ArchivDeutsches Ärzteblatt6/2010Ambient Assisted Living – Assistenzsysteme: Notwendig oder wünschenswert?

THEMEN DER ZEIT

Ambient Assisted Living – Assistenzsysteme: Notwendig oder wünschenswert?

Krüger-Brand, Heike E.

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Ein mit Sensoren ausgestatteter intelligenter Nothalteassistent für Pkw könnte künftig in medizinischen Notfällen, wie etwa Bewusstlosigkeit des Fahrers, eingreifen und das Auto sicher zum Stehen bringen. Foto: BMW
Ein mit Sensoren ausgestatteter intelligenter Nothalteassistent für Pkw könnte künftig in medizinischen Notfällen, wie etwa Bewusstlosigkeit des Fahrers, eingreifen und das Auto sicher zum Stehen bringen. Foto: BMW
Das Bundesforschungsministerium stockt die Fördermittel für das Forschungsfeld „Assistenzsysteme im Dienst des älteren Menschen“ weiter auf. Ziel ist es, eingeschränkten und hilfsbedürftigen Menschen länger ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen.

Es kommt nicht nur darauf an, wie alt wir werden, sondern wie wir alt werden“, erklärte Prof. Dr. Ursula Lehr, ehemalige Bundesgesundheitsministerin und renommierte Alternsforscherin, beim 3. AAL-Kongress in Berlin*. Dabei geht die quirlige, beinahe 80-Jährige mit gutem Beispiel voran: Erst Ende 2009 hat die Gerontologin den Vorsitz der Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren-Organisationen übernommen und beschäftigt sich in dieser Funktion auch mit dem relativ neuen Thema „Ambient Assisted Living“ (AAL). Dieser etwas sperrige Begriff steht für „Leben in unterstützender Umgebung“. Er umschreibt die Forschung und Entwicklung intelligenter (unaufdringlicher) Assistenzsysteme, die dazu beitragen sollen, das Leben in einer alternden Gesellschaft künftig zu erleichtern.

Denn die Herausforderungen des demografischen Wandels sind immens: Während 1890 statistisch auf einen über 75-Jährigen noch 79 jüngere Personen kamen, waren das 1970 nurmehr 25 Personen und im Jahr 2008 nur noch knapp zehn, wie die Gerontologin berichtete. Gleichzeitig korreliert die steigende Lebenserwartung mit der Zunahme der Pflege- und Unterstützungsbedürftigkeit. Und längst nicht jedem gelingt es, agil, tatkräftig und selbstbestimmt zu altern, wie die wachsende Anzahl der demenziell Erkrankten verdeutlicht: Bei den über 90-Jährigen sind circa 30 Prozent davon betroffen. Die „präventive Umweltgestaltung“ sei wichtig, um Hinfälligkeit und Pflegebedürftigkeit im Alter zu vermeiden oder hinauszuschieben, betonte Lehr. Bei ungünstigen Umweltbedingungen bleibe einem älteren Menschen bei kleineren Einschränkungen nur der Umzug in ein Altenheim oder in ein betreutes Wohnen, bei günstigen Bedingungen könne er länger zu Hause in der gewohnten Umgebung bleiben.

Vor diesem Hintergrund will das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) Konzepte für eine neue Generationenpolitik entwickeln und die Forschung für ein selbstbestimmtes Leben im Alter deutlich ausbauen. „Wir sparen nicht an dieser Stelle. Im neuen Haushalt des BMBF sind für das Jahr 2010 zusätzlich 21 Millionen Euro Fördermittel hierfür vorgesehen, so dass für das Forschungsfeld AAL in diesem Jahr insgesamt 30 Millionen Euro zur Verfügung stehen“, erklärte Thomas Rachel, parlamentarischer Staatssekretär im BMBF. Darüber hinaus werde die Bundesregierung das Thema „demografischer Wandel“ für die „Joint Programming“-Forschungsaktivitäten der Europäischen Union (EU) vorschlagen, um die Chancen und Herausforderungen der steigenden Lebenserwartung neben den anderen großen Themen – Umweltschutz, Klimawandel und Energiesicherheit – „als vierte große Herausforderung mit globaler Dimension“ auf europäischer Ebene zu diskutieren, kündigte Rachel an.

Barrierefreie Mobilität als neuer Schwerpunkt
Stärker als bisher sollen zudem nichttechnologische Aspekte berücksichtigt werden, um die Akzeptanz bei den Nutzern sicherzustellen und Berührungsängsten entgegenzuwirken. Für die soziale und gesellschaftswissenschaftliche Begleitforschung stellt das BMBF in den nächsten drei Jahren daher eine Million Euro Fördermittel bereit. So hat bereits eine Studie zu nutzerabhängigen Innovationsbarrieren an der Technischen Universität Berlin begonnen. Ausschreibungen für zwei weitere Untersuchungen zu haftungs- und datenschutzrechtlichen Fragen sowie zur positiven Kommunikation von Technik und Alter sollen demnächst starten.

Als neuer Schwerpunkt innerhalb AAL ist das Thema „barrierefreie Mobilität“ hinzugekommen. Die Entwicklung altersgerechter Assistenzsysteme betreffe nicht nur das Wohnumfeld, sondern auch die Teilhabe älterer eingeschränkter Menschen am öffentlichen Leben, erläuterte Rachel. Die Förderung der Mobilität bis ins hohe Alter muss daher unter anderem auch sämtliche Fortbewegungsmittel, wie den öffentlichen Nahverkehr, Automobile, die Bahn und Flugzeuge, einbeziehen.

Nicht nur für das häusliche Umfeld, sondern für die gesamte Lebenswelt der Nutzer sollen AAL-Technologien unaufdringlich Unterstützung bieten.
Nicht nur für das häusliche Umfeld, sondern für die gesamte Lebenswelt der Nutzer sollen AAL-Technologien unaufdringlich Unterstützung bieten.
Ein spektakuläres Beispiel hierfür liefert BMW: Der Automobilhersteller entwickelt im Rahmen des AAL-Projekts „Smart Senior“ einen mit Sensoren ausgestatteten intelligenten Nothalteassistenten für Pkw, der die Fahrtüchtigkeit gesundheitlich eingeschränkter Autofahrer auswerten und in kritischen Situationen, wie etwa Bewusstlosigkeit oder Schlaganfall, einen abgesicherten Nothalt durchführen kann. Weitere Beispiele sind ortsunabhängige Notfallerkennungs- und Assistenzsysteme, mit denen sich ältere Menschen auch unterwegs sicher fühlen können. Denkbar ist hier beispielsweise ein unauffälliges, einfach zu bedienendes Armband, das Puls, Blutdruck und andere Vitaldaten misst und an eine telemedizinische Servicezentrale überträgt.

AAL-Technik ist weiter als ihre Nutzung im Alltag
Weitere Forschungsinitiativen des BMBF, die noch im Laufe dieses Jahres gestartet werden sollen, betreffen mobile Diagnostiksysteme, Weiterbildungsmaßnahmen zu AAL sowie Assistenzsysteme in der Rehabilitation (Kasten).

„Die Technik für intelligente Assistenzsysteme ist viel weiter als ihre Nutzung im Alltag“, sagte der VDE-Vorstandsvorsitzende, Dr. Hans Heinz Zimmer. Nicht das einzelne System, das das Alltagsleben einfacher und komfortabler mache, sei aus technischer Sicht das Problem. Herausforderungen sieht er vielmehr im Aufbau einer leistungsstarken IT-Infrastruktur und Hausvernetzung sowie in der Interoperabilität von Komponenten und Endgeräten. Ohne Systemintegration auf der Basis spezifischer Normen und Standards sei das nicht möglich. Zu diesem Ergebnis kommt das VDE-Positionspapier „Intelligente Heimvernetzung – Sicherheit, Komfort, Selbstbestimmung“, das beim Kongress vorgestellt wurde. Der VDE plädiert daher dafür, ein anwendungs- und branchenübergreifendes Gesamtkonzept für AAL-Technologien zu entwickeln.

Nicht zuletzt ist AAL auch unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten interessant. Das betrifft nicht nur die erhofften Einsparpotenziale im Gesundheitswesen. Nach einer Studie von Data-Monitor wird der globale Wachstumsmarkt allein in den USA und Europa von drei Milliarden US-Dollar im Jahr 2010 auf bis zu 7,7 Milliarden US-Dollar 2012 steigen. Deutschland verfüge über eine gute Position und sei in den betreffenden Technikbereichen wie etwa Medizintechnik und Systemtechnik gut aufgestellt, so Zimmer. Nach der VDE-Trendstudie „MedTech 2020“ ist Deutschland bei Telemedizin und E-Health gar auf dem Weg zum Innovationsführer. „In fünf Jahren kann Europa an den USA vorbeiziehen und bis 2020 seinen Vorsprung ausbauen“, prognostizierte Zimmer. Der VDE erwartet ein schnelles Marktwachstum und eine breite Nutzung von AAL-Leistungen und Produkten schon im Jahr 2015. Bürokratie und die Finanzierung im Gesundheitswesen seien derzeit jedoch Hürden, um innovative Produkte in den Markt einzuführen, kritisierte der Verbandsvorsitzende.

Wünschenswerte Medizinprodukte
Medizinprodukte werden in der Regel zwar als notwendig betrachtet, aber nicht als wünschenswert – ein entscheidendes Hemmnis für den Erfolg eines Produkts oder einer Dienstleistung. So ist häufig zwar die Akzeptanz des technischen Hilfsmittels vorhanden, aber es wird trotzdem nicht benutzt, wie das Beispiel Rollator zeigt. Auf diesen Aspekt verwies Prof. Dr. Ralph Tunder vom Healthcare Management Institut an der European Business School in Oestrich-Winkel. „Keiner gibt gerne zu, dass er auf Hilfsmittel angewiesen ist“, erklärte Tunder. „Der Nutzer vergleicht Innovationen mit bestehenden Lösungen hinsichtlich Preis und Leistungsangebot. Er sucht aus seiner subjektiven Wahrnehmung heraus einen komparativen Nutzenvorteil“, meinte Tunder.

Um Begeisterung für ein Produkt zu wecken, reicht es somit nicht aus, von seiner Notwendigkeit zu überzeugen. Aus Sicht des Nutzers sollte es wünschenswert sein, das Produkt zu besitzen („ich habe kein Handy, sondern ein iPhone“) und begeistert vorzuzeigen nach dem Motto: „Ist mein Armband nicht toll? Damit kann ich meine biometrischen Daten an mein telemedizinisches Servicezentrum übermitteln, und wenn mir was passiert, ist direkt Hilfe da.“
Heike E. Krüger-Brand

*AAL = Ambient Assisted Living, 3. Deutscher AAL-Kongress, ausgerichtet vom Bundesforschungsministerium und dem Verband der Elektrotechnik, Elektronik und Informationstechnik (VDE) Ende Januar 2010 in Berlin (www.aal-kongress.de)

AAL-Forschungsmassnahmen
Zusätzlich zu den 18 Forschungsprojekten, die bereits überwiegend 2009 ihre Arbeit aufgenommen haben und die das BMBF mit 45 Millionen Euro fördert, sind für 2010 drei weitere BMBF-Förderinitiativen für AAL vorgesehen.

Mobile Diagnostiksysteme: Entwickelt werden sollen tragbare bioanalytische Systeme („Lab-on-a--chip“), die beispielsweise Volkskrankheiten wie Diabetes direkt vor Ort schnell und zuverlässig erkennen. Die Proben müssten nicht mehr an Zentrallaboratorien geschickt werden, wo erst Tage später die Diagnose erfolgt, sondern mit diesen miniaturisierten Systemen wären Bluttests einfach vom Hausarzt oder gegebenenfalls vom Patienten selbst durchführbar. Dadurch könnten auch gefährliche Infektionen wie Hepatitis oder Risikoindikatoren für Herz-, Leber- und Nierenkrankheiten schneller erkannt und Krankheiten früher behandelt werden (bereits ausgeschrieben; Fördervolumen: 15 Millionen Euro).

Weiterbildung AAL: Die förderpolitische Maßnahme umfasst die interdisziplinäre berufliche Weiterbildung der beteiligten akademischen und nichtakademischen Berufe und die Entwicklung entsprechender Qualifizierungsangebote. So müssen im Handwerk und in sozialen Berufen Kenntnisse etwa zu IT im Gesundheitswesen, Medizintechnik und Telemedizin, Barrierefreiheit sowie zu rechtlichen und ethischen Rahmenbedingungen vermittelt werden. Für die akademische Weiterbildung wäre zum Beispiel eine Zusatzqualifikation etwa im Rahmen eines akkreditierten Masterstudiengangs mit einer AAL-spezifischen Berufsbezeichnung denkbar.

Assistenzsysteme in der Rehabilitation: Ziel ist die Intensivierung der Frührehabilitation zum Beispiel von Schlaganfall- oder Diabetespatienten zur Vermeidung langfristiger Einschränkungen und die Verbesserung der ambulanten Rehabilitation. Assistenzsysteme können dem Training und der Wiederherstellung etwa motorischer oder sensorischer Funktionen und Fähigkeiten dienen. Rehamaßnahmen zu Hause können zum Beispiel durch den Einsatz von Telerehabilitation mit intelligenten Systemen langfristig die klinischen Ergebnisse sichern und dazu beitragen, kritische Phasen zu überbrücken.

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