ArchivDeutsches Ärzteblatt7/2010Forum „Fortschrittsfalle Medizin“: Ohne gesellschaftlichen Diskurs geht es nicht

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Forum „Fortschrittsfalle Medizin“: Ohne gesellschaftlichen Diskurs geht es nicht

Spielberg, Petra

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„Die moderne Medizin ist Opfer ihres eigenen Erfolgs geworden.“ Walter Krämer, Gesundheitsökonom. Foto: AWK
„Die moderne Medizin ist Opfer ihres eigenen Erfolgs geworden.“ Walter Krämer, Gesundheitsökonom. Foto: AWK
Wie viel Gesundheit können wir uns leisten? An dieser Frage erhitzten sich die Gemüter zwischen Wirtschaftswissenschaftlern und Ärzten bei einer Diskussion in der Akademie der Wissenschaften und Künste Nordrhein-Westfalen.

Manchmal bedarf es nur eines Wortes, um Widerspruch zu provozieren. Bei Diskussionen zur Zukunft des Gesundheitswesens lautet ein solches Zauberwort „Rationierung“. Der Gesundheitsökonom der Technischen Universität Dortmund, Walter Krämer, scheute sich dennoch nicht, bei einem Forum der nordrhein-westfälischen Akademie der Wissenschaften und Künste, die These aufzustellen, dass die Rationierung in der medizinischen Versorgung unausweichlich sei.

„Das Problem der modernen Medizin sind nicht ihre Mängel, sondern ihre Möglichkeiten“, sagte Krämer. Die stetige Ausweitung des Leistungsangebots, die mit einer überproportional gewachsenen Nachfrage einhergehe, habe dazu geführt, dass es finanziell nicht mehr möglich sei, allen Patienten eine optimale Versorgung zu garantieren. „Die moderne Medizin ist Opfer ihres eigenen Erfolgs geworden“, meinte Krämer.

Der Wirtschafts- und Sozialstatistiker wies in diesem Zusammenhang auf ein Paradox der modernen Medizin hin: „Früher war der Patient nach einer Woche entweder tot oder gesund. Heute ist dies anders, da die moderne Medizin ein großes Arsenal an Abwehrwaffen bereithält, die uns zwar am Leben erhalten, aber uns nicht komplett gesund machen.“ Die große Gleichung „mehr Geld gleich mehr Gesundheit“ sei somit falsch, erklärte Krämer. Auch mit einem Mehr an Prävention sei dem Dilemma der modernen Medizin nur unzureichend zu begegnen. Denn Prävention sei unter reinen Kostenaspekten in der Regel ein Verlustgeschäft. „Ob nämlich die erfolgreiche Prävention einer Krankheit das Gesundheitsbudget entlastet oder nicht, hängt offenbar entscheidend davon ab, was billiger ist: die verhinderte Krankheit oder die, die man stattdessen kriegt.“ Krämer forderte daher, dass die Politik verbindliche Aussagen zur Entwicklung des Gesundheitswesens im Sinne einer sozialverträglichen Rationierung treffen solle. Bundesgesundheitsminister Philipp Rösler warf der Wirtschaftswissenschaftler vor, mit Äußerungen, wie „Überlegungen zu einer Priorisierung stünden im Bundesgesundheitsministerium nicht auf der Tagesordnung“ die dringend notwendige Debatte über eine humane Rationierung zu verhindern.

Mit seinen Forderungen provozierte Krämer nicht nur seine Mit-referenten, sondern auch die anwesenden Ärztinnen und Ärzte. Eine Rationierung sei mit dem ärztlichen Selbstverständnis nicht in Einklang zu bringen, betonte Klaus Bergdolt, langjähriger Direktor des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin der Universität zu Köln.

Der Transplantationsmediziner Eckhard Nagel (Universität Bayreuth), der auch Mitglied des Deutschen Ethikrats ist, warf Krämer vor, auf der Basis falscher medizinischer Annahmen ethisch problematische Aussagen zu treffen, die einen Teil der Patienten ausgrenzten. Man könne nicht die Rationierung im Gesundheitswesen zum Ausweg aus einer vermeintlichen medizinischen Fortschrittsfalle und finanziellen Krise deklarieren, die so nicht existiere, sagte Nagel. Gleichwohl räumte er ein, dass die Transplantationsmedizin ein Paradebeispiel für das Problem der Verteilungsgerechtigkeit sei. Allerdings seien hier weniger das Geld und der Fortschritt die limitierenden Faktoren als vielmehr der Mangel an Spendern. Nagel zufolge stagniert in Deutschland die Zahl der gespendeten Organe bei etwa 3 900 pro Jahr. Die Folge: Täglich sterben drei Patienten auf der Warteliste, weil für sie nicht rechtzeitig ein Spenderorgan verfügbar ist. Eine Priorisierung hält deshalb auch Nagel für unabdingbar. Es sei Aufgabe der Politik, dies auf der Grundlage eines gesellschaftlichen Diskurses zu entscheiden. Die Transplantationsmedizin sei zugleich ein ideales Paradigma, um das Thema der Verteilungsgerechtigkeit öffentlich zu diskutieren.
Petra Spielberg

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