ArchivDeutsches Ärzteblatt26/1997Schutzimpfungen: Aufklärungspflicht aus juristischer Sicht

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Schutzimpfungen: Aufklärungspflicht aus juristischer Sicht

Bütikofer, Julia

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LNSLNS Der Arzt, insbesondere der Kinderarzt, befindet sich angesichts der immer umfangreicher werdenden Rechtsprechung zum Impfschadensrecht in einer wenig beneidenswerten Situation: Impft er, und kommt es nachfolgend zu einem Impfschaden, wird er womöglich regreßpflichtig gemacht, weil er einen medizinischen, zumindest jedoch einen sogenannten informatorischen Kunstfehler begangen hat. Impft er nicht, und die Krankheit, gegen die er hätte impfen können, tritt auf und führt womöglich zu Dauerschäden, wird ihm eventuell der Vorwurf eines Behandlungsfehlers gemacht.
Angesichts dieser Situation macht es jedoch keinen Sinn, zwischen Medizinern und Juristen ein Feindbild zu schaffen. Dies ist mit Sicherheit der falsche Weg, um zum gemeinsamen Ziel - dem verantwortungsbewußten Umgang mit Impfungen - zu gelangen.

Regreßansprüche
Aus juristischer Sicht sollte von Ärzten nicht verschwiegen werden, daß Impfungen keineswegs ein harmloser Eingriff in das Immunsystem sind. Auch mögliche Impfschäden sollten keineswegs a priori negiert werden. Ärzte sollten vielmehr Eltern in die Verantwortung für die Entscheidung "pro" oder "contra" impfen mit einbeziehen. Es geht nicht an, daß die Eltern zwar für ihre Kinder mögliche Vorteile der Impfungen in Anspruch nehmen wollen, bei Auftreten von Impfschäden jedoch unverzüglich nach einer juristischen Möglichkeit suchen, den Impfarzt regreßpflichtig zu machen. Die aktuellen Impfempfehlungen der STIKO geben dem Arzt wertvolle - und leider oft übersehene - juristische Hinweise, wie er Regreßansprüche bei Impfungen vermeiden kann.
Es muß daher mit Nachdruck darauf hingewiesen werden, daß vor Durchführung jeder Impfung oder Impfserie eine Aufklärungspflicht des Arztes besteht, wodurch der Impfling oder seine Eltern oder Sorgeberechtigten in die Lage versetzt werden sollen, über die Teilnahme an der Impfung zu entscheiden.
Die STIKO hat klar herausgearbeitet, worüber der Arzt vor Durchführung einer Impfung auf jeden Fall aufklären muß. Ergänzend ist aus juristischer Sicht noch auf folgendes hinzuweisen: Die höchstrichterliche Rechtsprechung hält daran fest, daß jeder Eingriff in die körperliche oder gesundheitliche Befindlichkeit des Patienten - sei er behandlungsfehlerhaft oder frei von einem Behandlungsfehler - als Verletzung des Behandlungsvertrages und als rechtswidrige Körperverletzung zu werten ist, wenn er sich nicht im konkreten Fall durch eine wirksame Zustimmung des Patienten gerechtfertigt erweist (Karlmann Geiß, Arzthaftpflichtrecht, 2. Auflage, Seite 169 ff. mit weiteren Nachweisen). Der Umfang und der Genauigkeitsgrad der Aufklärung sind umgekehrt proportional zur Dringlichkeit des Eingriffs (Karlmann Geiß, a.a.O., Seite 171). Dies besagt: Je weniger dringlich sich der Eingriff in zeitlicher und sachlicher Hinsicht für den Patienten darstellt, desto weitergehend ist das Maß und der Genauigkeitsgrad der Aufklärungspflicht.
Umfang und Intensität der Aufklärung lassen sich dabei nicht abstrakt festlegen; sie sind an der jeweils konkreten Sachlage auszurichten, und zwar sowohl an der konkreten medizinischen Behandlung wie am konkreten Patienten, unter Berücksichtigung seiner speziellen beruflichen und privaten Lebensführung (patientenbezogene Aufklärung).
Die höchstrichterliche Rechtsprechung läßt das Maß aufklärungspflichtiger Risiken von dem unmittelbaren Nutzen abhängen, den der Eingriff für den Patienten hat. Das bedeutet, daß z. B. vor einer Operation, zu der es praktisch keine Alternative gibt, nur über die wesentlichen Risiken aufgeklärt werden muß (vergleiche BGHZ 90, 103), während zum Beispiel bei einer vorbeugenden Impfung jede - auch relativ unwahrscheinliche - Eventualität aufklärungsbedürftig ist. Die früher einseitige Betonung der rein statistischen Risikokomplikationsdichte ist von der Rechtsprechung mit verschiedenen Begründungen weitgehend aufgegeben worden (vergleiche Karlmann Geiß, a.a.O., Seite 184 mit weiteren Nachweisen). Dies hat für den Impfarzt nun freilich die fatale Konsequenz, daß der Kreis der aufklärungsbedürftigen Risiken nicht mehr generell anhand bestimmter Wahrscheinlichkeitskriterien festgelegt werden kann. Da eine vorbeugende Schutzimpfung nicht dazu dient, eine beim Impfling bereits aufgetretene Krankheit zu bekämpfen, reduziert sich der individuelle Nutzen der einzelnen konkreten Schutzimpfung in demselben Maße, in dem bei ausgebliebener Schutzimpfung die Wahrscheinlichkeit einer Infektion gering ist.
Man wird deshalb aus Gründen der Vorsicht die Aufklärung auf der Basis der individualisierenden Betrachtungsweise sehr weit ziehen müssen (vergleiche auch Impfkompendium, herausgegeben von Prof. Dr. Heinz Spiess, Thieme Verlag 1994, Seite 30/31). Aus den obergerichtlichen Entscheidungen zur Aufklärungspflicht des Impfarztes sowie aus den allgemeinen arztrechtlichen Grundsätzen lassen sich folgende Verallgemeinerungen ableiten:
Es ist zunächst über die Rahmenbedingungen der Impfung aufzuklären. Das bedeutet zum Beispiel, daß darüber aufgeklärt werden muß, ob die Impfung generell amtlich empfohlen ist oder ob die Empfehlung Einschränkungen enthält und ob der konkrete Impfling von diesen Einschränkungen erfaßt ist. Sodann ist stets auf die Freiwilligkeit der Impfung hinzuweisen sowie jeglicher Eindruck zu vermeiden, daß es sich um eine Zwangsimpfung handelt.
Die Aufklärung muß weiter den Nutzen der Impfung zutreffend schildern, nicht begründete Dramatisierungen einer unterbliebenen Schutzimpfung sind zu unterlassen. Darüber hinaus muß auf die möglichen Komplikationen eingegangen werden, die mit der Impfung verbunden sein können.
Aus Gründen der Vorsicht ist zur Vermeidung eines "informatorischen Kunstfehlers" zu empfehlen, jegliche in der wissenschaftlichen Literatur berichtete Komplikation zu benennen. Die Auffassung vieler Ärzte, daß unterhalb einer bestimmten Komplikationswahrscheinlichkeit die Aufklärungspflicht ende, findet in der neueren obergerichtlichen Rechtsprechung keine Stütze mehr.
Um einen geordneten Ablauf bei durch den Öffentlichen Gesundheitsdienst veranstalteten Impfterminen zu gewährleisten, wird eine rechtzeitige Aufklärung in schriftlicher Form empfohlen. Eine Gelegenheit zur umfassenden Information durch ein Gespräch mit dem Impfarzt muß bei jedem Impftermin gegeben sein. Bei Einzelimpfungen in der Praxis des niedergelassenen Arztes ist die mündliche Aufklärung die Methode der Wahl. Der Bundesgerichtshof tritt nachhaltig für die Aufklärung im persönlichen Arzt-Patienten-Gespräch ein, dessen verantwortungsvolle Führung er dem Arzt - ohne Gängelung durch Rechtsvorschriften - an die Hand gibt.


Delegation unmöglich
Der isolierten formularmäßigen Aufklärung begegnet der Bundesgerichtshof dementsprechend mit erheblicher Skepsis. Die durchgeführte Aufklärung ist in den Patientenunterlagen vom impfenden Arzt zu dokumentieren. Die Wahrnehmung der Aufklärungspflichten ist grundsätzlich dem Arzt vorbehalten. Sie darf nach der gefestigten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nicht auf nicht-ärztliches Personal delegiert werden. Um den immer strenger werdenden Anforderungen der Rechtsprechung an die ärztliche Aufklärungspflicht zu genügen, sollte der Impfarzt den Eltern eines Impflings oder dem zu impfenden Erwachsenen grundsätzlich schon rechtzeitig vor dem Impftermin schriftliches Informationsmaterial über die beabsichtigte Impfung zur Verfügung stellen und die Impfentscheidung beim Impftermin nochmals mit den Betroffenen besprechen. Der Impfarzt hat jedenfalls bei vorbeugenden Routineimpfungen eine ganz außerordentlich streng zu bemessende Aufklärungspflicht.
Er hat sie evtl. bereits dadurch verletzt, daß er den Impfling bzw. seine Eltern nicht auf die drastisch verringerte Impfindikation oder das Fehlen einer staatlichen Impfempfehlung hingewiesen hat (vergleiche OLG Stuttgart in VersR 1986, 1198 zur Pertussisimpfung). Sinn der ärztlichen Aufklärungspflicht ist es nämlich, dem Patienten eine eigenverantwortliche und vernünftige Ausübung des Selbstbestimmungsrechts zu ermöglichen.
Dem Patienten muß die Rechtsgewähr dafür gegeben werden, daß er in der medizinischen Betreuung nicht Objekt, sondern eigenverantwortliches Subjekt der Behandlung bleibt. Dazu ist es erforderlich, daß dem Patienten nicht nur die Risiken, sondern auch die Chancen und Notwendigkeiten des fraglichen Eingriffs dargelegt werden. Nur auf diese Weise kann der Patient eine abgewogene Entscheidung treffen.
Der Arzt sollte daher die Eltern des Impflings beziehungsweise den volljährigen Impfling viel mehr in die Entscheidung - und in das Haftungsrisiko - mit einbeziehen. Eine Möglichkeit hierzu bestünde darin, die Informationen, welche die Impfstoffhersteller in den Packungsbeilagen der Impfstoffe zum Impfrisiko bringen müssen, auch den Impflingen beziehungsweise deren Vertretern zur Kenntnis zu bringen. Hierüber habe ich schon mit vielen Ärzten gesprochen: Diese befürchten, Eltern würden ihre Kinder überhaupt nicht mehr impfen lassen, wenn sie wissen, was - in allerdings sehr seltenen Fällen - an nicht erwünschten Wirkungen des Impfstoffes auftreten kann.
Jedoch glaube ich zum einen nicht, daß Eltern überhaupt nicht mehr impfen lassen, wenn sie einfühlsam informiert werden, zum anderen muß es der Arzt im eigenen Interesse (um eine Schadensersatzklage zu vermeiden beziehungsweise einer solchen erfolgreich begegnen zu können) hierauf ankommen lassen:
Nicht Panikmache oder flotte Werbeslogans sollten bei der Entscheidung für oder gegen das Impfen im Vordergrund stehen, sondern umfassende, sachliche Information, die den Eltern des Impflings oder dem zu impfenden Erwachsenen eine eigenverantwortliche Entscheidung für oder gegen das Impfen ermöglichen.
Leider lassen viele Ärzte Informationen über das Impfrisiko immer noch nicht zur Kenntnis gelangen,
- obwohl die Impfstoffhersteller in den Beipackzetteln zu den Impfstoffen deutlich und verständlich auf mögliche Nebenwirkungen hinweisen, - obwohl die STIKO auf die Aufklärungspflicht hinweist, - obwohl die Ärzte schon auch aus haftungsrechtlichen Gründen auf mögliche Nebenwirkungen hinweisen sollten.
Diese Mauer des Schweigens vor Impfrisiken scheint mir nicht sachdienlich, leistet der Falschinformation oder der unvollständigen Information über Impfschäden Vorschub und führt zu einer schrecklichen Polarisierung der Meinungen.
In 20 Jahren beruflicher Erfahrung mit Impfschäden hatte ich nur mit sehr wenigen Fällen zu tun, in denen es schicksalsmäßig zu einem Impfschaden kam; die meisten schweren Impfschadensfälle, mit denen ich beruflich befaßt war, wären wohl vermeidbar gewesen, wenn Kontraindikationen gegen Impfungen sorgfältiger beachtet worden wären und wenn insbesondere Kinder erst nach sorgfältiger Untersuchung routinemäßig geimpft worden wären.
Wenn der Impfarzt nicht - oder zumindest nicht rechtzeitig - aufgeklärt hat oder diese Aufklärung zumindest nicht beweisen kann, können erhebliche strafrechtliche und auch zivilrechtliche Schwierigkeiten auf ihn zukommen. Bei Impfschäden haftet zwar der Staat nach §§ 51 ff. Bundesseuchengesetz generell, sofern es sich um eine amtlich empfohlene Impfung handelt.
Allerdings sind die Ersatzleistungen nach dem BSeuchG begrenzt, insbesondere wird kein Schmerzensgeld gezahlt. Bei Verletzung der Aufklärungspflicht haftet der Impfarzt - was viel zu wenig bekannt ist - neben dem Staat wegen Vertragsverletzung und wegen unerlaubter Handlung, was unter anderem zu einem Schmerzensgeldanspruch des Impflings gegen den Impfarzt führt. Im Zivilprozeß gegen den Arzt muß der Impfling nur beweisen, daß er geimpft wurde und der Schaden auf der Impfung beruhte.
Der Arzt muß dagegen beweisen, daß eine wirksame Einwilligung vorlag, und das heißt vor allem, daß er hinreichend aufgeklärt hatte. Mißlingt ihm dieser Beweis, dann wird er zur Zahlung von Schadensersatz und gegebenenfalls von Schmerzensgeld verurteilt.
Günstiger ist die Beweislage für den Impfarzt nur im Strafprozeß: An sich liegt bei Verletzung der Aufklärungspflicht eine strafbare Körperverletzung vor, die bei schweren Folgen mit empfindlicher Freiheitsstrafe geahndet werden kann. Jedoch ist der Arzt nach dem Grundsatz "in dubio pro reo" freizusprechen, wenn die Verletzung der Aufklärungspflicht nicht nachgewiesen werden kann.
Zweifel an der Vollständigkeit der Aufklärung gehen im Zivilprozeß zu Lasten des Arztes; lediglich im Strafprozeß führen sie zum Freispruch (vergleiche Impfkompendium, herausgegeben von Prof. Dr. Heinz Spiess, Thieme Verlag 1994, Seite 33). Ein Aufklärungsgespräch in dem Umfang, wie es die STIKO und auch die Rechtsprechung vom Impfarzt fordert, wird sicher derzeit in der Praxis nicht angemessen honoriert.
Diese Tatsache darf jedoch nicht dazu führen, dieses Aufklärungsgespräch nicht zu führen, sondern dazu, dieses Aufklärungsgespräch angemessen zu honorieren, denn wenn eine Impfung erst nach umfassender Aufklärung durchgeführt wird, ist das Risiko, einen Impfschaden zu erleiden, erheblich minimiert.
Da durch einen schweren Impfschaden nicht nur unvorstellbares menschliches Leid auf die Betroffenen zukommt, sondern auch enorme finanzielle Lasten auf die Krankenkassen, die Versorgungsämter, die durch den Impfschaden unmittelbar Betroffenen und unter Umständen auch auf den Impfarzt, sollte nicht nur aus menschlichen, sondern auch aus wirtschaftlichen Gründen darauf geachtet werden, daß Impfungen erst nach sorgfältiger Aufklärung und Beachtung von Kontraindikationen durchgeführt werden.


Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 1997; 94: A-1794-1796
[Heft 26]


Anschrift der Verfasserin
Julia Bütikofer, Rechtsanwältin
Happurger Straße 54
90482 Nürnberg

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