THEMEN DER ZEIT: Glosse
Das Knock-Syndrom: Gesunde sind Kranke – sie wissen es nur noch nicht


Dr. med. Stephan Heinrich Nolte, Kinder- und Jugendarzt, Marburg/Lahn
Der sich zunächst betrogen fühlende Knock lässt als Erstes den Ausrufer des Ortes kommen und ihn verbreiten, dass er seine Praxis eröffnet habe und montags kostenlos ordiniere. Dann wird der Lehrer sogleich in eine neue „Gesundheitsfürsorge“ eingebunden und mit drohenden Keimen und anderen gesundheitlichen Gefahren eingeschüchtert. Schließlich wird auch dem darbenden Apotheker ein glänzendes Geschäft versprochen. Der Erfolg lässt nicht auf sich warten: Die kostenlose Sprechstunde quillt über, die geizigen, aber neugierigen Menschen werden zu kostspieligen Behandlungen animiert und zu Dauerpatienten gemacht. Der örtliche Gasthof wird zu einem kleinen Krankenhaus, in dem sich die aus allen Ecken herbeiströmenden Patienten stationär behandeln lassen.
Nach drei Monaten kommt Parpalaid zurück, um erstaunt zur Kenntnis zu nehmen, was vorgefallen ist. Als er merkt, wie sich die Patientenzahlen entwickelt haben, tut ihm sein Abschied leid, aber im Dialog mit Knock wird schließlich auch er zum Patienten gemacht und ins Krankenbett gelegt. Keiner im Ort will die alten Zeiten zurück, die moderne Medizin hat triumphierend Einzug gehalten!
Jules Romains’ (eigentlich Louis Henri Jean Farigoule, 1885–1972) Theaterstück „Knock – oder der Triumph der Medizin“ wurde am 15. Dezember 1923 in der Comédie des Champs-Elysées unter der Leitung von Jacques Hébertot uraufgeführt. Regie und Hauptrolle übernahm Louis Jouvet, der auch durch zwei erfolgreiche Verfilmungen in der Rolle des Dr. Knock in Erinnerung bleiben wird.
Die Rezeption in Deutschland ist eher spärlich, obwohl es „Knock“ in verschiedenen Schulausgaben für den Französischunterricht gibt – es scheint eine Geschichte für Kinder aus einer fernen Zeit zu sein. Eine synchronisierte Fassung der Verfilmung von 1951 ist nicht im Handel. In Frankreich dagegen ist „Knock“ in Medizinerkreisen sehr präsent und wird viel zitiert.
Heute wird das Stück schon deswegen nicht mehr verstanden, weil sich das Modell „Knock“ längst durchgesetzt hat, zum Alltag geworden ist und gar nicht mehr hinterfragt wird: durch ein beim Arzt-Patienten-Kontakt zunächst einmal weitgehend kostenfreies Medizinsystem (um den hohen Krankenversicherungsbeitrag kommt man im Pflichtversicherungssystem ja nicht herum – und das Geld muss ja irgendwie wieder eingespielt werden) ist der „niedrigschwellige“ Eingang in eine lebenslange Patientenkarriere vorgegeben. Wenn entsprechende Untersuchungen gemacht sind, ergeben sich immer Möglichkeiten einer Behandlung: sei es im Rahmen einer regelmäßigen, möglichst quartalsmäßigen Kontrolle, sei es als „individuelle Gesundheitsleistung“ oder sei es im „kollegialen“ Verschiebebahnhof der gegenseitigen Hin- und Herüberweiserei. „Ein gesunder Patient ist nur noch nicht genau genug untersucht“ – dieses alte Bonmot charakterisiert den Sachverhalt.
Gesundheit gibt es rein formal schon deswegen nicht, weil ein Patient, auch wenn er ohne Beschwerden den Arzt zu einer Vorsorge aufsucht, immer eine Abrechnungsdiagnose erhalten muss, und zwar eine „kurative“ Diagnose, also einen Krankheitsnamen. Denn ohne eine solche „kurative“ Diagnose sind weitere erbrachte „Leistungen“, ja nicht einmal die Ordinationsziffer, nicht abrechenbar.
Wenn man verschiedene Ärzte aus verschiedenen Fachgebieten aufsucht, wird man also aus jedem dieser Fachgebiete eine „kurative“ Diagnose erhalten. Und eine Diagnose allein reicht nicht, eine Dauerdiagnose muss her, die nicht nur den Ansatz einer „Chronikerziffer“ rechtfertigt, sondern im besten Falle auch noch der Einschleusung in ein oder mehrere Disease-Management-Programme.
Das gibt dann extrabudgetäres Geld; nicht nur für den Arzt, auch für die Krankenkassen ist das gut, und sie unternehmen alles, damit es geschieht: Krankenkassenvertreter kommen in die Praxen, um gemeinsam zu überlegen, ob nicht irgendwo noch ein bislang unbenannter „Chroniker“ herumläuft, und teilen dem Patienten mit, ihnen gerne die Adresse eines einschreibewilligen Kollegen mitzuteilen, falls der bislang betreuende Arzt dies nicht wolle . . .
Dr. med. Stephan Heinrich Nolte, Kinder- und Jugendarzt, Marburg/Lahn
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