THEMEN DER ZEIT
Der Heidelberger Arzt Franz Anton Mai (1742–1814): Ein Wegbereiter der Arbeitsmedizin


Franz Anton Mai
auf einem Kupferstich
von Anton Karcher
nach einem
Gemälde von Johann
Heinrich Tischbein d. Ä.
Für langweilige Schauspieler, die ihre Rollen mit „bloßem Wortlärmen“ und ohne Leidenschaft abspulen, sieht Mai kein Gesundheitsrisiko. Diese „kalte Verstellung läßt den Puls in ruhigen Schwingungen und sträubet niemals die Haare des Scheitels“. Die Wirkung auf den Zuschauer besteht nur darin, „ihn so recht aus der Tiefe der Brusthöhle gähnen zu machen“. Dagegen die „fühlende Verstellung“ von Bühnenkünstlern, die ihre Figuren mit Leib und Seele verkörpern – bei ihnen diagnostiziert der Theaterarzt, „daß das Herz im Leib zittert, der Puls tobt, alle Glieder des Leibs schwanken“; und er wundert sich, „daß nicht auf der Stelle bei unsern meisterlichen Schauspielern das Blut aus dem Halse stürzet und schreckende Entkräftungen nachfolgen“.
Leben der kleinen Leute
Franz Anton Mai, in Heidelberg als Sohn eines kurfürstlichen Kaminfegers geboren, hatte in seiner Heimatstadt Philosophie und Medizin studiert und danach zwei Jahrzehnte in Mannheim gearbeitet. Ein umtriebiger Mann, der sich um ledige Schwangere ebenso kümmert wie um mittellose Mönche und der weiß, dass Gesundheit mangels wirksamer Therapien nur durch Vorbeugung zu erhalten ist. Mai ist ein Menschenfreund, den die Lebensumstände vor allem der kleinen Leute interessieren und dessen Schriften eine Fundgrube für die sozialen Verhältnisse der Kurpfalz im späten 18. Jahrhundert sind. Wegen ihrer farbigen und humorvollen Sprache überdies eine höchst amüsante kulturgeschichtliche Lektüre.
Die Schauspieler, die Mai untersucht, sind nicht mehr die Hanswurste, die auf Jahrmärkten Possen reißen, sondern seriöse „Seelenäskulape“, wichtig für das Gemeinwohl. „Sie sind Ärzte der Sitten, Mitarbeiter an Bildung des Menschenherzens und der Tugend, sie sind Geißeln des Lasterhaften, folgsam nützliche Mitbürger des Staats, unendlich nützlicher als mancher Sittenprediger, bei dem die eine Hälfte der auferbaulichen Zuschauer gähnet, die andere schnarchet.“
August Wilhelm
Iffland in der Rolle
des Franz Moor.
Kupferstich von
Daniel Berger
Fotos: Picture Alliance
Franz Anton Mais Diagnose: Schauspieler haben einen schweren, die körperliche wie geistige Gesundheit verzehrenden Beruf. Ruhe und Erholung an frischer Luft, zu Pferd oder in der Kutsche, die Füße und den Kopf mehrmals täglich mit kaltem Wasser waschen – „wenn es die Haare zulassen“ –, mäßig essen und trinken, ruhiger Schlaf, gute Bücher, philosophische Gespräche, ferner zweimal jährlich drei bis vier Wochen Theaterferien, und sich nicht „ohne priesterliche Einsegnung“ vermählen. Das richtet sich gegen „Wollüstlinge“, die der Moralist Mai nachdrücklich tadelt: „Wenn der halbgesunde Schauspieler, nebst den durch seinen Beruf ohnehin schon genug abgeriebenen Lebenskräften, ein Wollüstling ist, und den Liebhaber, den er mit Anstand auf der Bühne vorstellte, in einen Ausschweifling außer der Bühne ausarten läßt – schrecklich ist die Verwüstung, die durch diese Gattung Entkräftung auf Mark und Nerven wüthet; schauervoll sind die Aussichten für die Gesundheit.“ Mai meint die Syphilis.
Er denkt an alles, kümmert sich um Rezepturen für hautverträgliche Schminken oder entwirft detaillierte Speisepläne. Keine Schwelgereien nach der Vorstellung, keine berauschenden Getränke, das bringt nur Kopfweh, „ein Gast, welcher zur Arbeit des Gedächtnisses unerträglich ist“. Rollen lernen kann man damit kaum. Frisches Obst ja, Salat bei schwachem Magen besser nicht. Ansonsten: „Eine gute Fleischsuppe mit geröstetem Weisbrod und dem Gelben von einigen frischen Eiern, ein Stück gebratenes zartes Fleisch, ein gutes Glas Wein sei das ganze Nachtessen.“ „Sparglen“ sind bei schwachen Nerven schädlich, und „alle Generationen von Würsten, sie mögen einheimisch oder Ausländer seyn, sollen von den Tafeln der Schauspieler relegiret seyn. Kalbsfüse, Kalbshirn, Kalbsdrüsen und Gekröse können verabschiedet werden“.
Theater als Ort der Genesung
Franz Anton Mai untersucht in seinen Mannheimer Jahren viele Berufe auf spezifische medizinische Risiken – Maurer, Metzger, Leichenwäscher, Hutmacher oder Bierbrauer – und steht damit in der Tradition der italienischen Aufklärung, die die Arbeitsmedizin begründet hatte. Nur gesunde Untertanen sind für den Staat nützlich, so die Botschaft. Für die Berufskrankheiten von Schauspielern aber hatte sich noch kein Arzt interessiert. Iffland, einer von Mais Probanden, dankt es ihm: „Eben habe ich diese fürtreffliche Abhandlung zum zweytenmale gelesen. Ich bin überzeugt, dieser große Arzt hat uns die Gerechtigkeit widerfahren lassen, unsere dankbare Hochachtung so lebhaft voraus zu setzen als sie ist, da er in diesem Werke, durch den Wetteifer von Gründlichkeit und Geschmack, sich ein unvergängliches Denkmal errichtet hat.“
In einer früheren Schrift hatte Mai bereits „den Einfluß der Komödien auf die Gesundheit arbeitender Staatsbürger“ untersucht. Schauspieler sind gewissermaßen Psychotherapeuten für ihr Publikum, vor allem wenn sie Komödie spielen. Trauerspiele sind für empfindsame Menschen und für „reizbare Schöne“ ungeeignet, denn sie führen häufig zu Krämpfen. Lachen aber ist eine gute Medizin. Was die medizinische Wissenschaft im 21. Jahrhundert bestätigen wird: Lachen und Optimismus stärken das Immunsystem. „In meinen Augen ist jener Schauspieler ein großer Arzt, welcher die Fähigkeit hat, eine launigte Rolle so aufzutischen, daß der auch noch so kalte, noch so schwermüthige Zuschauer unvermerkt zum gedeihlichen Lachen gereizet wird.“
Das Theater als Ort der Genesung und als moralische Anstalt – da trifft sich Mai mit Friedrich Schiller. Beide kennen sich, Schiller bittet den Älteren gelegentlich um medizinischen Rat. Als Schillers Vertrag am Nationaltheater 1784 ausläuft, will Intendant Heribert von Dalberg den schwierigen Dichter lowerden. Er schickt Mai vor, der Schiller eine Fortsetzung des Medizinstudiums in Heidelberg nahelegen soll. Schiller ist begeistert und schreibt an Dalberg: „Dasjenige, was Ewr. Exzellenz mir gestern durch Herrn Hofrat May haben sagen lassen, erfüllt mich aufs neue mit der wärmsten und innigsten Achtung gegen den vortrefflichen Mann, der so großmütigen Anteil an meinem Schicksal nimmt.“ Aber Schiller versteht das Angebot, das Mai überbringt, falsch. Er hatte auf ein Stipendium gehofft, doch Dalberg denkt gar nicht daran, dafür Geld zu geben.
1785 wird Mai ordentlicher Professor für Medizin an der Universität Heidelberg, 1798 deren Rektor. Auf ihn geht die Gründung der Universitätsfrauenklinik in der Brunnengasse zurück. Er kauft das Haus Karlstraße 8 und stirbt hier, als Wohltäter von der ganzen Stadt betrauert, im Alter von 71 Jahren.
Jörg Tröger
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