THEMEN DER ZEIT: Interview
Interview mit Hubert Hüppe, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen: Berührungspunkte statt Berührungsangst
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Hubert Hüppe, CDU, ist verheiratet
und hat drei Kinder, von denen
der jüngste Sohn mit Spina bifida
geboren wurde.
Herr Hüppe, die letzten 18 Jahre waren Sie Bundestagsabgeordneter, davon acht Jahre Behindertenbeauftragter der CDU/CSU-Fraktion. In dieser Legislaturperiode gehören Sie zwar nicht mehr dem Bundestag an, sind jedoch zum Bundesbehindertenbeauftragten ernannt worden. Was bedeutet das Amt für Sie?
Hüppe: Natürlich habe ich mich sehr über die Ernennung gefreut, denn sie gibt mir die Möglichkeit fortzusetzen, was ich in den Jahren als Behindertenbeauftragter der Fraktion begonnen habe. Dabei geht es nicht darum, dass Menschen mit Behinderungen jemanden benötigten, der für sie spricht. Sie sind gut organisiert und kennen ihre eigenen Belange selbst am besten. Durch die Anbindung an Regierung und Parlament sehe ich das Amt aber als Möglichkeit, den berechtigten Interessen politische und öffentliche Aufmerksamkeit zu geben. Ich mache mir natürlich Gedanken, ob ich der Verantwortung und den Erwartungen gerecht werden kann, die an meine Person geknüpft sind. Viele Behindertenverbände und Einzelpersonen haben es sehr unterstützt, dass ich diese Position erhalten konnte. Wie ich immer sage: Ich kann nicht über das Wasser gehen, aber ich werde mein Möglichstes tun.
Welche Ziele haben Sie sich gesetzt?
Hüppe: Ich will mehr gemeinsame Lebensräume für Menschen mit und ohne Behinderung schaffen: in der Schule, im Kindergarten, in der Arbeitswelt – also das, was der Begriff „Inklusion“ meint. Leider ist mein Einfluss auf landespolitische Zuständigkeiten wie beim Thema Schule gering. Aber seit in Deutschland die UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen gilt, haben wir anerkannt, dass Teilhabe ein Menschenrecht ist. Dies werde ich anmahnen und auch von den Ländern einfordern. Meine Mitwirkung bei der Umsetzung der Konvention wird meine wichtigste Aufgabe sein. Dazu werde ich die Aufgabe des „Koordinierungsmechanismus“ übernehmen. Das bedeutet, dass ich bei der Umsetzung vor allem die Betroffenen beteilige, weil sie ihre Probleme am besten kennen und oft auch die Lösungen wissen. Gleichzeitig will ich auch andere gesellschaftliche Gruppen und die Länderbeauftragten einbeziehen. Die Bundesregierung wird für den Bund einen Aktionsplan erstellen.
Wann ist mit dem Plan zu rechnen?
Hüppe: Mit den Vorbereitungen wurde schon begonnen. Ich rechne damit, dass er Ende des Jahres erstellt ist.
Ihre Vorgängerin im Amt, Karin Evers-Meyer, SPD, hatte ähnliche Arbeitsschwerpunkte. Werden Sie auch noch andere Prioritäten setzen?
Hüppe: Anders als meine Vorgänger halte ich die bioethische Diskussion für sehr wichtig. Ich glaube, dass es gut ist, auch in diesem Amt darauf zu achten. Ein weiterer Schwerpunkt für mich ist der Bereich Gesundheit und Rehabilitation. Ich will versuchen, die Leistungen für Menschen mit Behinderung auf ihre Zuständigkeit hin zu durchforsten. Denn es gibt eine ganze Menge Ansprüche, die Menschen mit Behinderung laut Gesetz haben, die diese aber nicht erhalten, weil Kranken-, Pflege-, Rentenkassen und andere Träger die Verantwortung den jeweils anderen zuschieben.
Glauben Sie, dass die pränatale Diagnostik einen Einfluss auf das Bild der Behinderten in unserer Gesellschaft hat?
Hüppe: Ja, natürlich! Kinder mit Behinderungen gelten als „vermeidbar“, wenn sie geboren werden sogar juristisch als Schaden.
„Die Umsetzung der
UN-Behindertenrechtskonvention
wird im Mittelpunkt meines
neuen Amtes stehen.“
Hüppe: Ja, aber ich will das nicht heraufbeschwören. Die CDU hat sich beim Bundesparteitagsbeschluss fast einmütig gegen die PID ausgesprochen, und ich hoffe, dass nicht ausgerechnet unter einer christlich-demokratisch geführten Regierung das Embryonenschutzgesetz angefasst wird. Das würde niemand verstehen.
Thema Spätabtreibungen: Die Bedenkzeit wurde eingeführt. Können Sie sich damit zufriedengeben?
Hüppe: Natürlich freue ich mich, dass jetzt mehr beraten wird. Man muss aber darauf achten, dass Behinderten- und Angehörigenverbände an der unabhängigen Beratung teilnehmen. Denn es ist für unsichere Eltern wichtig zu wissen, wie man mit einem behinderten Kind lebt. Enttäuscht war ich, dass die Statistikpflicht im Parlament abgelehnt wurde. Zufrieden kann ich nicht sein, solange in Deutschland ungeborene Kinder immer noch bis zur Geburt getötet werden dürfen, sogar wenn sie außerhalb des Mutterleibes lebensfähig wären.
Für behinderte Kinder gibt es ja das Recht, die Regelschule zu besuchen. Hat sich das in Deutschland bereits durchgesetzt? Oder ist es für behinderte Schüler und deren Eltern immer noch sehr schwer, auf eine Regelschule zu gelangen?
Hüppe: Das Problem in Deutschland ist, dass Menschen mit Behinderungen, solange sie den für sie vorgesehenen Sonderweg gehen, kein Stein in den Weg gelegt wird. Falls sie aber Teilhabe wollen, wird es schwierig. Ich nenne ein Beispiel aus Westfalen: Wenn Sie dort Ihr behindertes Kind in einen heilpädagogischen Kindergarten geben, dann wird es zu Hause abgeholt und wieder heimgebracht, und Sie zahlen keinen Beitrag. Wenn dasselbe Kind aber in den integrierten Kindergarten geht, dann zahlen Sie den Kindergartenbeitrag, obwohl die erste Variante viel teurer ist. Das ist völlig gegen das, was die UN-Konvention will. Nämlich, dass Kinder mit und ohne Behinderungen von klein auf den Umgang miteinander lernen. Viele unbehinderte Menschen fühlen sich unsicher, wenn sie behinderten Menschen begegnen, wissen nicht, was sie machen sollen. Und weil sie das nicht wissen, gehen sie den Situationen – und damit den Menschen – oft aus dem Wege. Dabei verpassen wir alle etwas.
Sie haben selbst einen behinderten Sohn. Haben Sie auch diese Probleme?
Hüppe: Wir waren die Ersten, die in unserer Stadt an der Grundschule eine Integrationsklasse mit gemeinsamem Unterricht durchgesetzt haben, und die Ersten, die ein behindertes Kind an der fortführenden Hauptschule hatten.
Sie sagen „durchgesetzt“: Was war denn nötig, um den gemeinsamen Unterricht zu erreichen?
Hüppe: Zuerst mussten wir einmal eine Schule finden, die bereit war, ein behindertes Kind aufzunehmen. Viele Schulen haben sich geweigert und fadenscheinige Gründe vorgebracht, warum es nicht geht. Letztendlich war es die städtische Schule, die dann zugestimmt hat.
Welche Vorkehrungen sind nötig, um solche Kämpfe künftig zu vermeiden?
Hüppe: Die Zahl behinderter Kinder im gemeinsamen Unterricht ist in den Bundesländern sehr unterschiedlich. Ich wünsche mir konkrete Zahlen und Termine. Jedes Bundesland soll sagen: „Wir haben jetzt zehn Prozent, aber wir wollen 20, 30 oder 40 Prozent der Kinder inklusiv unterrichten.“ Das ist der richtige Weg. Ein jetzt vorgelegtes Gutachten gibt grundsätzlich jedem Kind mit Behinderung einen Anspruch. Andere europäische Länder liegen bei 80 Prozent.
„Ich will mehr gemeinsame Lebensräume für Menschen
mit und ohne Behinderung schaffen –
in der Schule, im Kindergarten, in der Arbeitswelt.“ Fotos: Georg J. Lopata
Hüppe: Man schätzt 14 Prozent. Wir haben übrigens erstaunlicherweise zusätzlich eine Zunahme von Kindern in Förderschulen. Es ist auffällig, dass darunter immer mehr Kinder mit Migrationshintergrund sind. Da stellt sich die Frage, ob sie wirklich behindert oder vielleicht nur aus dem System rausgedrückt worden sind. Man muss aufpassen, dass man Kinder nicht als „behindert“ definiert, nur weil sie in der Schule sozial auffällig werden. Wir sollten in allen Bereichen, wie Berufsleben, Bildung, Kindergarten, schauen, was die Menschen können – und nicht nur danach, was sie nicht können.
Wird es in der Situation der Wirtschaftskrise schwieriger, für behinderte Menschen einen Arbeitsplatz zu finden?
Hüppe: Natürlich wird es dadurch nicht einfacher. Es gibt für Menschen mit Behinderung ganz viele verschiedene – zum Teil auch teure – Maßnahmen, Programme und Einrichtungen. So viele, dass auch der Sachbearbeiter beim Jobcenter kaum durchblickt. Auch hier wünsche ich mir einfachere Wege. Dazu gehört ein Budget für Arbeit für Menschen, für die heute ausschließlich eine Werkstatt für behinderte Menschen infrage käme. Ich bin sicher, dass es uns damit gelingt, mehr Menschen mit Behinderung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu vermitteln. Ich könnte mir auch eine Art Kombilohn für schwerbehinderte Menschen vorstellen. Man braucht manchmal nur mehr Fantasie. Vor allem gilt: Schaut, was die Menschen können, und nicht, was sie nicht können.
In der UN-Konvention heißt es, dass behinderte Menschen die medizinische Versorgung erhalten sollten, die sie aufgrund ihrer Behinderung benötigen. Der letzte Deutsche Ärztetag hat festgestellt, dass das leider nicht immer der Fall ist. Wie wollen Sie das ändern?
Hüppe: In Australien ist das DRG-System entwickelt worden; dort hat man aber Menschen mit besonderen Bedürfnissen zu einem gewissen Prozentsatz von der Berechnung ausgenommen. Die Deutschen sind hingegen immer besonders konsequent und meinen, mit Fallpauschalen alles abdecken zu müssen. Wenn dann Menschen tatsächlich besondere Bedürfnisse haben, die einen entsprechenden Einsatz erfordern, sehen sich manche Krankenhäuser nicht in der Lage, das leisten zu können. Deshalb müssen wir fragen: „Kann das DRG-System tatsächlich für alle gelten?“ Das zweite Problem ist der ambulante Bereich. Da hoffe ich auf die Unterstützung der Kassenärztlichen Vereinigungen. Denn bislang kann man ja gar keinem niedergelassenen Arzt guten Gewissens empfehlen, mit Barrierefreiheit zu werben. Denn dann riskiert er sein Budget. Es darf nicht sein, dass diejenigen, die sich auf behinderte Personen einstellen, deswegen bestraft werden. Hier sind die Kassenärztlichen Vereinigungen gefordert, mit denen ich noch vor der Sommerpause darüber reden möchte. Zudem werde ich demnächst mit dem Gemeinsamen Bundesausschuss über Heil- und Hilfsmittel für Menschen mit Behinderungen sprechen.
Seit Juli letzten Jahres gibt es das Bundeskompetenzzentrum Barrierefreiheit. Können dort nicht Lösungsansätze gefunden werden?
Hüppe: Wenn wir für alle gesellschaftliche Teilhabe wollen, ist Barrierefreiheit nicht nur im Gesundheitsbereich eine ganz wichtige Voraussetzung. Beim Stichwort „Barrierefreiheit“ denken die meisten Menschen nur an Rollstuhlfahrer. Aber es geht um viel mehr: beispielsweise die einfache Sprache für sogenannte geistig behinderte Menschen oder um blinde oder gehörlose Menschen, auch um kleinwüchsige Menschen. Barrierefreiheit, auch für ältere Menschen, wird immer wichtiger. Das Kompetenzzentrum ist dabei ein wichtiger Partner, vor allem weil dort die Betroffenen mitarbeiten.
Wo sind die Hauptprobleme für behinderte Menschen?
Hüppe: Neben den Barrieren – auch denen im Kopf – die Arbeitslosigkeit, der Antrags- und Zuständigkeitswirrwarr und oft das Gefühl, als „Behinderter“ und nicht als Mensch gesehen zu werden.
Wie wird das persönliche Budget in Anspruch genommen?
Hüppe: Obwohl es seit zwei Jahren darauf einen Rechtsanspruch gibt, leider viel zu selten. Bei der Pflegeversicherung dagegen wird die Geldleistung viel häufiger in Anspruch genommen als die Sachleistung. Bei der Hilfe für behinderte Menschen ist es genau anders herum. Neben den Vorbehalten der Betroffenen und der Leistungsträger und dem geringen Bekanntheitsgrad scheint vor allem der Bürokratieaufwand abschreckend zu wirken.
Das Interview führten Gisela Klinkhammer und Dr. med. Eva Richter-Kuhlmann.
Stroth, Matthias; Bolz, Michael