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Praxisführung: Wider den Zertifizierungswahn
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Seit Jahren beobachten wir einen Trend, der Anlass zur Sorge gibt: Aus der Idee des Qualitätsmanagements (QM) hat sich eine regelrechte QM-Industrie entwickelt. Das allein muss uns noch nicht beunruhigen, sind doch wir – die Berater – auch Nutznießer dieses Hypes. Schlimm ist es für diejenigen, die ein QM-System haben oder einführen wollen.
In den 90er Jahren war es noch ein echter Wettbewerbsvorteil, ein Qualitätsmanagementsystem zu haben. Man war stolz, zu den Ersten zu gehören, und ließ sich sein QM gerne von externer Seite bestätigen. Doch die Leichtigkeit des Ansatzes mit seiner klaren Vorgehensweise und die Freude über die Zertifizierung nach ISO sind verflogen. QM wird inzwischen vielfach als Zwang und überflüssige Bürokratie empfunden. Gründe hierfür sind das gesetzliche Diktat zu QM-Systemen, die überbordenden Anforderungen sowie ein Beratermarkt mit Discountpreisen. Es ist beinahe schmerzhaft zu beobachten, wie die gute Idee des Qualitätsmanagements durch ein falsches Verständnis und eine mangelhafte Einführung auf wachsende Ablehnung stößt. Mittlerweile hängen fast überall schön eingerahmte Qualitätszertifikate. Ob in den Praxen und Einrichtungen auch wirklich Qualitätsmanagement nutzbringend eingesetzt, das heißt gelebt wird, steht auf einem anderen Blatt.
Dabei kann den Praxisinhabern und Geschäftsführern nicht einmal ein Vorwurf gemacht werden. Sie verhalten sich (markt-)konform und erfüllen die gesetzlichen Forderungen. Sie machen sich allerdings auch ein anderes Gesetz zunutze, nämlich das des geringsten Widerstands. Da man kein Geld zu verschenken hat, werden oft allgemeingültige Publikationen bestellt und für das eigene Haus als QM-Handbuch zu Vorgabe gemacht. In Gruppenprojekten an wenigen Wochenenden oder Abenden wird „Instant-QM-Wissen“ eingetrichtert und mit einem Zertifikat bestätigt.
Die Vielfalt und das Brimborium um die Verleihung von Zertifikaten zeigen heute Auswüchse, die QM immer stärker in ein negatives Bild rücken. Dabei ist nicht der Prozess der Zertifizierung das Problem, sondern die „automatische“ Verbindung eines QM-Systems mit der „dazugehörigen verpflichtenden“ Kontrolle. Für diese „Wartungsverträge ohne Nutzen“ wird die Werbetrommel so laut geschlagen, dass QM-Systeme ohne Zertifikat nicht als vollwertig angesehen werden – und dies auch, wenn sie gut ein-geführt, von der Belegschaft akzeptiert und „gelebt“ werden. Die Motivation und die Vorteile der Zertifizierungsindustrie sind offensichtlich: Da gibt es Lizenzgebühren für das Zertifikat, kostenpflichtige Zulassungen und Akkreditierungen für Beratungen, Prüfungsordnungen, unendlich dicke Fragenkataloge und vor allem das starre Prozedere mit Dokumentationsprüfung und teils mehrtägigen, kostenintensiven Begehungen. Hinzu kommen Gutachten, Abweichungsprotokolle mit unkalkulierbaren Auswirkungen sowie der nicht selten ominöse „Akt der Verleihung“.
Damit der Schornstein qualmt, soll dann – meist noch jährlich – eine zusätzliche Begehung stattfinden, und dies wiederum mit Gutachten, Abweichungsprotokoll, Bestätigung des Zertifikats. Der so erzeugte Termindruck kann zwar ein Mindestmaß der Beschäftigung mit dem Thema sichern, trägt aber dazu bei, dass halbherzige und unausgereifte Entscheidungen getroffen, Motivation gedämpft, Kreativität gestört und die Lust am QM nachhaltig verdorben wird. Qualitätsmanagement wird, weil unverstanden, abgelehnt und mehr und mehr zur Farce.
Die oft kritisch gesehene gesetzliche Verpflichtung zum QM sollte aber nicht grundsätzlich abgelehnt werden. Denn nicht überall ist die Kundenmacht so ausgeprägt wie in Handel und Industrie, wo der Kunde mit seinem Kaufverhalten ganze Produktlinien zu Fall bringen kann. Die Patienten sind eben nicht Kunden im Sinne der freien Wirtschaft, sondern stehen in einem „Vertrauensverhältnis“ zum Arzt, Pfleger und Therapeuten. Wo aber Vertrauen zur Grundlage materieller Entscheidungsprozesse wird, sollte ein Sicherungssystem nicht fehlen. Es ist wohlverbreitetes Interesse, die Ausgabensteigerungen im Gesundheitswesen über intelligente Steuerungsmechanismen einzudämmen und gleichzeitig die gewünschte Qualität sicherzustellen. Über beide Stellschrauben – Sicherung und Steuerung – können durch sinnvollen Einsatz von QM Korrekturen im System vorgenommen werden.
Die zentrale Frage lautet: Was unterscheidet ein sinnvolles QM-System von einem unsinnigen? Einen Teil der Antwort liefert schon die Definition dessen, was QM eigentlich ist. QM ist Planung statt Zufall, Agieren statt Reagieren. QM ist Weitblick und sicherer Überblick über sämtliche Zusammenhänge. QM ist das Identifizieren von Wesentlichem und das Zurückdrängen von Belanglosem; es ist das Fördern und Verstärken von Potenzialen. QM ist Klarheit und intelligente Führung. QM ist Besser-werden-Wollen.
Diese Philosophie lässt sich erfolgversprechend umsetzen, wenn einige Spielregeln beachtet werden:
1. Die Leitung muss es wollen. Sie wird dies zeigen durch Bereitstellen von Ressourcen (Geld, Personal) sowie durch Entwickeln und Vorgeben einer Orientierung mit Hilfe von Leitbild und Zielen.
2. Die Klarheit kommt durch Reflexion vor dem Festlegen. In jeder Organisation gibt es Regeln; die sinnvollen, praktikablen und akzeptierten werden im Rahmen des QM festgelegt. Dazu gehören klare Zuständigkeiten und Abläufe. Klar meint eindeutig, widerspruchsfrei, aufgeschrieben und verfügbar.
3. Alles wird vom Wunsch geleitet, das Haus weiterzuentwickeln. In diesen drei Punkten liegt der Kern des QM. Alle Standards und gesetzlichen Mindestanforderungen fußen auf diesen Regeln. Wie kommen wir zu diesen Wurzeln zurück?
Der QM-Ansatz muss von Überfrachtungen, etwa Umwelt-, Risiko-, Ressourcenmanagement, befreit werden. Wenngleich die Kopplung mit weiteren Managementansätzen sinnvoll sein kann, gilt es, eine wichtige Leistung des QM zu beachten: der Blick auf das Wesentliche.
Qualitätsmanagement, aber nicht Zertifizierung, ist eine Verpflichtung. Die Zertifizierung ist nicht die Krönung eines QM-Projekts. Sie lässt den externen Blick zu, der weniger prüfend als vielmehr beratend gemeint, über den Stand des eigenen QM Auskunft erlaubt und Potenziale für die Weiter-arbeit ermöglichen sollte. Das ist Agieren, intelligente Führung, Suche nach Entwicklungspotenzialen, deren Fördern und Verstärken. Das ist Besser-werden-Wollen.
Der Einfluss von Beratung muss neu justiert werden. QM kann auch von innen und selbstständig aufgebaut werden. Nicht die Berater lenken und steuern, sondern die Unternehmensleitung. Der Berater begleitet aus dem Hintergrund, gibt Hinweise, hilft, erklärt, befähigt die Akteure zum Selbermachen – er coacht. Das hat einen nicht zu unterschätzenden Effekt der Akzeptanz und Dauerhaftigkeit zur Folge. Berater sollten nicht die Handbücher schreiben oder lange Vorträge vor den Mitarbeitern halten oder mit der Arroganz auftreten, alles besser zu wissen.
Die richtige Strategie liegt im wohldosierten Mix vorstehender Empfehlungen. Dann könnte eines nicht allzu fernen Tages vielleicht sogar die wichtigste Leistung von QM zum Vorschein treten – nämlich die, dass QM Freude an der Arbeit ist, weil Arbeit wieder Freude macht.
Dr. Thomas Müller, Harald Schwarz
www.mediQs.de
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