ArchivDeutsches Ärzteblatt39/2009Arztgeschichte: Übermenschliche Kraft

SCHLUSSPUNKT

Arztgeschichte: Übermenschliche Kraft

Müller, Joachim

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LNSLNS Anstelle eines Abschiedsgrußes sagte sie nur: ,Na, so lange warte ich noch!‘“

Meine 85-jährige Mutter war nach zwei leichteren Schlaganfällen zwar nicht völlig gehunfähig, musste aber feststellen, dass ihre Kräfte nicht mehr ausreichten, um in ihrer eigenen Wohnung selbstständig leben zu können. So verweigerte sie immer öfter die Nahrung, magerte ab und wurde bettlägerig, sodass mein befreundeter Kollege sie im Heimatkrankenhaus weiterbehandelte.

Ich lebte nämlich 60 Kilometer entfernt und war als Arzt nur alle zwei Wochenenden in der Lage, sie zu besuchen. In der dazwischen liegenden Woche kam mein Bruder zu ihr, der in der BRD grenznah zur damaligen DDR lebte und somit per Tagesaufenthaltsgenehmigung auch regelmäßig zur Mutter kommen konnte. Der allgemeine Zustand unserer Mutter verschlechterte sich zusehends, der Kreislauf zeigte schon Erscheinungen der Zentralisation der abgemagerten Gliedmaßen, und wir mussten erkennen, dass das Ableben nahte.

Zeichnung: Elke R. Steiner
Zeichnung: Elke R. Steiner
Als meine Frau und ich uns bei unserem letzten Besuch an ihrem Bett verabschiedeten und Auf -Wiedersehen sagten, kam von ihr das erste Mal keine gleichlautende Erwiderung. Mir selbst fiel das nicht sofort auf, wohl aber meiner Frau. Stattdessen kam gleich anschließend ihre Frage, wann denn der Enno, also mein großer Bruder komme? Da ich es genau wusste, konnte ich ihr sagen: „Na, diese Woche schon am Donnerstag, da hat er sich beruflich frei gemacht.“ Und darauf sagte sie anstelle eines Abschiedsgrußes nur: „Na, so lange warte ich noch!“ Und so geschah es.

Am Donnerstag der folgenden Woche kam mein Bruder, um sie für zwei bis drei Stunden zu besuchen. Gegen 13 Uhr verließ er unsere Mutter. Nur 15 Minuten später kam eine meiner im Ort wohnenden Cousinen, um sie zu besuchen, trat an ihr Bett und fand sie tot vor.

Sie hatte gleichsam ihr Herz angehalten, nachdem sie ihren geliebten großen Sohn noch einmal gesehen hatte.
Joachim Müller

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