ArchivDeutsches Ärzteblatt30/2009Kinderleukämie in der Elbmarsch: Plädoyer für sachliche Argumentation

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Kinderleukämie in der Elbmarsch: Plädoyer für sachliche Argumentation

Neth, Rolf-Dietmar

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Das Kernkraftwerk Krümmel und Leukämiefälle bei Kindern: Nach Angaben des Bundesamtes für Strahlenschutz führen möglicherweise mehrere Faktoren gemeinsam zu einem erhöhten Krebsrisiko. Foto: Keystone
Das Kernkraftwerk Krümmel und Leukämiefälle bei Kindern: Nach Angaben des Bundesamtes für Strahlenschutz führen möglicherweise mehrere Faktoren gemeinsam zu einem erhöhten Krebsrisiko. Foto: Keystone
Der erneute Störfall am Atomkraftwerk Krümmel hat die Debatte über die Ursache von Leukämie-Erkrankungen bei Kindern in Norddeutschland wieder aufleben lassen.

Es war eine spektakuläre Aktion, als am 11. Juli etwa 100 Antiatomaktivisten auf der Elbe von Booten aus 19 Steine im Kühlwassereinlauf des Atomkraftwerks Krümmel versenkten, um die sofortige Stilllegung des „Leukämiereaktors“ zu fordern. Jeder Stein stehe für die 19 ungeklärten Leukämiefälle in der Elbmarsch, so Bernd Ebeling von der Bürgerinitiative gegen Atomanlagen Uelzen.

Seit Jahren wird kontinuierlich behauptet, dass der Anteil der Kinder, der im Umfeld von Atomkraftwerken an Leukämie erkrankt, deutlich höher sei als andernorts. Tatsache ist, dass die akute lymphatische Leukämie (ALL) die häufigste Krebserkrankung bei Kindern ist. Von 1990 bis 2000 sind im Umfeld von Geesthacht/Krümmel 16 Kinder an Leukämie erkrankt. Statistisch wären 5,6 Fälle zu erwarten gewesen (Information Deutsches Kinderkrebsregister).

Das Krankheitsbild der Leukämien ist heterogen, altersabhängig und wird von multifaktoriellen Ursachen bestimmt. In Tierexperimenten können Leukämien durch ionisierende Strahlen, verschiedene Chemikalien und durch Viren (humanes T-Zell-Leukämievirus, Herpesviren) induziert werden. Bei Katzen, Rindern und Hühnern können Leukämien und Lymphome durch Retroviren verursacht werden. Weltweite Studien haben für den Menschen dieselben Risikofaktoren aufgezeigt.

Ein kausaler Zusammenhang zwischen ionisierenden Strahlen und Leukämie ist für Strahlendosen über 200 mSv wissenschaftlich in zahlreichen Studien nachgewiesen. Für niedrige Dosen radioaktiver Strahlung (10 mSv und darunter), für elektromagnetische Felder und Chemikalien (Pestizide, Zigaretten) fehlt dieser kausale Nachweis. Mit epidemiologischen Studien nach Strahlenwirkungen zu suchen, wird dort unstimmig, wo nur geringe Expositionswerte erhoben werden können. Dies trifft für alle „Lowdose-Studien“ zu (zum Beispiel Sellafield, La Hague, Kernkraftwerke).

Zeitlich und örtlich begrenzte Häufungen von Leukämien – im Wesentlichen die ALL des Kindesalters – werden als Leukämiecluster bezeichnet. Von 240 Leukämieclustern, die im Rahmen der Euroclus-Studie in 17 Ländern erfasst wurden und die insgesamt 13 551 kindliche Leukämiefälle umfassten, befanden sich nur vier im Umfeld von Kernkraftwerken (1, 2). Damit wurde belegt, dass demografische Faktoren eher mit dem Auftreten von Leukämieclustern im Zusammenhang stehen als Umweltfaktoren wie Atomkraftwerke (2), Militärflughäfen (3) und andere medienwirksam postulierte Verursacher – wie Pestizide und Elektrosmog (2, 4).

Im Gegensatz hierzu zeigten sich aber in den demografischen Fakten Unterschiede. Typisch für Cluster waren Wohngebiete, in denen zu isoliert lebenden Bewohnern neue Mitbewohner aus anderen Wohngebieten hinzuzogen. Bevölkerungsdichten zwischen 250 bis 500 und 500 bis 750 pro Quadratkilometer gelten als besonders bevorzugt für Epidemien. Ein Zusammenhang zwischen Kinderleukämieclustern und Mikroepidemien bis jetzt unbekannter Erreger ist möglich. Die Ergebnisse der Euroclus-Studie zeigen, dass Leukämiecluster im Zusammenhang mit der Ätiologie und Biologie der kindlichen Leukämie gesehen werden müssen. Vielmehr scheinen bei der ALL des Kindesalters Infektionen als auslösende Risikofaktoren eine Rolle zu spielen.

Kinder, die in der frühen Kindheit vor Infektionen geschützt waren („immunologische Isolation“), reagieren bei einer verspäteten Exposition gegenüber Erregern mit einer besonders starken Immunantwort. Dabei wird eine vermehrte Proliferation der lymphoiden Vorläuferzellen induziert. Leukämoide Vorläuferzellen der Lymphopoese könnten gegenüber den normalen Lymphozyten und ihren Vorstufen bei Infektionen einen Proliferationsvorteil haben, der eine ALL verursacht. Der Altersgipfel der ALL zwischen dem zweiten und vierten Lebensjahr könnte mit den häufigen Infektionen in diesem Alter erklärt werden.

Die Diagnose Leukämie erschüttert Eltern und Angehörige des erkrankten Kindes. Es ist selbstverständlich, dass jede bekannte Ursache ausgeschlossen werden muss. Glücklicherweise können heute mehr als 80 Prozent der an ALL erkrankten Kinder erfolgreich behandelt werden: In der Abteilung für pädiatrische Hämatologie und Onkologie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf wurden in den vergangenen 15 Jahren 14 Kinder mit ALL behandelt, davon sind 13 in Vollremission (also geheilt), ein Kind ist gestorben. Außerdem sind zwei Kinder mit akuter myeloischer Leukämie (AML) behandelt worden, beide leben (ein Kind nach Knochenmarktransplantation). Zum Vergleich: Nach dem Atombombenabwürfen in Hiroshima und Nagasaki wurden bei Null- bis 19-Jährigen 61 Leukämien diagnostiziert: davon 14 ALL und 42 AML. Das Verhältnis ALL zu AML spricht im Gegensatz zu Krümmel (14 ALL zu 2 AML) für eine radioaktive Ursache (5).

Die Politik hat Millionen Euro für Leukämiestudien vergeben, ohne für verantwortliche wissenschaftliche Begleitgremien zu sorgen. So ist Krümmel ein Paradebeispiel dafür geworden, wenn Erfahrung (von politischem Interesse geleitet), Glaube und Gefühle Triebfeder der wissenschaftlichen Untersuchungen sind (6). Erst für die Norddeutsche Leukämie- und Lymphomstudie wurde ein wissenschaftliches Begleitgremium eingesetzt. Das Ergebnis: „Das Kernkraftwerk Krümmel scheidet als Verursacher der Leukämiehäufung in der Elbmarsch aus“, aber im Abschlussbericht steht: „Die Ursache für die Leukämiehäufung in der Elbmarsch ist unbekannt“. Damit wurden Schleusen geöffnet, nicht nur neue Gutachten zu fordern, sondern auch die Finanzierung von Umsiedlungsmaßnahmen.

Alle Wissenschaftler, Politiker und Medien sollten ehrlich informieren und aufrichtig agieren. Sachliche Information wird zum Beispiel in Großbritannien gefördert durch spezielle Finanzierungsprogramme (Leukemia Research Fund, Kay Kendall Leukemia Fund). Nur so konnte Melvin Greaves eine Übersicht mit 143 gewissenhaft aufgearbeiteten Artikeln zusammenstellen (7). Eine solche Aufarbeitung könnte die Grundlage für eine sachliche Bundestagsdiskussion zum Thema Leukämie nach mehr als 20 Jahren „Streit um Kausalzusammenhang“ sein.
Prof. Dr. med. Rolf-Dietmar Neth

Prof. Dr. med. Rolf-Dietmar Neth war als Kinderarzt und Hämatologe geschäftsführender Direktor der Abteilung für Klinische Chemie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf und ist Initiator des renommierten Wilsede Meetings (www.science-connections.com). Er hat als Kinderarzt das Leid von Kindern mit ALL und deren Angehörigen erlebt. Seit 40 Jahren beschäftigt er sich wissenschaftlich mit dem Krankheitsbild der Leukämie.

Literatur im Internet:
www.aerzteblatt.de/lit3009
1.
Neth R: Radioaktivität und Leukämie, Dtsch Arztebl 1998; 95(27): A 1740/B 1494/C 1386 MEDIZIN: Kongressberichte und -notizen VOLLTEXT
2.
Alexander F, Greaves M: Ionising Radiation and Leukemia Potential risks, Leukemia (1998); 12: 1319–23. MEDLINE
3.
Steinmaus L. et al.: Probaly estimates for the unique childhood leukemia cluster in, Fallon, Nevada, and risks near other U.S. military facielities, Environ. Health Perspect 2004; 112: 766–71. MEDLINE
4.
M.Greaves M: Infections, Immun Responses and the Aetology of Childhood Leukemia, Lecture, HPI Hamburg, 2006, http://www.science-connections.com/profiles/greaves/melgreaves.html#Multimedia
5.
Preston DL et al.: Radiat Res 1994 Feb; 137 (2 Suppl), Pub Med, Preston DL, 71.
6.
Die Leukämiekinder von Krümmel, Die vergebliche Suche nach einer Antwort, www.dradio.de/dlf/sendungen/wib/406152/
7.
Nature Reviews/Cancer 2006; 6: 193–206. MEDLINE
1. Neth R: Radioaktivität und Leukämie, Dtsch Arztebl 1998; 95(27): A 1740/B 1494/C 1386 MEDIZIN: Kongressberichte und -notizen VOLLTEXT
2. Alexander F, Greaves M: Ionising Radiation and Leukemia Potential risks, Leukemia (1998); 12: 1319–23. MEDLINE
3. Steinmaus L. et al.: Probaly estimates for the unique childhood leukemia cluster in, Fallon, Nevada, and risks near other U.S. military facielities, Environ. Health Perspect 2004; 112: 766–71. MEDLINE
4. M.Greaves M: Infections, Immun Responses and the Aetology of Childhood Leukemia, Lecture, HPI Hamburg, 2006, http://www.science-connections.com/profiles/greaves/melgreaves.html#Multimedia
5. Preston DL et al.: Radiat Res 1994 Feb; 137 (2 Suppl), Pub Med, Preston DL, 71.
6. Die Leukämiekinder von Krümmel, Die vergebliche Suche nach einer Antwort, www.dradio.de/dlf/sendungen/wib/406152/
7. Nature Reviews/Cancer 2006; 6: 193–206. MEDLINE

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