ArchivDeutsches Ärzteblatt1-2/2010Gesundheitsreform in den Niederlanden: Keine Blaupause für Deutschland

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Gesundheitsreform in den Niederlanden: Keine Blaupause für Deutschland

Menzler, Laura; Rabbata, Samir

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„Wadenbeißer“: Der damalige Gesundheitsminister Hans Hoogervorst setzte 2005 die umfangreichste Gesundheitsreform in der Geschichte der Niederlande durch. Foto: ap
„Wadenbeißer“: Der damalige Gesundheitsminister Hans Hoogervorst setzte 2005 die umfangreichste Gesundheitsreform in der Geschichte der Niederlande durch. Foto: ap
Vor vier Jahren trat die Gesundheitsreform in den Niederlanden in Kraft, und es zeigt sich, dass viele Erwartungen bislang unerfüllt blieben. Deutschland kann von den Erfahrungen seines westlichen Nachbarn lernen, kopieren sollte es das System nicht.

Von Politikerkollegen wurde Hans Hoogervorst mitunter als „Wadenbeißer“ bezeichnet. Wenn diese Einschätzung stimmt, dürfte dem ehemaligen Gesundheitsminister der Niederlande diese Eigenschaft dabei geholfen haben, 2005 in seinem Land nach jahrelanger Debatte die umfangreichste Gesundheitsreform in der Geschichte des Königreichs durchzusetzen. Mit einem Mix aus den zu dieser Zeit bereits auch in Deutschland diskutierten Reformoptionen Gesundheitsprämie und Bürgerversicherung setzte er vorerst einen Schlussstrich nach fast 30 Jahren erbitterten Reformstreits.

In Deutschland hat Bundesgesundheitsminister Philipp Rösler einen ähnlichen Kraftakt noch vor sich. Der FDP-Senkrechtstarter ist zwar kein Wadenbeißer, doch gilt er bei aller Jovialität im Auftreten als hart in der Sache. Durchsetzungsstark muss er auch sein, um den im Regierungsprogramm von Union und FDP angekündigten Wechsel hin zu einem (zumindest teilweise) über Prämien finanzierten Gesundheitssystem umzusetzen. Denn die Aussagen im Koalitionsvertrag zur Reform der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) sind allenfalls vage. So soll das bisherige Finanzierungssystem überführt werden in eine „Ordnung mit mehr Beitragsautonomie, regionalen Differenzierungsmöglichkeiten und einkommensunabhängigen Arbeitnehmerbeiträgen“. Welchen Umfang diese Prämie haben wird, lässt die Vereinbarung offen. Bislang ist nicht absehbar, ob sich die FDP mit ihrer Forderung nach einem vollständigen Prämiensystem gegen die Unionsparteien durchsetzen wird. Doch auch wenn mittelfristig nur der bisherige Zusatzbeitrag der Krankenkassen zu einer „kleinen Prämie“ ausgebaut wird, lohnt ein Blick in die Niederlande. Denn dort lässt sich ein Prämiensystem im Praxistest beobachten.

Wie gut es funktioniert, ist freilich umstritten. Während Experten des niederländischen Nivel-Instituts bei einer Veranstaltung der Hans-Neuffer-Stiftung der Bundesärztekammer auf Risiken und Nebenwirkungen der Reform hinwiesen, zieht das Gesundheitsministerium im Nachbarland erwartungsgemäß eine positive Bilanz. So weist Gelle Klein Ikkink, im Ministerium verantwortlich für die Reform, vor europäischen Journalisten in Oegstgeest darauf hin, dass das System noch 2006 kein gutes Image bei Patienten und Leistungserbringern hatte. Geringe Wartezeiten, erfolgreiche Behandlungen und gute Verträge mit den Versicherungsunternehmen hätten dieses Bild jedoch inzwischen verändert. Als Erfolgsfaktor macht er eine Kombination aus Wettbewerb zwischen Versicherern und Leistungserbringern und einem regulierenden Rahmen des Gesetzgebers aus.

Neu ist unter anderem, dass alle Versicherten in den Niederlanden einer gesetzlichen Versicherungspflicht unterliegen und eine jährliche Pauschale von circa 1 100 Euro zahlen müssen. Die Höhe dieser Pauschale war ursprünglich der Grund dafür, dass viele Niederländer das neue System ablehnten, denn zuvor zahlten die Versicherten nur 400 Euro. Inzwischen habe sich herausgestellt, dass Steuersenkungen und eine Erhöhung des Kindergeldes in vielen Fällen diese Zusatzkosten ausgeglichen hätten. Gleichzeitig sei aber auch das Bewusstsein für die Kosten der in Anspruch genommenen Leistungen gewachsen. Denn neben dem „Pflichtpaket“ könnten die Patienten weitere Leistungen „hinzukaufen“, erklärt Ikkink.

Nur wenige Kassenwechsler
Die geringe Bereitschaft der Versicherten, ihre Versicherung zu wechseln, ist für ihn ein Beleg für die Zufriedenheit der Patienten. In der Regel könnten sich diese nämlich jeweils nach Ablauf eines Jahres eine neue Krankenkasse suchen. Im Jahr 2006 entschieden sich noch knapp 20 Prozent für einen neuen Anbieter, 2009 waren es nur noch vier Prozent. Diese geringe Anzahl reiche dennoch für einen Wettbewerb zwischen den Unternehmen aus, betont der Ministeriale. Dabei gibt es allerdings nicht viel Auswahl: Gerade vier Unternehmen versichern 90 Prozent der Bevölkerung. Damit hat sich der Markt noch einmal verkleinert, denn zu Beginn der Reform waren es noch sechs Anbieter. Wettbewerbsmöglichkeiten sind darüber hinaus auch aufseiten der Leistungserbringer geschaffen worden. Seit der Reform sind Einzelverträge mit Ärzten erlaubt, die, so Ikkink, „neben einem erhöhten Wettbewerb auch mehr Qualität initiieren“.

Wenig euphorisch beurteilen hingegen Wissenschaftler des niederländischen Nivel-Instituts die Neuregelungen. Sie sind von der Regierung in Den Haag beauftragt, die Auswirkungen der Gesundheitsreform wissenschaftlich aufzuarbeiten. So weist Institutsdirektor Prof. Dr. Roland Friele vor der Hans-Neuffer-Stiftung darauf hin, dass mittlerweile etwa die Hälfte der Versicherten auf Unterstützung durch den Staat angewiesen sei, weil sie die Prämien nicht mehr in voller Höhe bezahlen könne. Diese Entwicklung ist auch für die Diskussion in Deutschland von Bedeutung. Denn Röslers Reformpläne stehen auch wegen der zu erwartenden hohen Belastung des Bundeshaushalts aufgrund des Sozialausgleichs in der Kritik. Friele berichtet zudem, dass staatliche Unterstützung in den Niederlanden erst auf Antrag gewährt wird – ein Prozedere also, dass hierzulande im Gesundheitswesen zumindest gewöhnungsbedürftig sein dürfte.

Gestiegene Anspruchshaltung
Das vom niederländischen Gesundheitsministerium konstatierte gesteigerte Kostenbewusstsein der Versicherten kann der Wissenschaftler nicht bestätigen. Im Gegenteil: „Nach der Reform hat sich die Einstellung durchgesetzt, wer viel für Gesundheit ausgibt, der sollte auch mehr in Anspruch nehmen.“ Andere sind erst gar nicht bereit, für ihre Gesundheit überhaupt zu bezahlen. „Wir haben ein Problem mit ,bad payers‘, die mehr als sechs Monate ihre Prämien schuldig sind“, erklärt Dr. Judith de Jong, ebenfalls Wissenschaftlerin am Utrechter Nivel-Institut. Die Zahl der Beitragssäumigen sei seit Inkrafttreten der Reform stark gestiegen.

Mit ein Grund für diese Haltung dürfte sein, dass völlig intransparent ist, wohin die Gelder fließen. Ein Äquivalent zur vierteljährlichen Ausgabenstatistik des Gesundheitsministeriums hierzulande gibt es in den Niederlanden nicht. Besonders in der stationären Versorgung ist die Datenlage über die Geldströme mangelhaft. Das erschwert naturgemäß die exakte Evaluation des Reformprojekts. Die Experten des Nivel-Instituts untersuchen deshalb unter anderem, ob die von der Regierung neu eingeführten Strukturen und Instrumente – etwa zur Förderung des Wettbewerbs – von den Versicherten angenommen werden.

Gering ist beispielsweise das Interesse an den neu eingeführten Selektivverträgen. Anders als Ministeriumsexperte Ikkink sieht Friele bislang keine Verbesserung der Versorgungsqualität durch die neuen Verträge. „Qualitätswettbewerb bei Selektivverträgen gibt es noch nicht“, sagt er. „Die mit der Reform beabsichtigte Förderung des Wettbewerbs im Gesundheitswesen ist nicht in dem Maß gelungen, wie es die Politik versprochen hat.“ Ein Grund dafür sei, dass die Unternehmen noch nicht die Prinzipien privatwirtschaftlichen Handelns verinnerlicht hätten und nur zögerlich Selektivverträge auflegten. Auch hätten die Versicherungen Angst, Kunden zu verlieren, wenn sie bestimmte Ärzte von den Verträgen ausschlössen. „Die Unternehmen befürchten, dass der Versicherte eher seine Versicherung als seinen Arzt wechselt “, so Friele. Der Wissenschaftler geht davon aus, dass es 15 bis 20 Jahre dauern wird, bis sich das Prinzip des selektiven Kontrahierens etabliert hat. Auch diese Erkenntnis dürfte auf manche Gegner der Kollektivvertragssystems in Deutschland ernüchternd wirken. Anders als in Deutschland geht man aber in den Niederlanden mit Korrekturen von bereits in Kraft getretenen Gesetzen sehr viel pragmatischer um, weshalb die von den Nivel-Experten identifizierten Schwachstellen aller Voraussicht nach Eingang in die politische Diskussion finden werden.

Hausarzt als Lotse
Auch sonst lässt sich am niederländischen Vorstoß viel lernen – als Blaupause für Deutschland kann die Reform im Nachbarland jedoch nicht dienen. Darauf verweist unter anderem Dr. Frank Schulze-Ehring vom Verband der privaten Krankenversicherung (PKV). Als Beispiel nennt er das Primärarztsystem in den Niederlanden. Jeder Patient müsse zunächst seinen Hausarzt aufsuchen, bevor er eine Behandlung beim Facharzt in Anspruch nehmen kann. Der PKV-Fachmann bezweifelt, dass ein solches obligatorisches Hausarztmodell in Deutschland akzeptiert würde. Die freie Arztwahl werde im hiesigen System hoch geschätzt. Außerdem berücksichtige das System der Niederlande nicht den demografischen Faktor. Grund dafür sei, dass die Geburtenrate dort noch sehr hoch liege und sich nicht die gleichen Bedingungen ergäben wie in Deutschland.

Konzepte zur Bewältigung der Herausforderungen einer Gesellschaft des langen Lebens sind in Deutschland aber dringend nötig. Wie lassen sich die zusätzlichen Kosten aufgrund der steigenden Morbidität gegenfinanzieren? Wie können wieder mehr junge Menschen davon begeistert werden, als Arzt oder Pflegekraft in die Patientenversorgung zu gehen? An diesen Zukunftsfragen wird sich die nächste Gesundheitsreform messen lassen müssen.

Laura Menzler, Samir Rabbata

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