POLITIK
Zeitgeschichte: Kollegenvertreibung und spätes Gedenken
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Mit einer wissenschaftlichen Untersuchung über die Berliner Kassenärztliche Vereinigung in der NS-Zeit und einem voluminösen Gedenkbuch schließt die KV Berlin ein einzigartiges Forschungsprojekt ab. Die Ergebnisse wurden am 29. Oktober von Dr. med. Angelika Prehn als KV-Vorsitzender und den Initiatoren des Projekts, Dr. med. Roman Skoblo und Dr. med. Manfred Richter-Reichhelm, sowie der wissenschaftlichen Leiterin, Dr. Rebecca Schwoch, der Presse vorgestellt und am 3. November in einer bewegenden Gedenkveranstaltung im Hause der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin gewürdigt. Zu den gut 200 Teilnehmern zählten auch Angehörige der Opfer, Vertreter der jüdischen Gemeinde und die frühere Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt sowie zahlreiche Medizinhistoriker, darunter Prof. Dr. Johanna Bleker, Berlin, die vor 20 Jahren eine Artikelserie des Deutschen Ärzteblattes über die Medizin im Dritten Reich betreute, in der Prof. Werner Friedrich Kümmel, Mainz, auch die Ausschaltung jüdischer Kollegen behandelte.
„Eine derart große Publikumsunterstützung
ist in der Forschung ganz selten.“
Projektleiterin Dr. Rebecca Schwoch
„Behandler“ statt Ärzte
Die Berliner Untergliederung war im Sinne der Nationalsozialisten höchst effektiv: Waren 1933 noch etwa 2 000 der 3 500 Berliner Kassenärzte jüdischer Herkunft, so waren es 1937 nur noch rund 1 000 unter den dann 2 800 Berliner Kassenärzten. 1938, als alle jüdischen Ärzte die Approbation verloren und zu „Krankenbehandlern“ herabgestuft wurden, gab es in Berlin nur 400 solcher „Behandler“, 1942 waren noch 178 verblieben.
Das Berliner Forschungsprojekt geht auf eine Anregung des Landesverbandes jüdischer Ärzte und Psychologen und dessen Vorsitzenden, Dr. med. Roman Skoblo, zurück. Skoblo konnte 2001 den damaligen Vorsitzenden der KV Berlin (und Vorsitzenden der Kassenärztlichen Bundesvereinigung), Dr. med. Manfred Richter-Reichhelm, für die Idee gewinnen, den Schicksalen der jüdischen Kollegen nachzugehen. Gestartet wurde nach langwierigen Vorarbeiten 2005. Die wissenschaftliche Leitung lag bei der Medizinhistorikerin Dr. phil. Rebecca Schwoch (anfangs am Berliner, heute am Hamburger Institut für Geschichte und Ethik der Medizin tätig). Insbesondere die Recherchen zu den Biografien der jüdischen Kassenärzte erwiesen sich als sehr aufwendig und konnten nur durch die Mithilfe vieler Mitarbeiter, die nicht allzu sehr auf Geld und Zeit blickten, bewältigt werden. Das „Gedenkbuch“, das Schwoch und ihr Team nun vorlegen, umfasst mit 2 018 Biografien zwar nicht alle vertriebenen Kassenärzte, aber doch die allermeisten. Neben den biografischen Angaben aus dem wiederaufgetauchten alten Reichsarztregister, das mithilfe eines Mitarbeiters des Deutschen Ärzte-Verlages digital recherchierbar gemacht wurde, sonstigen Akten, Nachrufen und Laudationes in Zeitschriften des In- und Auslandes wurden auch die Berichte von 89 Kindern und Enkeln jener Kassenärzte verarbeitet. Die in alle Welt verstreuten Nachkommen hatten von dem Projekt erfahren und brachten ihre Erinnerungen ein. Doch schon die nüchternen Daten sprechen für sich, etwa die Adressen. Die lauten zum Beispiel bei dem 1898 geborenen und 1923 approbierten Dr. med. Herbert Alfred Jacob bis 1942: Berlin, Alte Schönhauser Straße 5, dann: Berlin-Mitte, Große Hamburger Straße 26 (Sammellager), dann Theresienstadt (102. Alterstransport, 23. 2. 1944) und schließlich: Auschwitz (15. 5. 1944).
Finanziert wurde das Forschungsvorhaben durch Zuwendungen der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, der Bundesärztekammer, des Deutschen Ärzte-Verlages/Deutschen Ärzteblattes und nicht zuletzt durch Spenden von mehr als 500 Ärzten, zumeist aus Berlin, aber auch von auswärts. Diese Ärztinnen und Ärzte brachten die erstaunliche Summe von 80 000 Euro auf. Eine derart große Publikumsunterstützung sei in der Forschung ganz selten, bemerkt Schwoch. Der Hamburger Medizinhistoriker Prof. Dr. Heinz-Peter Schmiedebach spricht von einer ungewöhnlichen Finanzierung, „die aber auch das Projekt bekannt gemacht hat“.
Ulla Schmidt, Ex-Bundesgesundheitsministerin, nahm persönlich Anteil an dem Projekt. Neben
ihr (v.l.n.r.) stehen Roman Skoblo, Angelika Prehn und Manfred Richter-Reichhelm.
Fotos: Reinhold Schlitt
Dankbar für die Initiative
Schmidt bemängelte in ihrer Grußansprache einmal mehr, dass die Vertreibung jüdischer Ärzte lange verschwiegen worden sei. Umso dankbarer müsse man für die Initiative der KV Berlin sein. Jede Institution, versicherte Projektleiterin Schwoch, die ihrer Vergangenheit nicht ausweiche, könne an moralischer Legitimation nur gewinnen. Schmiedebach bescheinigte Forschungen wie dem Berliner Unterfangen, sowohl wissenschaftlichen als auch moralischen Erwartungen gerecht zu werden.
Sie kommen zudem einem ganz persönlichen Bedürfnis nach: Die jüdischen Gäste der Gedenkfeier am 3. November kamen immer wieder darauf zu sprechen, wie wichtig es sei, den Opfern ihre Namen zurückzugeben, wie mit dem Gedenkbuch geschehen. Skoblo schloss denn auch mit der Feststellung, „dass mit dem heutigen Tage unseren Kollegen, derer wir hier gedenken, eine letzte Ungerechtigkeit nicht widerfahren wird – nämlich die des Vergessens“.
Norbert Jachertz
Schwoch, Rebecca (Hrsg.): Berliner jüdische Kassenärzte und ihr Schicksal im Nationalsozialismus. Ein Gedenkbuch. Hentrich & Hentrich, Berlin 2009, 973 Seiten, 38 Euro
Hahn, Judith, Schwoch, Rebecca: Anpassung und Ausschaltung. Die Berliner Kassenärztliche Vereinigung im Nationalsozialismus. Hentrich & Hentrich, Berlin 2009, 227 Seiten, 19,80 Euro
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