THEMEN DER ZEIT
Populärmedizin: Der Mensch ist eine Maschine, die vom Menschen bedient wird


Einer technischen Zeichnung gleicht der Mensch auf Kahns wohl bekanntestem
Bild, einem Poster. Der Schnitt durch den Körper gibt den Blick frei auf
eine Abfolge von Produktionsvorgängen. Fotos: Debschitz, fritz-kahn.com
Der Berliner Arzt Dr. med. Fritz Kahn ist zu der Zeit 38 Jahre alt und durch seine populärwissenschaftlichen Schriften bereits weithin bekannt. Ein Volksaufklärer. Zwischen 1922 und 1931 erscheint sein populärmedizinisches fünfbändiges Werk „Das Leben des Menschen“, mit dem er den Leser zu einer märchenhaften Reise durch den menschlichen Körper einlädt: Ein winziger Mensch unternimmt, auf einer Zelle surfend, eine Reise auf dem Blutstrom, durch geheimnisvolle Adern und zottenbehangene Höhlen. Kahn belehrt aber auch durch technische Illustrationen, auf denen der Mensch einer Maschine gleichgesetzt wird. Bekannt wird vor allem eine Beilage seines Werks, das Plakat „Der Mensch als Industriepalast“. Das zeigt einen Schnitt vom Kopf bis zum Darm. Nicht als anatomische Zeichnung, sondern als eine Abfolge von Zimmern und Rohren, Fließbändern und Laboratorien. Merkwürdig an Kahns Menschenmaschine ist freilich, dass diese Maschine nicht aus sich heraus funktioniert, das wäre ein Roboter, sondern in all den Kammern des Gehirns, des Magens oder der Leber, Menschlein hantieren, die die elektrischen Prozesse oder chemischen Reaktionen an Schaltpulten steuern.
Fritz Kahn zeichnete nicht selbst, sondern beschäftigte Illustratoren, und je nachdem, an wen er geriet, gerieten die Bilder mal als Karikaturen, mal als anatomische Zeichnungen oder „Kunstformen der Natur“ im Sinne Haeckels, mal surreal oder futuristisch. Kahn war ungemein produktiv und muss seine Illustratoren ziemlich gefordert haben. Ihn interessierte auch jenseits der Medizin alles Naturwissenschaftliche: vom Sternenhimmel bis zur Atomkraft. Und eben immer wieder der Mensch als Maschine, der Blutkreislauf als Röhrensystem, die Abfolge von Sehen und Sprechen als Schaltkreise, die Nahrungsverarbeitung als mechanisch-chemische Fabrikation. Die psychische Seite blieb außen vor.
Den Arzt der
Zukunft sah
Kahn als einsame
Gestalt am
Schreibtisch, ein
Schaltpult bedienend
– die
frühe Vision
einer telemedizinischen
Versorgung.
Lebhaft erzählend:
Dr. med.
Fritz Kahn 1967,
ein Jahr vor seinem
Tod, in
Munkerup,
Dänemark. Foto: Zentralbibliothek Zürich
Denn mit seinem Maschinenmenschen folgt Kahn durchaus dem Zeitgeist. Begeisterung für die Maschine und den „depersonalisierten“ und „entpsychologisierten“ Menschen sind im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts in der Kunst weit verbreitet. Man denke etwa an die aus Kolben und Rohren zusammengesetzten Menschen Fernand Légers, an die geometrisch aufgelösten Gesichter der Kubisten oder Oskar Schlemmers gesichtslose puppenartige Figuren. Schlemmer entwickelte parallel dazu am Bauhaus ein mechanisches Ballett, in dem Menschen wie Marionetten agierten und schließlich gänzlich durch Marionetten, die wie Roboter aussahen, ersetzt wurden. Das war zeitgemäß: Der Theatermann Edward Gordon Craig entwickelte „Über-Marionetten“, Schauspieler hinter Masken und in starren Gewändern, die frei von Emotionen, maschinengleich agieren sollten.
Dr. med. Alfred Döblin, der Schriftsteller, verlangte vom Autor, psychologische Elemente auszuschließen und auf strenge Objektivität bei der Schilderung von Abläufen zu achten. Das tut auf seine Weise auch Kahn, wenn er Nahrung oder Sauerstoff die Körperröhren passieren lässt. Ihm gelingt bei der Gelegenheit sogar etwas, das den Kollegen Döblin neidisch machen konnte, nämlich komplexe Vorgänge gleichzeitig darzustellen, ein altes Problem der Kunst, das Döblin mit einem „Kinostil“ angehen wollte. „Von Perioden, die das Nebeneinander des Komplexen wie das Hintereinander rasch zusammenzufassen erlauben, ist umfänglich Gebrauch zu machen“, befand er. Döblin praktiziert den „Kinostil“ ansatzweise im Roman „Berlin Alexanderplatz“. Kahn lässt malen.
Kahns Art der technisch inspirierten Aufklärung kam also keineswegs aus dem Nichts. „Dass zwischen Bau- und Funktionsprinzipien des menschlichen Körpers und technischen Erfindungen erstaunliche Parallelen bestehen“, war seit dem 19. Jahrhundert bekannt, erinnert der Lübecker Medizinhistoriker Prof. Dr. med. Cornelius Borck. Ein gewisser Ernst Kapp habe 1877 eine Theorie der „Organprojektion“ formuliert, nach der technische Erfindungen lediglich nachholen, was in Bau und Funktion des menschlichen Körpers bereits von Natur aus realisiert sei. Fritz Kahn nimmt häufiger Anleihen bei Kapp und „verortete den Menschen konsequent in der technischen Moderne“ (Borck). Doch habe Kahn sein Maschinenmodell zu einer Zeit popularisiert, in der das reduktionistische Denken der Medizin bereits heftig kritisiert worden sei, schränkt Borck ein.
Dem ist freilich zu entgegnen, dass zeitgleich mit solcher Kritik die Technik auch verherrlicht und der Mensch auf das reibungslose Funktionieren reduziert wurden. Auch noch zu Kahns Hauptschaffenszeit, den 20er und 30er Jahren. Die Idee des nur funktionierenden Menschen durchzieht den Futurismus – der übrigens heute auch wiederentdeckt wird. Die Futuristen sind von technischen Abläufen fasziniert, vor allem, wenn sie rasant daherkommen. Das drückt sich in einer Vorliebe zu Rennwagen, Motorrädern, Schnellbooten oder Flugzeugen aus. Auch Kahn benutzte solche Versatzstücke. Der Mensch als Individuum gilt den Anhängern der Lehre nichts, es zählt die große Masse, zusammengesetzt aus anonymen Figuren. Der Massenmensch wohnt in Wolkenkratzern. Ludwig Hilberseimer hat solche Wohnmaschinen in den 20er Jahren am Bauhaus entworfen, Fritz Lang hat sie in „Metropolis“ ins Bild gesetzt. Und auch bei Fritz Kahn, der nun mal ein Gespür für seine Moderne hatte, sind sie zu finden.
Die Wirkungen einer „futuristischen“ Welt- und Menschensicht sind so vielfältig wie zwiespältig: Sie reichen von Plakaten mit stilisierten Damen in schnittigen Bugatti-Kabriolets bis zur Choreografie von Massenveranstaltungen und deren filmischer Umsetzung. Leni Riefenstahl lässt grüßen.
Kahns Menschenmaschinen wirken dagegen harmloser, weil märchenhafter: In seinem „Industrie-palast“ werkeln Heinzelmännchen. Den Arzt der Zukunft sah Fritz Kahn 1925 als Techniker, vor sich ein Schaltpult und ein Röntgenbild, aber keinen leibhaftigen Menschen. Kahn scheint das positiv gesehen zu haben. Im Alter äußerte er sich dazu skeptischer: „Vor hundert Jahren beschäftigte sich ein Arzt mit dem Menschen; vor 50 Jahren war er ein Internist oder ein Chirurg; heute ist er ein Röntgenfotograf, der Bilder herstellt von einem Herzen, das er nicht sieht, von einem Menschen, den er nicht kennt, von einem Fall, den er nicht verfolgt.“
Norbert Jachertz
Uta von Debschitz, Thilo von Debschitz: „Fritz Kahn – Man Machine/Maschine Mensch“, englisch/deutsch, Verlag Springer, Wien, New York 2009, 208 Seiten mit 260 Abbildungen und einem Poster „Der Mensch als Industriepalast“, 49,95 Euro. Dort steht auch der zitierte Aufsatz von Cornelius Borck.
Die Ausstellung im Medizinhistorischen Museum der Charité läuft bis zum 11. April; Infos unter: www.bmm.charite.de oder Telefon: 030 450536156.
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