ArchivDeutsches Ärzteblatt10/1996Psychosomatische Grundversorgung in der Praxis: Erhebliche Anforderungen an niedergelassene Ärzte

THEMEN DER ZEIT: Aufsätze

Psychosomatische Grundversorgung in der Praxis: Erhebliche Anforderungen an niedergelassene Ärzte

Tress, Wolfgang; Kruse, Johannes; Heckrath, Claudia; Alberti, Luciano

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LNSLNS Diagnostik und Therapie der psychogen erkrankten Patienten stellen erhebliche Anforderungen an die niedergelassenen Ärzte; es ist davon auszugehen, daß 30 bis 50 Prozent dieser Patienten nicht ausreichend diagnostiziert werden (1, 7, 16). Auch die Therapie der erkannten psychogenen oder psychogen mitverursachten Erkrankungen erweist sich häufig als schwierig, besonders bei Patienten mit funktionellen Erkrankungen, die an einem somatischen Krankheitsverständnis festhalten. Die Versorgung dieser "Problempatienten" bringt oft Unzufriedenheit auf beiden Seiten mit sich. Darüber hinaus aber erhalten nicht ausreichend diagnostizierte Patienten keine adäquate Therapie, haben schlechtere Behandlungsergebnisse und erhöhen die Kosten im Gesundheitssystem (7).
Ziel der psychosomatischen Grundversorgung ist die möglichst frühzeitige differentialdiagnostische Klärung komplexer Krankheitsbilder in ihren somatischen, psychischen (affektiv-kognitiven) und psychosozialen Aspekten zugleich. Es gilt, die ätiologischen Verknüpfungen zwischen psychischen und somatischen Krankheitsfaktoren zu erkennen und in ihrer pathogenen Bedeutung im Rahmen einer bio-psycho-sozialen Gesamtdiagnose zu gewichten. Neben die organmedizinische Diagnose tritt dabei die Beziehungsdiagnose. Es folgt eine verbale oder übende Basistherapie psychischer, funktioneller und psychosomatischer Krankheiten, wobei somato- und pharmakotherapeutische Maßnahmen einander ergänzend zusammenwirken. Die psychosomatische Grundversorgung verlangt eine an der aktuellen Krankheitssituation orientierte seelische Krankenbehandlung, die folgende Ziele umfaßt:
! Symptombeseitigung (-minderung);
! Einsichtsvermittlung in die pathogenen Zusammenhänge (Zwiespältigkeiten, Konflikte, Defizite);
! Verständnis für die das Zustandsbild auslösende Situation;
! prophylaktische Umorientierung des Patienten und seiner nächsten Bezugspersonen (Änderung der Lebensweise, Überwinden von Hemmungen, Vermeiden von Konfliktfeldern).
Unabdingbare Grundlage ist eine aktive, kontinuierliche und vertrauensfördernde Gestaltung der Arzt-PatientBeziehung.
Auf diese Weise deckt die psychosomatische Grundversorgung den Behandlungsbedarf der psychogen Kranken ab, die keiner "Fach-Psychotherapie" bedürfen, wobei es sich immerhin um 35 Prozent der Patienten einer durchschnittlichen Praxis handelt.


Vermittlung von Fähigkeiten für die Grundversorgung
Eine Verbesserung des Krankheitswissens seitens der behandelnden Ärzte allein ist nicht identisch mit einer Verbesserung in Diagnostik und Therapie (4, 8, 12). Es bedarf auch grundlegender und reflektierter Erfahrungen in der Arzt-Patient-Beziehung.
Die ärztliche Diagnose wird maßgeblich von den psychosozialen Auffälligkeiten des Patienten bestimmt. Bei Patienten mit psychogenen und psychogen mitbedingten Erkrankungen ist die Beziehungserfahrung im Gespräch zwischen Arzt und Patient das wichtigste diagnostische und therapeutische Instrument. Das diagnostische Urteil des Arztes hängt dabei auch von der zugrundeliegenden affektiven Beziehung zwischen Arzt und Patient ab. Der Patient ist eher bereit, seine psychischen Beschwerden offen darzulegen, wenn sich der Arzt affektiv auf ihn einstellt. Insbesondere Patienten mit Somatisierungsstörungen sprechen ihre psychische Problematik im Gespräch mit dem Arzt aus Scham häufig nicht an (3). Die Qualität der ArztPatient-Interaktion bildet somit den entscheidenden Einflußfaktor auf die psychosoziale Diagnosestellung des Arztes.
Psychosoziale Erkrankungen sind Ausdruck einer Störung in den interpersonellen Austausch- und Anpassungsprozessen (5, 13, 15): Die Patienten scheitern daran, Störungen in den Beziehungen auszugleichen, Gefühle adäquat auszudrücken, flexibel mit anderen Menschen je nach deren Eigenarten umzugehen, Erwartungen dann zurückzunehmen, wenn sie nicht durchzusetzen sind, oder sich so zu verhalten, daß die anderen den Erwartungen schließlich gerecht werden. Diese charakteristischen interaktionellen, fehlangepaßten Muster, die gerade psychogen Kranke kaum modifizieren können, entwickeln sich auch in der Arzt-Patient-Beziehung als dem Ort ihrer Diagnose und Behandlung.


Der maladaptive Beziehungszirkel
Die Analyse der fehlangepaßten Interaktionsmuster bildet die Voraussetzung für ein angepaßtes, hilfreiches Verhalten des Arztes. Maladaptives interpersonelles Verhalten wird mit den innerseelischen Vorgängen in einem Beziehungszyklus verknüpft, der von vier Merkmalen bestimmt ist (13, 15):
Die Erwartungen und Einstellungen an die Mitmenschen (zum Beispiel Wunsch nach Nähe und die Erwartung, daß sich andere von ihm zurückziehen) haben reale Konsequenzen für die Handlungen und das Verhalten des Patienten (im Beispiel: Rückzug von anderen und Isolierung). Dies beeinflußt die offensichtlichen Reaktionen anderer gegenüber dem Patienten (im Beispiel: Rückzug wird als Desinteresse verstanden; es erfolgt ebenfalls ein Rückzug). Daraus resultieren wiederum Konsequenzen für das Verhalten und die innere Einstellung des Patienten sich selbst gegenüber (im Beispiel: Bestätigung der Vorstellung, daß der Patient für andere uninteressant ist und daß Kontakte enttäuschend enden). Somit verfestigen sich die Erwartungen des Patienten an die Reaktionen des Gegenübers, der Kreis schließt sich. Ein Beispiel für einen Patienten mit Diabetes mellitus und Selbstwertproblemen exemplifiziert einen derartigen maladaptiven Beziehungszirkel (Grafik).


Voraussetzungen für die psychosomatische Grundversorgung
Mit Beginn des Jahres 1994 wurden die Voraussetzungen zur Abrechnung der Nummern für die psychosomatische Grundversorgung definiert: Neben einer mindestens dreijährigen selbständigen ärztlichen Tätigkeit muß ein Kursus zur psychosomatischen Grundversorgung absolviert werden, der bei einer Gesamtdauer von 80 Stunden folgende Bausteine beinhaltet:
1. Theorieseminare zur Vermittlung von Kenntnissen zur Theorie der Arzt-Patient-Beziehung, von Kenntnissen und Erfahrungen in psychosomatischer Krankheitslehre in der Krankheits- und Familiendynamik, in der Interaktion von Gruppen, der Krankheitsbewältigung und Differentialindikation von Psychotherapieverfahren (20 Stunden).
2. Reflexion der Arzt-Patient-Beziehung in einer kontinuierlichen Balint-Gruppe (30 Stunden).
3. Einübung und Vermittlung von verbalen Interventionstechniken (30 Stunden).
Im Düsseldorfer Schulungs- und Trainingsprogramm zu Grundlagen, Konzepten und zur praktischen Fortbildungsarbeit (14) werden diese einzelnen Bausteine (Schulung der Interaktiven Kompetenz, Einüben der Beziehungsdiagnostik, Wissensvermittlung über spezielle psychosomatische Erkrankungen, Einüben verbaler Interventionstechniken, Supervision von Therapien, patientenzentrierte Selbsterfahrung) nicht getrennt, sondern integrativ einer geschlossenen Gruppe von Ärzten vermittelt. Dabei wird anhand von Videoaufzeichnungen und Rollenspielen die Beziehungsdiagnostik eingeübt. Zur Analyse der Gespräche wird der maladaptive Beziehungszirkel genutzt. Daran orientiert sich die Entwicklung von Leitlinien für ein mögliches diagnostisch-therapeutisches Vorgehen, die beim nächsten Besuch des Patienten berücksichtigt werden können. Hierbei wird dann auch psychosomatisches Wissen "am mitgebrachten Fall" vermittelt. Die Erfahrung im Rollenspiel, daß die Umsetzung der entwickelten Leitlinien nicht aufgrund eines Mangels an Wissen schwer zu verwirklichen ist, sondern durch Widerstand erschwert wird, führt dann zur patientenzentrierten Selbsterfahrung im Sinne einer modifizierten Balint-Arbeit.


Vernetzung von Forschung und Praxis
In einem Forschungsprojekt, gefördert vom Nordrhein-Westfälischen Forschungsverbund Public Health, wird zur Zeit die Interaktion zwischen Arzt und Patient untersucht. Forschung findet hier nicht im universitären Bereich, sondern in der Praxis der psychosomatischen Grundversorgung statt. Sprechstundengespräche niedergelassener Düsseldorfer Ärzte werden anhand von Tonbandaufnahmen analysiert und diagnostische sowie therapeutische Verhaltensweisen zu diesen qualitativen Untersuchungen in Beziehung gesetzt. Die Ergebnisse dieses Forschungsprojektes fließen nicht nur auf der Mikroebene des Gesprächsverhaltens unmittelbar in das Schulungskonzept und seine ständige Verbesserung ein. Es werden auch auf der Makroebene der strukturellen Gegebenheiten (Patientenzahlen, zeitliche Strukturen, Anforderungen von Patienten und Angehörigen usw.) der niedergelassenen Praxis Erkenntnisse gewonnen, die wichtige Aspekte für mögliche Veränderungen näher beleuchten.


Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 1996; 93: A-597–601
[Heft 10]
Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis im Sonderdruck, anzufordern über die Verfasser.


Anschrift für die Verfasser:
Prof. Dr. med. Dr. phil. Wolfgang Tress
Leiter des Klinischen Instituts für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universität Düsseldorf
Postfach 10 10 07, 40001 Düsseldorf

1.Blacker CVR, Clare W: Depressive disorder in primary care. British Journal of Primary Care 1987; 150: 737-751
2.Dilling H, Weyerer S, Enders I: Patienten mit psychischen Störungen in der Allgemeinpraxis und ihre psychiatrische Überweisungsbedürftigkeit. In: Häfner H Hrsg: Psychiatrische Epidemiologie. Berlin: Springer 1978: 135-160
3.Goldberg DP, Bridges K: Somatic presentations of psychiatric illness in primary care setting. Journal of Psychosomatic Research 1988; 32 (2): 137-144
4.Hoeper EW, Nycz LG, Kessler JD, Burke JD, Pierce WE: The usefulness of screening for mental illness. Lancet 1984: 33-35
5.Kruse J, Wöller W: Grundlagen der interpersonellen Medizin. In: Tress W Hrsg: Psychosomatische Grundversorgung. Stuttgart: Schattauer 1994: 12-28
6.Kruse J, Wöller W, Mans E: Psychosomatische Aspekte spezieller Krankheitsbilder. In: Tress W Hrsg: Psychosomatische Grundversorgung. Stuttgart: Schattauer 1994: 48-98
7.Ormel J, van den Brink W, Koeter MWJ, Giel R, van der Meer K, van de Willige G, Wilmink FW: Recognition, management and outcome of psychological disorders in primary care: a naturalistic follow-up study. Psychological Medicine 1990; 20: 909-923
8.Ormel J, Giel R: Medical effects of non-recognition of affective disorders in general medical settings, Berlin: Hogrefe und Huber 1989: 146-158
9.Rosin U, Tress W, Kruse J: Training zur Durchführung der Psychosomatischen Grundversorgung. In: Tress W Hrsg: Psychosomatische Grundversorgung. Stuttgart: Schattauer 1994: 169-171
10.Schepank H: Verläufe. Seelische Gesundheit und psychogene Erkrankung heute. Berlin, Heidelberg, New York, Tokio: Springer 1990
11.Schepank H, Tress W: Die stationäre Psychotherapie und ihr Rahmen. Berlin, Heidelberg, New York, Tokio: Springer 1988
12.Shapiro S, German PS, Skinner EA, Von Korff M, Turner RW, Klein LE, Teitelbourn ML, Kramer M, Burke JD, Burns BJ: An experiment to change detection and management of mental morbidity in primary care. Medical Care 1987; 25: 327-339
13.Strupp HH, Binder JL: Psychotherapy in a new key. New York: Basic Books 1984
14.Tress W: Psychosomatische Grundversorgung - Kompendium der interpersonellen Medizin. Stuttgart: Schattauer 1994
15.Tress W, Henry WP, Strupp HH, Reister G, Junkert B: Die strukturale Analyse sozialen Verhaltens (SASB) in Ausbildung und Forschung. Ein Beitrag zur "funktionellen Histologie" des psychotherapeutischen Prozesses. Zeitschrift für psychosomatische Medizin 1990; 36: 240-257
16.v. Uexküll T, Wesiack W: Theorie der Humanmedizin: Grundlagen ärztlichen Denkens und Handelns. München: Urban & Schwarzenberg 1988
17.Williams P, Tarnopolsy A, Hand D et al: Minor psychiatric morbidity and general practice consultations: the West London Survey. Psychological Medicine 1986; 9: 1-27 (Monograph Suppl)

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