August 1939 ist von kurzer Dauer. Am 31. Oktober 1939 stirbt Otto Rank an den Folgen einer Racheninfektion. Sein Mentor und Lehrer Freud war einen Monat zuvor in London verstorben.
Christof Goddemeier

LITERATUR
1. Lieberman E: Otto Rank.Gießen 1997.
2. Rattner J: Otto Rank. In: Klassiker der Tiefenpsychologie. München 1990.
3. Zottl A: Otto Rank. München 1982.

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