ArchivDeutsches Ärzteblatt PP12/2009Motivierende Gesprächsführung: Flexible Methode mit Potenzial

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Motivierende Gesprächsführung: Flexible Methode mit Potenzial

Sonnenmoser, Marion

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Einige Patienten lassen sich nur schwer zu einer Psychotherapie motivieren – vor allem dann , wenn sie subjektiv das Gefühl haben, dass die Erkrankung auch Schutz bietet.

Psychische Erkrankungen beeinträchtigen die Lebensqualität. Dennoch sind nicht alle psychisch Erkrankten bereit, sich behandeln zu lassen und gesund zu werden. Depressionen, Ängste, Zwänge und andere Störungen haben nämlich auch Vorteile für den Patienten (sogenannter sekundärer Krankheitsgewinn): Er kann sich seinen Rollen, Aufgaben und Pflichten in Familie, Berufsleben und Gesellschaft entziehen, ohne dafür verantwortlich gemacht zu werden. Er erhält Aufmerksamkeit und Mitgefühl, darf sich schonen und kann unangenehmen Situationen und Konflikten aus dem Weg gehen. Er wird vom eigenen Erwerb entbunden, kann von Bezügen aus dem Sozialversicherungssystem leben und frühzeitig in Rente gehen. Patienten, die auf die eine oder andere Weise von ihren Störungen profitieren und sich vor den Folgen einer Heilung fürchten, sind nur schwer zu einer Psychotherapie zu motivieren. Das trifft auch auf Patienten zu, die zu einer Behandlung gezwungen werden, wie zum Beispiel Straftäter.

Drängen führt nur selten zu einem Erfolg
Lange Zeit wurden Patienten mit geringer Behandlungsmotivation und mangelnder Compliance durch Drängen, Konfrontieren und Argumentieren „gefügig“ gemacht, was allerdings deren Reaktanz erhöhte und nur selten zum Erfolg führte. Seit den 80er-Jahren werden jedoch neue Wege beschritten, zum Beispiel mithilfe der „motivierenden Gesprächsführung“ („motivational interviewing“). Sie wurde von dem US-amerikanischen Psychologen William R. Miller und Kollegen entwickelt, um einen flexibleren und effektiveren Umgang mit Widerständen und Ambivalenzen seitens der Patienten zu ermöglichen. Motivierende Gesprächsführung ist eine klientenzentrierte Methode der Kommunikation, die direktiv auf ein bestimmtes Zielverhalten gerichtet ist („twist“). Sie trägt durch Bearbeitung und Auflösung von Ambivalenzen dazu bei, dass Patienten motiviert werden, dysfunktionales und gesundheitsbeeinträchtigendes Verhalten zu ändern.

Die theoretische Basis und die Techniken der motivierenden Gesprächsführung sind verschiedenen Psychotherapieformen entlehnt, beispielsweise dem Ansatz der klientenzentrierten Gesprächsführung (nach Rogers), der Theorie der kognitiven Dissonanz (nach Festinger) und der Selbstwahrnehmungstheorie (nach Bem). In diesen Theorien wird davon ausgegangen, dass Menschen nach Eigenverantwortung und Entfaltung streben. Sie erkennen ihre Identität, Einstellungen und Gefühle dadurch, dass sie sich selbst unter bestimmten Umständen beobachten beziehungsweise beim Äußern relevanter Inhalte zuhören und daraus Schlussfolgerungen ziehen. Außerdem streben sie nach Konsistenz und versuchen, ihre Einstellungen und Aussagen in Einklang mit ihrem Verhalten zu bringen. Eine weitere Annahme ist, dass Menschen nicht erst am Tiefpunkt angekommen sein müssen, um zu Verhaltensänderungen bereit zu sein, sondern dass sie schon wesentlich früher erreichbar sind. Man geht davon aus, dass bestimmte Stadien durchlaufen werden, bevor ein Verhalten geändert wird: Zunächst befindet sich der Patient im Stadium der Absichtslosigkeit, das heißt, er setzt sich kaum mit dem Problemverhalten auseinander. Es folgt das Stadium der Absichtsbildung, bei der die Auseinandersetzung zunimmt und die Vor- und Nachteile des Verhaltens an Bedeutung gewinnen; spätestens hier setzt die motivierende Gesprächsführung an. Sobald die Entscheidung zur Verhaltensänderung gefallen ist, beginnt das Stadium der Vorbereitung, in dem die Verhaltensänderung geplant wird. Sie wird im Stadium der Handlung umgesetzt und im Stadium der Aufrechterhaltung beibehalten.

Es ist eine spezifische Grundhaltung notwendig
Zur Durchführung der motivierenden Gesprächsführung ist seitens des Therapeuten eine spezifische Grundhaltung („MI spirit“) erforderlich, die aus folgenden Elementen besteht:

Kooperation: Im Vordergrund stehen Partnerschaftlichkeit, Akzeptanz und eine förderliche Atmosphäre. Machtgefälle, Konfrontation, autoritäres Auftreten und Aufzwingen einer Sichtweise werden vermieden.

Klientenzentrierung (Wachrufen von Motivation): Die Sichtweisen, Werte und Ziele des Klienten stehen im Mittelpunkt. Auf Erziehung, Belehrung, Zurechtweisung und Augenmerk auf fehlende Ressourcen wird verzichtet.

Autonomie: Es wird anerkannt, dass der Patient zur Selbstbestimmung berechtigt und fähig ist. Da Veränderungen nicht erzwungen oder befohlen werden können, wird vermieden, dass der Therapeut dem Patienten sagt, was er tun muss und wie er sein Ziel erreicht. Auf diese Weise wird der Patient zum Anwalt beziehungsweise Mentor in eigener Sache.

Die Grundhaltung soll eine vertrauensvolle Beziehung zwischen Therapeut und Patient fördern und festigen, da diese ausschlaggebend für den Therapieerfolg ist.

Bei der motivierenden Gesprächsführung wird folgendermaßen vorgegangen: Zunächst werden dem Patienten die Vor- und Nachteile seines Verhaltens bewusst gemacht. Der Therapeut achtet darauf, dass alle Argumente vom Patienten kommen und wartet offen, geduldig und neugierig auf die Einfälle und Äußerungen des Patienten, welche in Form von Änderungssequenzen („change talk“) und Widerstandssequenzen („resistance talk“) auftreten können. Während erstere dadurch charakterisiert sind, dass der Patient zuversichtlich ist, die Vorteile einer Änderung sieht, und ernsthaft plant, sein Verhalten zu ändern, zeichnen sich letztere dadurch aus, dass der Patient pessimistisch ist und sein Verhalten nicht ändern will, weil er hauptsächlich Vorteile darin sieht. Mithilfe verschiedener Gesprächstechniken wird der Patient dazu gebracht, Widersprüche zwischen seinem momentanen Verhalten (zum Beispiel Drogen nehmen) und wichtigen Zielen (zum Beispiel lang und gesund leben) in der Zukunft zu entdecken. Auch hierbei ist wichtig, dass der Patient die Widersprüche selbst wahrnimmt und stets das Gefühl hat, sich frei für oder gegen ein Verhalten entscheiden zu können. Mit der Zeit wird er die Widersprüche als unangenehm empfinden und von sich aus motiviert sein, Änderungen herbeizuführen, um sein Verhalten seinen Ideen und Zielen anzupassen. Anschließend wird angestrebt, die Selbstverpflichtung des Patienten, die Änderungen auch umzusetzen, zu erhöhen. Außerdem werden konkrete Wege und Ziele erarbeitet, um die Veränderung zu erreichen.

Die Situation aus Sicht des Patienten betrachten
Der Therapeut lässt sich dabei von folgenden Prinzipien leiten:

Empathie zeigen, das heißt die Situation aus der Sicht des Patienten betrachten und verstehen. Der Patient wird als Person angenommen, sein Verhalten wird weder kritisiert noch verurteilt. Ihm wird geholfen, seine eigenen Erfahrungen, Werte, Ideen und Entscheidungen zu reflektieren und zu verstehen.

Diskrepanzen erzeugen, das heißt, dem Patienten werden Widersprüche zwischen seinen Einstellungen, Äußerungen, Wünschen und Zielen einerseits und seinem aktuellen Verhalten andererseits aufgezeigt.

Mit Widerstand konstruktiv umgehen, das heißt, Widerstand wird nicht als Hindernis, sondern als wichtige Informationsquelle verstanden, weil er Aufschluss über Hoffnungen, Wünsche und Ängste hinsichtlich der Verhaltensänderung gibt. Diese können vom Therapeuten aufgegriffen und bearbeitet werden. Darüber hinaus werden neue Sichtweisen angeboten und das Finden eigener Lösungswege unterstützt.

Selbstwirksamkeit stärken, das heißt, der Patient wird in der Annahme bestärkt, Veränderungen aus eigener Kraft erreichen zu können.

Um den Patienten zur Veränderung zu motivieren, werden bestimmte Gesprächstechniken eingesetzt. Beispielsweise stellt der Therapeut dem Patienten offene Fragen, um zu zeigen, dass er sich für dessen Ideen interessiert, um die Kreativität des Patienten anzuregen und um sicher-zustellen, dass der Redeanteil des Patienten höher ist als der des Therapeuten. Der Therapeut hört aktiv und aufmerksam zu und reflektiert das Gesagte, um dem Patienten zu helfen, die richtigen Worte zu finden und sich seinen Ängsten zu stellen. Er zeigt Verständnis für die Ängste und ermutigt den Patienten, indem er veränderungsrelevante Aussagen des Patienten bestätigt und lobt. Schließlich fasst er das Gesagte zusammen. Neben diesen Techniken, die der klientenzentrierten Gesprächsführung (nach Rogers) entlehnt sind, kommen zwei weitere Techniken zum Einsatz: Zum einen betont und wiederholt der Therapeut Änderungsabsichten, die vom Patienten geäußert wurden, um ihn zu erinnern und darin zu bestärken. Zum anderen fordert er den Patienten auf, Vorschläge zu machen, wie Veränderungen bewerkstelligt werden können. „Auch hierbei regt der Therapeuten den Patienten lediglich an, anstatt selbst Vorschläge zu machen oder Anweisungen zu geben“, erklärt der Psychologe Hal Arkowitz von der University of Arizona.

In den USA, aber auch in Deutschland ist das Interesse von Wissenschaftlern und Praktikern an der motivierenden Gesprächsführung in den letzten Jahren deutlich gestiegen, was daran liegt, dass sich die Methode in vielen unterschiedlichen Bereiche anwenden lässt. Während sie anfänglich vorwiegend im klassischen Suchtbereich und zur Motivierung gesundheitsrelevanten Verhaltens eingesetzt wurde, hat sie sich mittlerweile unter anderem auch bei Essstörungen, Suizidalität, Ängsten, Depressionen, Spielsucht und Medikamentencompliance bewährt und kommt in der Suchtberatung, Psychotherapie, allgemeiner medizinischer Behandlung, der Gesundheitsförderung, Sozialarbeit und im Vollzugswesen zum Einsatz.

Wirksamkeitsstudien zeigen, dass motivierende Gesprächsführung effektiver ist als keine Behandlung und in einigen Fällen hinsichtlich Verhaltensänderungen ebenso effektiv beziehungsweise geringfügig effektiver ist wie etablierte Psychotherapieverfahren. Beispielsweise ist vier Metaanalysen, die zwischen 2003 und 2009 auf der Basis von 236 Einzelstudien erstellt wurden, zu entnehmen, dass die Methode um 14 bis 19 Prozent eher zu einer Verhaltensänderung führte als keine Behandlung oder die Teilnahme an einer Kontrollgruppe. Im Vergleich zu etablierten Psychotherapieverfahren erwies sich die Methode um zwei bis 15 Prozent effektiver. Bei diesem Ergebnis ist allerdings zu berücksichtigen, dass es sich teilweise nur auf bestimmte Problembereiche (zum Beispiel Alkoholmissbrauch) bezieht und dass Wechselwirkungen zwischen motivierender Gesprächsführung und anderen Verfahren nicht ausgeschlossen werden konnten. Neben ihrer empirisch gesicherten Wirksamkeit weist die Methode weitere Vorteile auf. So können beispielsweise bereits nach wenigen Sitzungen nachhaltige Therapieerfolge erzielt werden. In der Regel reichen vier Sitzungen aus, wobei weitere Sitzungen den Erfolg erhöhen. Damit ist die motivierende Gesprächsführung eine kosteneffiziente, schnell wirkende Kurzzeittherapie, die sich vor allem bei knappen Kassen, Zeit- und Personalmangel und wenig zahlungskräftigen Patienten anbietet. Ein Vorteil besteht auch darin, dass motivierende Gesprächsführung keine Ausbildung in einer bestimmten Therapieschule voraussetzt, sondern von verschiedenen Berufsgruppen im Gesundheitsbereich erlernt und ausgeübt werden kann. Von Vorteil ist außerdem die große Flexibilität der Methode: Sie kann allein, ergänzend und kombiniert mit verschiedenen anderen Psychotherapieverfahren eingesetzt werden. Üblicherweise kommt sie vor einer Psychotherapie (zum Beispiel KVT) zum Einsatz, um die Behandlungsmotivation der Patienten zu erhöhen. Sie kann aber auch in bestehende Behandlungsprogramme integriert oder während einer laufenden Psychotherapie eingesetzt werden, um Motivationseinbrüche aufzufangen und um die Rückfallgefahr zu senken. Metaanalysen zeigen darüber hinaus, dass motivierende Gesprächsführung unabhängig vom Ausbildungsgrad des Therapeuten, der Schwere der Erkrankung und von verschiedenen Patientenmerkmalen wie Alter oder Geschlecht wirksam ist. Erwähnenswert ist auch, dass Patienten, die ethnischen Minderheiten angehören, gut auf die Methode ansprechen. Nach bisherigem Erkenntnisstand sind die Einsatzmöglichkeiten der motivierenden Gesprächsführung allerdings nicht unbegrenzt. Zum Beispiel wird davon abgeraten, die Methode bei Patienten einzusetzen, die aufgrund ihrer Erkrankung (zum Beispiel chronische Depressionen, Schizophrenie), ihrer mentalen Fähigkeiten oder ihres Alters nicht dazu in der Lage sind, geistig komplexe Zusammenhänge zu erfassen oder bestimmte kognitive Leistungen (zum Beispiel vergleichen, abwägen) zu erbringen. „Auch der Einsatz im Gruppensetting ist bislang nicht zu empfehlen“, meint der Psychologe Brad Lundahl von der University of Utah. Weitere Forschungen zu Kontraindikationen und Grenzen der Methode stehen noch aus.

In Deutschland wird seit etwa zehn bis 15 Jahren mit motivieren-der Gesprächsführung gearbeitet. Allerdings gibt es bisher nur wenige Anbieter qualifizierter Aus- und Fortbildungsprogramme im deutschsprachigen Raum. Zudem ist die Methode insgesamt noch wenig bekannt. Angesichts der überwiegend positiven Erfahrungen, die in den USA mit der Methode gemacht wurden, kann jedoch davon ausgegangen werden, dass sie künftig auch hierzulande das psychotherapeutische Angebot erweitern und bereichern wird.
Dr. phil. Marion Sonnenmoser


Internet:
Motivational Interviewing Network of Trainers (MINT): www.motivationalinterview.org
Interessengemeinschaft Motivierende Gesprächsführung (IGMI): www.motivationalinterviewing.ch

Kontakt:
Brad Lundahl, College of Social Work, University of Utah, 395 South 1500 East, Salt Lake City, UT 84112 (USA), E-Mail: Brad.Lundahl@ socwk.utah.edu
1.
Griffith L: The psychiatrist’s guide to motivational interviewing. Psychiatry 2008; 5(4): 42–7.
2.
Lundahl B, Burke B: The effectiveness and applicability of motivational interviewing. Journal of Clinical Psychology 2009; 65(11): 1232–45.
3.
Lundahl B, Tollefson D, Kunz C, Brownell C, Burke B: Meta-analysis of motivational interviewing. 25 years of research. Research on Social Work Practice (in press).
4.
Miller W, Rollnick S: Motivational Interviewing: Preparing people to change. New York: Guilford Press 2002.
5.
Miller W, Rollnick S: Motivierende Gesprächsführung. Freiburg: Lambertus 2005.
6.
Miller W, Rose G: Toward a theory of motivational interviewing. American Psychologist 2009; 64(6): 527–37.
1. Griffith L: The psychiatrist’s guide to motivational interviewing. Psychiatry 2008; 5(4): 42–7.
2. Lundahl B, Burke B: The effectiveness and applicability of motivational interviewing. Journal of Clinical Psychology 2009; 65(11): 1232–45.
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4. Miller W, Rollnick S: Motivational Interviewing: Preparing people to change. New York: Guilford Press 2002.
5. Miller W, Rollnick S: Motivierende Gesprächsführung. Freiburg: Lambertus 2005.
6. Miller W, Rose G: Toward a theory of motivational interviewing. American Psychologist 2009; 64(6): 527–37.

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