THEMEN DER ZEIT
300 Jahre Berliner Charité: Die Pest, die Weiße Frau und eine weitgreifende Kabinettsorder


„Das grosse königliche
Militärhospital,
das seinen Namen
von der Barmherzigkeit
hat.“ Blick
auf die noch außerhalb
der Stadtmauern
gelegene Charité.
Kolorierte Radierung
von Matthaeus
Seutter um 1740. Foto: Ullstein
Am Anfang der 300-jährigen Geschichte des heutigen Berliner Universitätsklinikums stehen eine Epidemie, eine gespenstische Erscheinung und ein zugleich abergläubiger, aber für die damaligen Verhältnisse fortschrittlich denkender Herrscher. König Friedrich (1657–1713) kehrt am 12. November 1709, während sich die Pest, die bereits seit zwei Jahren in Osteuropa wütet, der preußischen Hauptstadt nähert, von politischen Verhandlungen mit Zar Peter dem Großen zurück. In seinem Gemach angekommen, stürzt eine Gestalt in weißem, wallendem Gewand herein und deutet mit bluttropfenden Händen auf den Heimgekehrten: „Seht ihn, den König Babylons . . . Seht ihn, denn die Strafe für seine Sünden ist nahe . . . Verschlingen wird ihn die Pest.“ Hinter diesem gespenstigen Auftritt verbirgt sich seine Frau, Königin Sophie Luise, befallen vom ersten Ausbruch eines Wahnsinns, der sie bald umnachten wird. Friedrich ist jedoch davon überzeugt, dass ihm die Weiße Frau, die der Legende nach immer dann auftritt, wenn ein Hohenzoller sterben muss, erschienen sei. Verängstigt durch ihre Prophezeiungen, ruft der König umgehend sein Collegium sanitatis, bestehend aus Räten, Ärzten und Predigern, zusammen. Ein neues, umfassenderes Pestreglement ordnet die Errichtung von „Lazareth-Häusern“, die Pestkranke aufnehmen und als Quarantänehäuser dienen sollen, außerhalb der Stadt an, um „bei jetzigen gefährlichen Pest-Läufften“ entsprechend vorbereitet zu sein. Die Bauarbeiten für das nordwestlich hinter dem Spandauer Tor gelegene Lazarett beginnen im Frühjahr 1710. Die Pestepidemie zieht jedoch an Berlin vorüber. Das zweistöckige Fachwerkhaus, künftig genutzt als Domizil für Arme, Bettler, „gefallene Frauen“ und Prostituierte, die sich ihr Brot mit „Spinnen und allerhand Woll-Arbeit“ verdienen müssen, wird seiner neuen Bestimmung nach im Volksmund bald zum „Spinnhaus vor dem Spandauer Thor“.
Am Ende des 17. Jahrhunderts steigt die Einwohnerzahl der brandenburgisch-preußischen Residenz auf 60 000 und damit die Anzahl der Bedürftigen. Das zuständige Armendirektorium verlangt deshalb, ein „Bürger-Lazareth“ einzurichten – ein karitativ ausgerichtetes Hospital als Hospiz für Altersschwache, Bettler und unehelich Schwangere. Am 9. Januar 1727 ordnet König Friedrich Wilhelm I. (1688–1740) in einer Kabinettsorder die Umwandlung des ehemaligen Pesthauses in ein Bürgerhospital an und verfügt: „Es soll das Haus die Charité heißen.“ Diese Namensgebung bleibt auch in den folgenden Jahren Programm. Des Königs Leibarzt, Johann Theodor Eller (1689–1760), wird als erster Direktor der Charité berufen. Im Erdgeschoss werden die sogenannten Hospitaliten untergebracht, im ersten Stock und in der zwischen 1727 und 1729 aufgesetzten Etage die Kranken. Entsprechend der Einteilung in innere und chirurgische Krankheiten erfolgen eine Einrichtung von „innerlichen Krankheitsstuben“ und „äußerliche Schadenstuben“ sowie eine geburtshilfliche und eine Station für kranke Soldaten. Die Einweisung der Armen und Mittellosen obliegt dem Armendirektorium. Die zunehmende Verarmung der Bevölkerung führt zu einer immer stärkeren Überbelegung und damit einhergehenden menschenunwürdigen Verhältnissen. Dies veranlasst die Regierung 1785 zu einem weitreichendem Um- und Neubau (2, 4, 8).
König Friedrich I.
von Preußen ordnete
die Errichtung
eines Lazaretts im
Frühjahr 1710 an.
Das Gemälde von Antoine
Pesne (1683 bis
1757), entstanden
um 1710, zeigt den
Herrscher im prunkvollen
Ornat auf dem
Thron. Foto: Wikipedia
Friedrich Wilhelm I. hat sich bereits früh für den Aufbau eines medizinischen Bildungssystems eingesetzt. Die Beweggründe des nicht grundlos als Soldatenkönig in die Geschichtsbücher eingegangenen Herrschers sind vorwiegend militärischer Natur. Der jährliche Verlust von 20 Prozent seiner Armeestreitkräfte durch Krankheit und Alter bedarf dringender Abhilfe. Dies erfordert wiederum gut ausgebildete Militärärzte und -chirurgen. Während seiner Regierungszeit entstehen zahlreiche Einrichtungen, die Berlin zu einem Zentrum der me-dizinischen Ausbildung machen. 1724 kommt es zur Errichtung des Collegium medico-chirurgicum mit sechs Professorenstellen und einem streng strukturierten Lehrplan, der eine Verbindung von praktischer und theoretischer Unterweisung realisieren soll: Vorlesungen über Anatomie, Chirurgie, Physiologie und Pathologie, Arzneimittellehre, Physik und Mathematik; parallel dazu anatomische und chirurgische Übungen am 1713 errichteten anatomischen Theater, ergänzt durch klinischen Unterricht.
1726 schlägt der Stadt- und Amtschirurg Christian Habermaass dem König vor, die Charité in eine Institution der ärztlichen Ausbildung umzuwandeln. Berlin besitze keine medizinische Lehr- und Krankenanstalt wie Paris, Straßburg oder London. Die theoretische Schulung am Collegium müsse durch praktische Erfahrungen am Krankenbett unterstützt werden. Seine Argumentation zugunsten der verbesserten Ausbildungsmöglichkeiten für Militärärzte trifft beim König, der bereit ist, Zweige von Wissenschaft und Wirtschaft, die der Armee dienen, zu fördern, auf Zustimmung. Die Charité erlangt zunehmende Bedeutung durch ihre Doppelfunktion als „Heil- und Lehranstalt“, das heißt als Zivilkrankenhaus und als Ausbildungsstätte für Mitglieder der Kompanie. Letztere wohnen fortan in der Charité und übernehmen die Krankenbetreuung unter Anleitung der Charité-Ärzte. Während ihrer Ausbildungszeit erhalten sie ein dreijähriges Stipendium in Form einer Pension. Diese sogenannten Pensionärchirurgen bilden fortan die Elite des Militärmedizinalpersonals.
Ein ähnliches utilitaristisch geprägtes Ausbildungskonzept wie das seines Vorgängers verwirklicht Friedrich Wilhelm II. (1744–1795). 1795 wird die Pépinière, eine Militärmedizinalschule, basierend auf dem Konzept des Generalarztes Johann Goercke (1750–1822), zur Aus- und Weiterbildung von Militär-ärzten für die preußische Armee gegründet. Für ungefähr 90 Landeskinder – künftig „Eleven“ genannt – ermöglicht sie die Absolvierung eines vierjährigen Medizinstudiums. Der streng geregelte Studienplan beinhaltet theoretische Vorlesungen am Collegium, klinischen Unterricht in Chirurgie und Innerer Medizin an der Charité und „Hülfsunterricht“ in Form von Übungen und Repetitionen an der Pépinière. Im Anschluss daran absolvieren die Eleven ein praktisches Jahr in der Charité. Lernfreiheit und Wissenschaft stehen nicht auf der Tagesordnung, stattdessen Ordnung, Disziplin und Gehorsam. Die gesamten Kosten für Studium und Unterbringung übernimmt der Staat. Im Gegenzug verpflichten sich die Absolventen, mindestens acht Jahre lang als Kompaniechirurgen in der preußischen Armee zu arbeiten.
In den Jahren 1785 bis 1800 erfolgt in mehreren Abschnitten ein Erweiterungsbau der Charité. Mit dieser äußerlichen Veränderung geht nach fast 100 Jahren auch eine Abweichung von zwei bisher typischen Charakteristika einher: Galt lange Zeit der Grundsatz, die Stadtbevölkerung könne nur vor ansteckenden Krankheit geschützt werden, wenn Betroffene isoliert in Gebäuden außerhalb der Stadtmauern untergebracht würden, befindet sich die Charité nun innerhalb des gewachsenen Stadtgebiets. Durch die Umquartierung nichterkrankter Notleidender entfällt fortan die Zusammenlegung von Hospitaliten und Patienten. 1801 wird Christoph Wilhelm Hufeland (1762–1836) als königlicher Leibarzt, Direktor des Collegiums und leitender Charité-Arzt berufen (1, 7).
Die triadische Kollision: Pépinière, Universität, Charité
Im Oktober 1810 eröffnet die Berliner Humboldt-Universität mit 117 immatrikulierten Medizinstudenten ihre Pforten. In den folgenden Jahren ist das Bild der medizinischen Ausbildung geprägt von der Ambivalenz zwischen Theorie und Praxis und den konkurrierenden Forderungen von Wissenschaft und klinischer Ausbildung: einerseits durch Vermittlung von Wissenschaft Bildung zuteil werden lassen, gleichzeitig Vorbereitung auf eine ärztliche Tätigkeit am Krankenbett zu sein.
Die Ende des 18.
Jahrhunderts
erfolgten baulichen
Erweiterungen der
Charité sind auf
diesem Stich, entstanden
um 1809,
zu erkennen. Foto: Ullstein
Plädierte für eine
Vereinigung der
Charité mit der Medizinischen
Fakultät
der Universität:
Christoph Wilhelm
Hufeland auf einem
Stich von F. Müller
nach dem Gemälde
von Fr. A. Tischbein. Foto: Wikipedia
Die Medizinische Fakultät besteht darauf, eigene Universitätskliniken für den klinischen Unterricht einzurichten. So etablieren sich auf dem Gelände der Charité im Laufe der Jahre mehr und mehr Kliniken der Universität, in denen Assistenzärzte aus dem Zivilstand eingesetzt werden. Mit der räumlichen Erweiterung der Institution und dem nach wie vor anhaltenden Streit um die Vereinigung der verschiedenen Bildungsmodelle sorgt auch die Diskussion über Zielsetzung und Aufgabe der Institution immer wieder für Konflikt. Die Charité entspricht zu Beginn des 19. Jahrhunderts einem allgemeinen Krankenhaus, das in die kommunale Gesundheitsversorgung der Armen der Stadt Berlin eingebunden ist. Die Reform des preußischen Gesundheitswesens, die Einführung der Städteordnung und die Kommunalisierung des öffentlichen Armenwesens im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts haben weitreichende Folgen. Fortan ist die Charité dem neu geschaffenen Kuratorium für Krankenhausangelegenheiten unter der Präsidentschaft des Obermedizinalrats Johann Nepomuk Rust (1775–1840) unterstellt. Gewährte die königliche Kabinettsorder ursprünglich allen Armen aus Berlin einen kostenlosen Aufenthalt, so wird die Charité immer häufiger aus der Pflicht entlassen, sämtliche vom Armendirektorium geschickten Kranken kostenfrei zu behandeln. Stattdessen erfolgt eine Beschränkung auf 100 000 freie Verpflegungstage. Gleichzeitig ist die eigenständige staatliche Institution nicht bereit, die Aufgaben als „erste Heilanstalt“ des Staates den Interessen der Medizinischen Fakultät, die eine uneingeschränkte klinische Nutzung der Krankensäle anstrebt, unterzuordnen (1, 2, 7).
Mit der Aneignung des Krankenhauses durch die Universität als Lehr- und Forschungsanstalt folgt man auch in Berlin einem für das 19. Jahrhundert typischen Trend. Seitens der klassischen bürgerlichen Pädagogik werden Forderungen nach optimaler Anschaulichkeit und das praktische Üben berufsnotwendiger Fähigkeiten laut. Formuliert in Johann Gottlieb Fichtes Plädoyer, dass „wissenschaftliche Bildung nicht auf dem Wege bloßer Kenntnisvermittlung, sondern im Prozess der Ausübung wissenschaftlicher Tätigkeiten erworben“ werde. Das Krankenhaus gilt fortan nicht mehr nur als Nebenschauplatz ärztlicher Tätigkeit und Identität. Die universitäre Medizin übernimmt wesentliche Elemente und Methoden der im Rahmen der chirurgischen und militärärztlichen Ausbildung entwickelten Krankenhausmedizin und verhilft ihr zu einem auch universitär anerkannten wissenschaftlichen Rang. Die zum Studium parallel erfolgte Ausbildung am Krankenbett, die Einweisung in Labortechniken, pathologische, physiologische und chemische Methoden werden fortan als Verwissenschaftlichung der Medizin begriffen und vorangetrieben (8).
Im Laufe des Jahrhunderts werden fast alle Abteilungen in universitäre Ausbildungskliniken umgewandelt. Die vorgenommenen baulichen Veränderungen spiegeln auch die mit einhergehenden funktionellen Trennungen, Zusammenschlüsse und Spezialisierungen wider. Doch nicht nur räumlich entwickelt sich die Charité immer mehr zu einem der führenden wissenschaftlichen Zentren der medizinischen Forschung. Persönlichkeiten wie Ludwig Traube (1818–1878), Rudolf Virchow (1821–1902), Emil Du Bois-Reymond (1818–1898), Paul Langerhans (1847–1888), Robert Koch (1843–1910), Emil Behring (1854–1917) und Ferdinand Sauerbruch (1875–1951) sind unweigerlich mit der Charité verbunden und begründen ihren bis heute nach Trennung und Wiedervereinigung Berlins anhaltenden internationalen Ruf (2, 4, 8).
Zitierweise dieses Beitrags:
Dtsch Arztebl 2010; 107(8): A 331–4
Anschrift der Verfasserin
Sandra Krämer M.A.
Pettenkoferstraße 8 b
80336 München
E-Mail: skraemer@smd.uni-ulm.de
1.
Engstrom EJ, Hess V: Jahrbuch für Universitätsgeschichte, Band 3 (2000): Zwischen Wissens- und Verwaltungsökonomie. Zur Geschichte des Berliner Charité-Krankenhauses im 19. Jahrhundert, Stuttgart 2000.
2.
Fischer EP: Die Charité – Ein Krankenhaus in Berlin 1710 bis heute, München 2009.
3.
Graefe CF: Jahresbericht über das clinische chirurgisch-augenärztliche Institut der Universität zu Berlin, Berlin 1825.
4.
Jaeckel G: Die Charité – Die Geschichte eines Weltzentrums der Medizin, Frankfurt/M. 1995.
5.
Lenz M: Geschichte der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Band 1, Halle/Saale 1910; Idee und Wirklichkeit einer Universität. Dokumente zur Geschichte der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, hrsg. von W. Weischedel, Berlin 1960.
6.
Rust JN : Über den Zweck und die Einrichtung ärztlich-praktischer Lehranstalten. In: Rust JN: Aufsätze und Abhandlungen, Band 3, Berlin 1840, Über den klinischen Unterricht, Band 1, Berlin 1834.
7.
Schneck P, Lammel HU: Die Medizin an der Berliner Charité zwischen 1810 und 1850. Husum 1995.
8.
Tutzke D, Burmeister KJ u.a. (Hrsg.) : Charité 1710–1985, Berlin 1985.
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