SUPPLEMENT: PRAXiS
Leben mit intelligenten Assistenzsystemen: Wo ist die Pizza?
Dtsch Arztebl 2010; 107(8): [10]


Wie können Visionen für eine intelligente Wohnumgebung, die Behinderte oder Senioren mit körperlichen Einschränkungen im Alltag unterstützt, in die Realität umgesetzt werden? Im Bremen Ambient Assisted Living Lab (BAALL; http://baall.informatik.uni-bremen.de) können seit nunmehr einem Jahr die Wissenschaftler des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz (DKFI) ihre neuen Entwicklungen auf Praxistauglichkeit untersuchen. Das BAALL ist eine 60 m² große alters- und behindertengerechte Wohnung, für die die Universität Bremen Projekträume zur Verfügung stellt. Zwei Personen sollen demnächst in dem dann voll funktionsfähigen Apartment gleichzeitig Probe wohnen können. Ausgestattet ist das BAALL mit zahlreichen elektronischen Helfern, die nicht nur das tägliche Leben erleichtern, sondern vor allem Menschen mit physischen oder kognitiven Einschränkungen ein selbstbestimmtes Wohnen in den eigenen vier Wänden ermöglichen sollen.
Der Elektrorollstuhl Rolland ist mit zwei Laserscannern, Radumdrehungsmessern und einem Bordcomputer ausgestattet. Befehle nimmt er per Joystick, Touchscreen oder Sprachbefehl entgegen. Fotos: BAALL
Wohnen für die Forschung
Prof. Dr. Bernd Krieg-Brückner vom DFKI leitet das Projekt in Kooperation mit der Universität Bremen und ist damit am EU-Projekt SHARE-it (www.ist-shareit.eu) sowie am Sonderforschungsbereich Spatial Cognition der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) beteiligt: „Im BAALL können wir Szenarien für eine intelligente Wohnumgebung entwickeln und gleichzeitig konkrete Erfahrungswerte sammeln. Senioren oder Menschen mit Behinderungen haben unterschiedlichste Einschränkungen, die die Bewältigung des Alltags erschweren. Im BAALL versuchen wir die baulichen und technologischen Assistenten so zu konzipieren, dass sie sich individuell an die jeweiligen Fähigkeiten des Nutzers anpassen.“ Das Team um Krieg-Brückner arbeitet dabei mit Kliniken und Senioreneinrichtungen zusammen, um die Alltagstauglichkeit der AAL-Systeme zu testen.
Der iWalker ist ein technisch erweiterter Rollator, ausgestattet unter anderem mit Navigations- und Gehassistenten.
Auf dem Prüfstand sind im BAALL unter anderem zwei Entwicklungen der Bremer Informatikwissenschaftler: der intelligente Rollstuhl „Rolland“ und eine Gehhilfe namens „iWalker“. Beide Geräte sind ständige Begleiter des Nutzers und fungieren deshalb auch als Schnittstelle für die Interaktion mit der Umgebung. Nähert sich beispielsweise der Rollstuhl einer Tür, wird sich diese selbsttätig öffnen. Den Bremer Rollstuhl haben die Wissenschaftler auf der Basis eines handelsüblichen Elektrorollstuhls entwickelt, der zusätzlich mit zwei Laserscannern, Radumdrehungsmessern und einem kleinen Bordcomputer ausgestattet wurde. Die Laserscanner – sie sind vorne und hinten unauffällig unter den Fußstützen des Rollstuhls angebracht – registrieren während der Fahrt die Entfernung zu Hindernissen.
Rolland verfügt über unterschiedliche Assistenzsysteme, die die verschiedenen Einschränkungen der Nutzer kompensieren können. Gerade bei alten Menschen kann damit auf die kontinuierlich nachlassenden physischen und kognitiven Einschränkungen, die das Alter mit sich bringt, flexibel reagiert werden. Der Sicherheitsassistent von Rolland erkennt automatisch Hindernisse in der Umgebung und leitet rechtzeitig eine Bremsung ein. Immerhin kann der elektrische Rollstuhl eine Geschwindigkeit von 10 km/h erreichen. Der Sicherheitsassistent bildet damit die Basis für alle weiteren Mobilitätsassistenten. Der Fahrassistent sorgt auf der nächsten Assistenzebene dafür, dass der Nutzer nicht einfach nur vor einem Hindernis stehenbleibt, sondern es sicher umfahren kann. Er hilft beispielsweise beim Steuern durch enge Türen. Der Fahrer muss dabei nur grob die Richtung vorgeben. Die höchste Assistenzstufe erfüllt der Navigationsassistent, mit dem der Rollstuhl nach Zielvorgabe seinen Weg völlig allein durch die Wohnung findet.
Die Befehle nimmt Rolland entweder per Joystick, berührungsempfindlichen Bildschirm (Touchscreen) oder per Sprachbefehl entgegen. Die neueste Entwicklung der Bremer ist ein Kopfjoystick, mit dem der Rollstuhl durch Neigung des Kopfes in verschiedenen Richtungen gesteuert wird. „Ursprünglich war der Kopfjoystick für Rollstuhlnutzer gedacht, die einen Joystick aufgrund ihrer Behinderung nicht bedienen können. Im Praxistest hat sich schließlich gezeigt, dass diese Art der Steuerung auch anderen Rollstuhlfahrern neue Möglichkeiten eröffnet, da sie nun beim Navigieren beide Hände frei haben“, berichtet Krieg-Brückner. „Die DFG fördert unsere Kooperation mit dem Rollstuhlhersteller im Rahmen eines Transferprojekts, so dass die Entwicklung von Rolland im kommenden Jahr wahrscheinlich marktreif sein wird.“
Rollator auf neuen Wegen
Ähnlich wie den Rollstuhl hat das Team um Krieg-Brückner einen Standardrollator mit elektronischen Bremsen, Radsensoren, Laserscannern und einem Steuerungs-PC aufgerüstet. Der Gehassistent des -iWalker hilft, Hindernissen auszuweichen, und der Navigationsassistent kann dem Nutzer entweder über das Display den Weg zeigen, oder der Bordcomputer übernimmt die Steuerung selbst und ändert durch Bremsung der Rollen die Richtung. Der iWalker soll Menschen mit Gehbehinderungen, die womöglich gleichzeitig unter Sehstörungen leiden, den Radius für eine unabhängige Mobilität erweitern.
„Der Technologiefortschritt bringt immer mehr intelligente Systeme in das Alltagsleben. Diese Systeme sind zunehmend schwer zu verstehen, besonders wenn die Nutzer älter oder pflegebedürftig sind. Ein wichtiger Aspekt bei AAL besteht deshalb in der Interaktion zwischen Anwender und Assistenten. Die Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine kann vielfältig aussehen. Die sprachliche Interaktion erscheint uns im Zusammenhang mit der Entwicklung von Systemen für Nutzer mit körperlichen Einschränkungen sehr vielversprechend. Deshalb planen wir, künftig enger mit Linguisten und Psychologen zusammenzuarbeiten, um die natürlichen, primär sprachlichen Ausdrucksweisen von Anwendern zu untersuchen. Hier gibt es noch viel zu tun“, sagt Krieg-Brückner zum Ausblick auf seine künftigen Forschungsarbeiten.
Dr. rer. nat. Lisa Kempe
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