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20 Jahre Deutsche Einheit: Trotz allem, eine Sternstunde


Norbert Jachertz
freier Journalist
Das Deutsche Ärzteblatt wird deshalb in einer in diesem Heft beginnenden Serie „20 Jahre deutsche Einheit“ nachzeichnen, konzentriert auf das Gesundheitswesen und die Rolle der Ärzteschaft, aber eingebettet in die allgemeine politische Entwicklung bis heute. Der Schwerpunkt liegt auf den Umwälzungen, die die Ärztinnen und Ärzte in Ostdeutschland angestoßen und erlebt haben. Manchmal waren sie ihnen auch schlichtweg ausgesetzt, lief Wiedervereinigung doch zumeist darauf hinaus, auch im Gesundheitswesen westdeutsche Verhältnisse auf die neuen Bundesländer zu übertragen. Diese Übertragung folgte einem Muster, das im Einigungsvertrag angelegt war: Die DDR trat der BRD bei. Das mag politisch konsequent gewesen sein. Bürgerrechtler der DDR empfanden den Beitritt eher als „Überrolltwerden“; sie hatten an einen dritten Weg geglaubt. Doch räumte eine namhafte Bürgerrechtlerin und nunmehr niedergelassene Ärztin dieser Tage ein, der Beitritt sei das „kleinere Übel“ gewesen, denn „angesichts der aktuellen Entwicklung in Russland danke ich dem Schöpfer, dass ich als Deutsche in der Bundesrepublik Deutschland leben darf“.
Die ostdeutschen Ärztinnen und Ärzte haben die vielfach gänzlich neuen, jedenfalls ungewohnten Umstände mit bewundernswerter Gelassenheit angenommen, die Auflösung der Poliklinken oder der Fachambulanzen an den Krankenhäusern, den Bruch im Lebensweg vielleicht auch nur hingenommen und sich mit Niederlassung, Selbstverwaltung, Honorar- und Tarifpolitik angefreundet. Weil ihnen gar nichts anderes übrig blieb? Im Vertrauen, nicht über den Tisch gezogen zu werden? Mangels berufspolitischer Erfahrung, etwa wenn sie eigene ärztliche Vereinigungen kampflos westdeutschen Profis überließen?
Ärztekammern und Kassenärztliche Vereinigungen aus dem Westen haben demgegenüber nachdrücklich ihre Erfahrungen eingebracht und, in einigen neuen Ländern mehr, in anderen weniger, beim Aufbau der neuen Selbstverwaltungen geholfen. Gestaltet haben die Ärzte in den neuen Ländern indes selbst, und jetzt mischen sie kräftig in der Bundespolitik mit.
Die Krise im Gesundheitswesen trifft heute Ärzte in Ost wie West. Lücken in der ärztlichen Versorgung auf dem Land machen sich in den neuen Ländern, die nach 20 Jahren so neu nun auch wieder nicht sind, zwar besonders bemerkbar. Doch das ist weniger ein ostdeutsches als ein strukturpolitisches Problem, und strukturschwache Regionen gibt es auch im Westen. Kreative Lösungen sind gefragt. In Ostdeutschland deuten sich die an, sei es Schwester AGnES (auch wenn die nur notgedrungen geliebt wird), sei es die Auferstehung der Polikliniken in neuem Gewand.
Die versprochenen blühenden Landschaften sind nicht so schnell entstanden wie erwartet. Wer aber unvoreingenommen durch die nicht mehr neuen Bundesländer fährt und vergleicht, findet in Kliniken und Praxen ein Gesundheitswesen, das qualitativ seinesgleichen sucht. Das hatte – um der westlichen Nörgelei am teuren Aufbau Ost zu begegnen – seinen Preis. Doch mit dem Historiker Gerhard Ritter (dessen Buch „Der Preis der deutschen Einheit. Die Wiedervereinigung und die Krise des Sozialstaates“ die Lektüre lohnt) sei festgehalten, „dass der Preis für die Freiheit der Ostdeutschen und die Einheit Deutschlands nicht zu hoch war und es sich bei der Wiedervereinigung um eine der leider viel zu seltenen Sternstunden der deutschen Geschichte gehandelt hat“.
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