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Neue Influenza: Kritik ohne Realitätssinn


Dr. med. Vera Zylka-Menhorn, Ressortleiterin Medizinreport
Bei der „normalen“ Grippe kennt man die zirkulierenden Viren gut, sie verändern sich stetig in geringem Maß, so dass der Impfstoff jährlich „nur“ angepasst werden muss; daher existiert in der Bevölkerung eine gewisse Immunität. Zu den unzweifelhaften Tatsachen gehört, dass A/H1N1 ein neues Influenzavirus ist, das sich außerhalb der üblichen Grippesaison verbreitet hat und dessen weitere Entwicklung nicht absehbar war (und immer noch nicht ist). Es existierte daher keine oder lediglich eine beschränkte Immunität in der Bevölkerung. Schwere Verläufe und Todesfälle traten vor allem bei jüngeren Menschen auf. Dies war die Ausgangslage, auf der relevante gesundheitspolitische Entscheidungen getroffen werden mussten, um den Staat auf ein potenziell gefährliches Virus vorzubereiten.
Es war aus virologischer Sicht daher unverzichtbar, Vorräte an Impfstoffen und antiviralen Medikamenten anlegen zu lassen. Auf Bitten der Politik hat die viel gescholtene Industrie in kürzester Zeit auf der Basis von Musterimpfstoffen effiziente Vakzinekandidaten in ausreichender Menge zur Verfügung gestellt. Dies ist ein Beweis für die Leistungsfähigkeit der Branche. Daran ändern auch möglicherweise schlecht ausgehandelte Verträge zwischen Herstellern und Bundesländern nichts, in denen bestimmte Mengenabnahmen vereinbart wurden. Das letztlich eine einzige statt zwei Impfdosen pro Person gegen A/H1N1 ausreichte, war zum Zeitpunkt der Bestellung nicht abzusehen. Hätte Deutschland keine Pandemie-Vorbereitungen getroffen und die Schweinegrippe hierzulande einen ähnlichen Verlauf genommen wie in der Ukraine, wo das soziale Leben virusbedingt zum Stillstand kam, stünde nun der Vorwurf der Fahrlässigkeit im Raum.
Wo ist das rechte Maß des Handelns? Risikoforscher Prof. Dr. Ortwin Renn vom Institut für Sozialwissenschaften an der Uni Stuttgart gab im „Tagesspiegel“ (31. Januar) folgende Empfehlung: „Politik, Wissenschaft und Medien haben die Aufgabe, alles dazu beizutragen, damit die Menschen . . . Risikomündigkeit auch entwickeln können. Dazu gehören Informationen über den Stand des Wissens zu dem jeweiligen Risiko, Kommunikation über die Wahrnehmungs- und Bewertungsmuster der Menschen und das Aufzeigen von Steuerungsmöglichkeiten, die der Einzelne oder die Gemeinschaft zum Umgang mit diesen Risiken nutzen kann.“
Dr. med. Vera Zylka-Menhorn
Ressortleiterin Medizinreport
Steinberg, Fritz
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