THEMEN DER ZEIT: Aufsätze
Schutzimpfungen: Aufklärungspflicht aus juristischer Sicht


Angesichts dieser Situation macht es jedoch keinen Sinn, zwischen Medizinern und Juristen ein Feindbild zu schaffen. Dies ist mit Sicherheit der falsche Weg, um zum gemeinsamen Ziel - dem verantwortungsbewußten Umgang mit Impfungen - zu gelangen.
Regreßansprüche
Aus juristischer Sicht sollte von Ärzten nicht verschwiegen werden, daß Impfungen keineswegs ein harmloser
Eingriff in das Immunsystem sind. Auch mögliche Impfschäden sollten keineswegs a priori negiert werden.
Ärzte sollten vielmehr Eltern in die Verantwortung für die Entscheidung "pro" oder "contra" impfen mit
einbeziehen. Es geht nicht an, daß die Eltern zwar für ihre Kinder mögliche Vorteile der Impfungen in
Anspruch nehmen wollen, bei Auftreten von Impfschäden jedoch unverzüglich nach einer juristischen
Möglichkeit suchen, den Impfarzt regreßpflichtig zu machen. Die aktuellen Impfempfehlungen der STIKO
geben dem Arzt wertvolle - und leider oft übersehene - juristische Hinweise, wie er Regreßansprüche bei
Impfungen vermeiden kann.
Es muß daher mit Nachdruck darauf hingewiesen werden, daß vor Durchführung jeder Impfung oder Impfserie
eine Aufklärungspflicht des Arztes besteht, wodurch der Impfling oder seine Eltern oder Sorgeberechtigten in
die Lage versetzt werden sollen, über die Teilnahme an der Impfung zu entscheiden.
Die STIKO hat klar herausgearbeitet, worüber der Arzt vor Durchführung einer Impfung auf jeden Fall
aufklären muß. Ergänzend ist aus juristischer Sicht noch auf folgendes hinzuweisen: Die höchstrichterliche
Rechtsprechung hält daran fest, daß jeder Eingriff in die körperliche oder gesundheitliche Befindlichkeit des
Patienten - sei er behandlungsfehlerhaft oder frei von einem Behandlungsfehler - als Verletzung des
Behandlungsvertrages und als rechtswidrige Körperverletzung zu werten ist, wenn er sich nicht im konkreten
Fall durch eine wirksame Zustimmung des Patienten gerechtfertigt erweist (Karlmann Geiß,
Arzthaftpflichtrecht, 2. Auflage, Seite 169 ff. mit weiteren Nachweisen). Der Umfang und der
Genauigkeitsgrad der Aufklärung sind umgekehrt proportional zur Dringlichkeit des Eingriffs (Karlmann
Geiß, a.a.O., Seite 171). Dies besagt: Je weniger dringlich sich der Eingriff in zeitlicher und sachlicher
Hinsicht für den Patienten darstellt, desto weitergehend ist das Maß und der Genauigkeitsgrad der
Aufklärungspflicht.
Umfang und Intensität der Aufklärung lassen sich dabei nicht abstrakt festlegen; sie sind an der jeweils
konkreten Sachlage auszurichten, und zwar sowohl an der konkreten medizinischen Behandlung wie am
konkreten Patienten, unter Berücksichtigung seiner speziellen beruflichen und privaten Lebensführung
(patientenbezogene Aufklärung).
Die höchstrichterliche Rechtsprechung läßt das Maß aufklärungspflichtiger Risiken von dem unmittelbaren
Nutzen abhängen, den der Eingriff für den Patienten hat. Das bedeutet, daß z. B. vor einer Operation, zu der es
praktisch keine Alternative gibt, nur über die wesentlichen Risiken aufgeklärt werden muß (vergleiche BGHZ
90, 103), während zum Beispiel bei einer vorbeugenden Impfung jede - auch relativ unwahrscheinliche -
Eventualität aufklärungsbedürftig ist. Die früher einseitige Betonung der rein statistischen
Risikokomplikationsdichte ist von der Rechtsprechung mit verschiedenen Begründungen weitgehend
aufgegeben worden (vergleiche Karlmann Geiß, a.a.O., Seite 184 mit weiteren Nachweisen). Dies hat für den
Impfarzt nun freilich die fatale Konsequenz, daß der Kreis der aufklärungsbedürftigen Risiken nicht mehr
generell anhand bestimmter Wahrscheinlichkeitskriterien festgelegt werden kann. Da eine vorbeugende
Schutzimpfung nicht dazu dient, eine beim Impfling bereits aufgetretene Krankheit zu bekämpfen, reduziert
sich der individuelle Nutzen der einzelnen konkreten Schutzimpfung in demselben Maße, in dem bei
ausgebliebener Schutzimpfung die Wahrscheinlichkeit einer Infektion gering ist.
Man wird deshalb aus Gründen der Vorsicht die Aufklärung auf der Basis der individualisierenden
Betrachtungsweise sehr weit ziehen müssen (vergleiche auch Impfkompendium, herausgegeben von Prof. Dr.
Heinz Spiess, Thieme Verlag 1994, Seite 30/31). Aus den obergerichtlichen Entscheidungen zur
Aufklärungspflicht des Impfarztes sowie aus den allgemeinen arztrechtlichen Grundsätzen lassen sich folgende
Verallgemeinerungen ableiten:
Es ist zunächst über die Rahmenbedingungen der Impfung aufzuklären. Das bedeutet zum Beispiel, daß
darüber aufgeklärt werden muß, ob die Impfung generell amtlich empfohlen ist oder ob die Empfehlung
Einschränkungen enthält und ob der konkrete Impfling von diesen Einschränkungen erfaßt ist. Sodann ist stets
auf die Freiwilligkeit der Impfung hinzuweisen sowie jeglicher Eindruck zu vermeiden, daß es sich um eine
Zwangsimpfung handelt.
Die Aufklärung muß weiter den Nutzen der Impfung zutreffend schildern, nicht begründete Dramatisierungen
einer unterbliebenen Schutzimpfung sind zu unterlassen. Darüber hinaus muß auf die möglichen
Komplikationen eingegangen werden, die mit der Impfung verbunden sein können.
Aus Gründen der Vorsicht ist zur Vermeidung eines "informatorischen Kunstfehlers" zu empfehlen, jegliche in
der wissenschaftlichen Literatur berichtete Komplikation zu benennen. Die Auffassung vieler Ärzte, daß
unterhalb einer bestimmten Komplikationswahrscheinlichkeit die Aufklärungspflicht ende, findet in der
neueren obergerichtlichen Rechtsprechung keine Stütze mehr.
Um einen geordneten Ablauf bei durch den Öffentlichen Gesundheitsdienst veranstalteten Impfterminen zu
gewährleisten, wird eine rechtzeitige Aufklärung in schriftlicher Form empfohlen. Eine Gelegenheit zur
umfassenden Information durch ein Gespräch mit dem Impfarzt muß bei jedem Impftermin gegeben sein. Bei
Einzelimpfungen in der Praxis des niedergelassenen Arztes ist die mündliche Aufklärung die Methode der
Wahl. Der Bundesgerichtshof tritt nachhaltig für die Aufklärung im persönlichen Arzt-Patienten-Gespräch ein,
dessen verantwortungsvolle Führung er dem Arzt - ohne Gängelung durch Rechtsvorschriften - an die Hand
gibt.
Delegation unmöglich
Der isolierten formularmäßigen Aufklärung begegnet der Bundesgerichtshof dementsprechend mit erheblicher
Skepsis. Die durchgeführte Aufklärung ist in den Patientenunterlagen vom impfenden Arzt zu dokumentieren.
Die Wahrnehmung der Aufklärungspflichten ist grundsätzlich dem Arzt vorbehalten. Sie darf nach der
gefestigten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nicht auf nicht-ärztliches Personal delegiert werden. Um
den immer strenger werdenden Anforderungen der Rechtsprechung an die ärztliche Aufklärungspflicht zu
genügen, sollte der Impfarzt den Eltern eines Impflings oder dem zu impfenden Erwachsenen grundsätzlich
schon rechtzeitig vor dem Impftermin schriftliches Informationsmaterial über die beabsichtigte Impfung zur
Verfügung stellen und die Impfentscheidung beim Impftermin nochmals mit den Betroffenen besprechen. Der
Impfarzt hat jedenfalls bei vorbeugenden Routineimpfungen eine ganz außerordentlich streng zu bemessende
Aufklärungspflicht.
Er hat sie evtl. bereits dadurch verletzt, daß er den Impfling bzw. seine Eltern nicht auf die drastisch
verringerte Impfindikation oder das Fehlen einer staatlichen Impfempfehlung hingewiesen hat (vergleiche
OLG Stuttgart in VersR 1986, 1198 zur Pertussisimpfung). Sinn der ärztlichen Aufklärungspflicht ist es
nämlich, dem Patienten eine eigenverantwortliche und vernünftige Ausübung des Selbstbestimmungsrechts zu
ermöglichen.
Dem Patienten muß die Rechtsgewähr dafür gegeben werden, daß er in der medizinischen Betreuung nicht
Objekt, sondern eigenverantwortliches Subjekt der Behandlung bleibt. Dazu ist es erforderlich, daß dem
Patienten nicht nur die Risiken, sondern auch die Chancen und Notwendigkeiten des fraglichen Eingriffs
dargelegt werden. Nur auf diese Weise kann der Patient eine abgewogene Entscheidung treffen.
Der Arzt sollte daher die Eltern des Impflings beziehungsweise den volljährigen Impfling viel mehr in die
Entscheidung - und in das Haftungsrisiko - mit einbeziehen. Eine Möglichkeit hierzu bestünde darin, die
Informationen, welche die Impfstoffhersteller in den Packungsbeilagen der Impfstoffe zum Impfrisiko bringen
müssen, auch den Impflingen beziehungsweise deren Vertretern zur Kenntnis zu bringen. Hierüber habe ich
schon mit vielen Ärzten gesprochen: Diese befürchten, Eltern würden ihre Kinder überhaupt nicht mehr
impfen lassen, wenn sie wissen, was - in allerdings sehr seltenen Fällen - an nicht erwünschten Wirkungen des
Impfstoffes auftreten kann.
Jedoch glaube ich zum einen nicht, daß Eltern überhaupt nicht mehr impfen lassen, wenn sie einfühlsam
informiert werden, zum anderen muß es der Arzt im eigenen Interesse (um eine Schadensersatzklage zu
vermeiden beziehungsweise einer solchen erfolgreich begegnen zu können) hierauf ankommen lassen:
Nicht Panikmache oder flotte Werbeslogans sollten bei der Entscheidung für oder gegen das Impfen im
Vordergrund stehen, sondern umfassende, sachliche Information, die den Eltern des Impflings oder dem zu
impfenden Erwachsenen eine eigenverantwortliche Entscheidung für oder gegen das Impfen ermöglichen.
Leider lassen viele Ärzte Informationen über das Impfrisiko immer noch nicht zur Kenntnis gelangen,
- obwohl die Impfstoffhersteller in den Beipackzetteln zu den Impfstoffen deutlich und verständlich auf
mögliche Nebenwirkungen hinweisen,
- obwohl die STIKO auf die Aufklärungspflicht hinweist,
- obwohl die Ärzte schon auch aus haftungsrechtlichen Gründen auf mögliche Nebenwirkungen hinweisen
sollten.
Diese Mauer des Schweigens vor Impfrisiken scheint mir nicht sachdienlich, leistet der Falschinformation oder
der unvollständigen Information über Impfschäden Vorschub und führt zu einer schrecklichen Polarisierung
der Meinungen.
In 20 Jahren beruflicher Erfahrung mit Impfschäden hatte ich nur mit sehr wenigen Fällen zu tun, in denen es
schicksalsmäßig zu einem Impfschaden kam; die meisten schweren Impfschadensfälle, mit denen ich beruflich
befaßt war, wären wohl vermeidbar gewesen, wenn Kontraindikationen gegen Impfungen sorgfältiger beachtet
worden wären und wenn insbesondere Kinder erst nach sorgfältiger Untersuchung routinemäßig geimpft
worden wären.
Wenn der Impfarzt nicht - oder zumindest nicht rechtzeitig - aufgeklärt hat oder diese Aufklärung zumindest
nicht beweisen kann, können erhebliche strafrechtliche und auch zivilrechtliche Schwierigkeiten auf ihn
zukommen. Bei Impfschäden haftet zwar der Staat nach §§ 51 ff. Bundesseuchengesetz generell, sofern es sich
um eine amtlich empfohlene Impfung handelt.
Allerdings sind die Ersatzleistungen nach dem BSeuchG begrenzt, insbesondere wird kein Schmerzensgeld
gezahlt. Bei Verletzung der Aufklärungspflicht haftet der Impfarzt - was viel zu wenig bekannt ist - neben
dem Staat wegen Vertragsverletzung und wegen unerlaubter Handlung, was unter anderem zu einem
Schmerzensgeldanspruch des Impflings gegen den Impfarzt führt. Im Zivilprozeß gegen den Arzt muß der
Impfling nur beweisen, daß er geimpft wurde und der Schaden auf der Impfung beruhte.
Der Arzt muß dagegen beweisen, daß eine wirksame Einwilligung vorlag, und das heißt vor allem, daß er
hinreichend aufgeklärt hatte. Mißlingt ihm dieser Beweis, dann wird er zur Zahlung von Schadensersatz und
gegebenenfalls von Schmerzensgeld verurteilt.
Günstiger ist die Beweislage für den Impfarzt nur im Strafprozeß: An sich liegt bei Verletzung der
Aufklärungspflicht eine strafbare Körperverletzung vor, die bei schweren Folgen mit empfindlicher
Freiheitsstrafe geahndet werden kann. Jedoch ist der Arzt nach dem Grundsatz "in dubio pro reo"
freizusprechen, wenn die Verletzung der Aufklärungspflicht nicht nachgewiesen werden kann.
Zweifel an der Vollständigkeit der Aufklärung gehen im Zivilprozeß zu Lasten des Arztes; lediglich im
Strafprozeß führen sie zum Freispruch (vergleiche Impfkompendium, herausgegeben von Prof. Dr. Heinz
Spiess, Thieme Verlag 1994, Seite 33). Ein Aufklärungsgespräch in dem Umfang, wie es die STIKO und auch
die Rechtsprechung vom Impfarzt fordert, wird sicher derzeit in der Praxis nicht angemessen honoriert.
Diese Tatsache darf jedoch nicht dazu führen, dieses Aufklärungsgespräch nicht zu führen, sondern dazu,
dieses Aufklärungsgespräch angemessen zu honorieren, denn wenn eine Impfung erst nach umfassender
Aufklärung durchgeführt wird, ist das Risiko, einen Impfschaden zu erleiden, erheblich minimiert.
Da durch einen schweren Impfschaden nicht nur unvorstellbares menschliches Leid auf die Betroffenen
zukommt, sondern auch enorme finanzielle Lasten auf die Krankenkassen, die Versorgungsämter, die durch
den Impfschaden unmittelbar Betroffenen und unter Umständen auch auf den Impfarzt, sollte nicht nur aus
menschlichen, sondern auch aus wirtschaftlichen Gründen darauf geachtet werden, daß Impfungen erst nach
sorgfältiger Aufklärung und Beachtung von Kontraindikationen durchgeführt werden.
Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 1997; 94: A-1794-1796
[Heft 26]
Anschrift der Verfasserin
Julia Bütikofer, Rechtsanwältin
Happurger Straße 54
90482 Nürnberg