ArchivDeutsches Ärzteblatt27/1997Magenschrittmacher-Implantation: Neue Therapie der Gastroparese

MEDIZIN: Aktuell

Magenschrittmacher-Implantation: Neue Therapie der Gastroparese

Konturek, Jan W.; Dietl, Karl-Heinz; Domschke, Wolfram

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LNSLNS Als Ursachen der chronischen Verzögerung der Magenentleerung kommen vor allem Diabetes mellitus, Kollagenosen, Neuro- und Myopathien sowie operative Eingriffe am Magen in Frage; daneben gibt es idiopathische Formen ohne erkennbare Ätiopathogenese. Meistens läßt sich die Gastroparese medikamentös effektiv behandeln: mit Dopamin-Antagonisten, Cholinergika, 5-HT4-Antagonisten beziehungsweise Motiliden. In therapierefraktären Fällen - etwa ein Fall pro 100 000 Einwohner - wird neuerdings der Magen durch einen laparoskopisch implantierbaren Schrittmacher elektrisch stimuliert. Berichtet wird über 21 Patienten, die alle nach Magenschrittmacher-Implantation beschwerdefrei geworden sind.


Die Magenentleerung ist ein äußerst komplexer, vielfältig regulierter und bisher noch nicht in allen Einzelheiten erforschter Vorgang. Der Magen hat zum einen in seinem proximalen Anteil, dem Fundus, eine anpassungsfähige Reservoirfunktion, zum anderen werden im distalen Magen, dem Antrum, die Nahrungspartikel zerkleinert - Antrummühle - und erst ab einer Größe von etwa 1-2 mm durch den Pylorus in das Duodenum entleert. Die Kontraktionen des Antrums werden von einem endogenen Schrittmacher im proximalen Magenkorpus gesteuert (Grafik 1). Großkurvaturseitig liegen dort myogene Schrittmacherzellen, die eine spontane Aktivität von drei Impulsen pro Minute haben (langsame Potentialwellen - "slow waves") (3, 8). Erst wenn bei der Füllung des Magens das Membranpotential dieser Zellen einen bestimmten Schwellenwert erreicht, treten zusätzlich "Spike"-Aktivitäten auf, die im Magenkorpus beginnende und nach aboral gerichtete peristaltische Kontraktionen auslösen. Deshalb ist das zahlenmäßige Verhältnis zwischen den Schrittmacherimpulsen und der meßbaren motorischen Antwort der Magenmuskulatur größer als eins. Der zeitliche Zusammenhang zwischen der elektrischen und der mechanischen Aktivität der glatten Muskulatur des Magens bleibt dabei bis heute unklar. Die erste Messung der elektrischen Aktivität des Magens wurde bereits 1921 von Alvarez in den USA durchgeführt (1). Aber erst seit Ende der 80er Jahre konnten technisch beträchtlich fortentwickelte elektro-gastrographische Untersuchungen des Magens die klinische Diagnostik erweitern.
Die physiologische, portionierte Magenentleerung hängt von vielen Faktoren ab, vor allem von der Füllmenge des Magens sowie der Konsistenz und Zusammensetzung der Nahrung. Der Organismus stellt auf diese Weise sicher, daß nur jeweils die Nahrungsmenge in den Dünndarm gelangt, die optimal aufgespalten und resorbiert werden kann.


Ursachen der Gastroparese
Eine Vielzahl muskulärer und neurogener Erkrankungen kann das oben dargestellte komplexe Zusammenspiel stören und zu einer Verzögerung der Magenentleerung, das heißt zu einer Gastroparese, führen (Textkasten). Bei diesen Erkrankungen wird in erster Linie die Entleerung fester Nahrung gestört, in Spätstadien kann aber auch die Entleerung von Flüssigkeiten beeinträchtigt sein. Der Diabetes mellitus mit der sogenannten diabetischen Gastroparese ist wohl die bekannteste Erkrankung, die zu einer Verzögerung der Magenentleerung führt. Betroffen sind meist Patienten mit insulinpflichtigem Diabetes mellitus, bei denen es bereits zu anderen Spätkomplikationen der Grunderkrankung im Sinne von mikroangiopathischen Organveränderungen an Niere und Auge oder Neuropathien gekommen ist. Die Gastroparese wird als Ausdruck der diabetischen Neuropathie des Gastrointestinaltraktes angesehen. Störungen der Magenmotilität lassen sich bei Diabetikern auch dann oft nachweisen, wenn eine damit verbundene klinische Symptomatik noch nicht vorliegt. Bei der diabetischen Gastroparese beobachtet man vor allem eine Verminderung der postprandialen Antrummotilität und eine Dysfunktion des Pylorus (4, 6). Man weiß allerdings heute, daß sowohl die phasischen Kontraktionen des Magenantrums als auch der Tonus des Magenfundus alleine durch eine Hyperglykämie per se (auch ohne manifesten Diabetes) vermindert werden können (2). Eine klinisch manifeste Gastroparese steht nur bei wenigen Diabetikern im Vordergrund, möglicherweise deshalb, weil bei der diabetischen Neuropathie nicht nur der efferente (motorische), sondern auch der afferente (sensible) Schenkel des autonomen Nervensystems geschädigt ist und damit Mißempfindungen des Patienten im Sinne von epigastrischem Druck- und Völlegefühl gemindert werden.
Eine Verzögerung der Magenentleerung wird auch bei Patienten mit Kollagenosen, vor allem bei der Sklerodermie, bei Neuro- und Myopathien und nach operativen Eingriffen am Magen (zum Beispiel Vagotomie) beobachtet. Schließlich kann eine Gastroparese auch ohne erkennbare Ursache auftreten, die sogenannte idiopathische Gastroparese. Unabhängig von der Ätiopathogenese manifestiert sich die Gastroparese klinisch mit ähnlichen Symptomen, vor allem in Form dyspeptischer Beschwerden wie Völlegefühl, epigastrischem Druckgefühl und rezidivierendem Erbrechen (6).


Medikamentöse Therapie
Die medikamentöse Therapie der Gastroparese besteht in der Gabe prokinetisch wirksamer Pharmaka. Die uns zur Zeit zur Verfügung stehenden Medikamente gehören vier pharmakologischen Gruppen an: DopaminAntagonisten (Metoclopramid, Domperidon), Cholinergika (Bethanechol), 5-HT4-Antagonisten (Cisaprid) und Motilide (Erythromycin). Dabei scheint das Cisaprid praktisch allen anderen Prokinetika an Effektivität überlegen zu sein. Es eignet sich auch für die langfristige Behandlung, ohne auf Dauer an Wirkung zu verlieren (7). Mit Cisaprid gelingt es in der Regel, die klinischen Symptome günstig zu beeinflussen, wenngleich das nicht unbedingt mit einer Beschleunigung der Magenentleerung einhergehen muß.
Eine neuartige Therapiemöglichkeit könnte der Einsatz von Erythromycin sein, da dieses MakrolidAntibiotikum bereits in relativ niedriger Dosierung die gastroduodenale Motilität günstig beeinflußt. Nachteilig ist allerdings seine eigentliche antibiotische Wirkung, die die Entwicklung resistenter Keime zur Folge haben kann. Im Rahmen klinischer Studien werden bereits Substanzen eingesetzt, die, ähnlich dem Erythromycin, über den Motilinrezeptor die gastroduodenale Motilität positiv beeinflussen können.
Die meisten Patienten mit einer Gastroparese und bestehender klinischer Symptomatik können mit prokinetischen Pharmaka effektiv behandelt werden. Glücklicherweise bleibt nur bei einer kleinen Zahl dieser Patienten die konservative Therapie ohne Erfolg. Patienten, die unter therapierefraktärer Gastroparese - insbesondere mit stark ausgeprägter Übelkeit und mit rezidivierendem Erbrechen - leiden, benötigen oft intensive therapeutische Maßnahmen, meistens unter stationären Bedingungen. Die Retention der Nahrung im Magen bei massiv verzögerter aboraler Passage macht häufig eine parenterale Ernährung oder, im besseren Fall, die Ernährung über eine Jejunalsonde notwendig. Besonders betroffen sind Diabetiker, bei denen die Einstellung der Blutzuckerwerte auf ein akzeptables Niveau praktisch nicht möglich ist. Darüber hinaus ist auch von Bedeutung, daß aus dem rezidivierenden Erbrechen eine beträchtliche psychische Belastung für die Patienten resultieren kann.


Magenschrittmacher-Therapie
Die Häufigkeit einer therapierefraktären Gastroparese mit rezidivierendem Erbrechen wird in den Vereinigten Staaten, unabhängig von der Ätiopathogenese, auf einen Fall pro 100 000 Einwohner geschätzt. Für die europäische Bevölkerung gibt es diesbezüglich keine genauen Angaben, eine Prävalenzrate in derselben Größenordnung ist allerdings wahrscheinlich. Für diese Patienten besteht seit kurzer Zeit eine neue Therapieoption, die auf elektrischer Stimulation des Magens basiert. Bereits 1972 wurden erste Untersuchungen zur Anregung der Magenperistaltik und Beschleunigung der Magenpassage über elektrische Stimulation des endogenen Magenschrittmachers durchgeführt (5). Diese äußere Stimulation erfolgte zunächst mit einer Frequenz von drei Impulsen pro Minute, war also identisch mit derjenigen der endogenen Schrittmacherzellen. Leider hatte diese Behandlung weder einen Effekt auf die Magenentleerungsrate noch auf die klinische Symptomatik. Erst im Jahre 1993 wurde eine neue klinische Studie begonnen, wobei der Magen mit einer höheren Frequenz als der eigenen stimuliert wurde (Grafik 2). Die ersten Ergebnisse wurden 1996 anläßlich des Jahreskongresses der Amerikanischen Gesellschaft für Gastroenterologie in San Francisco und während der Europäischen Gastroenterologischen Woche in Paris präsentiert (9). Ausgewertet wurden die Ergebnisse von 21 Patienten mit Gastroparese (fünf Diabetiker und 16 Patienten mit idiopathischer Gastroparese), die mit einem neuartigen Magenschrittmacher behandelt worden waren. Indikation zur operativen Implantation des Schrittmachers war eine therapierefraktäre Gastroparese mit ausgeprägter Übelkeit und rezidivierendem Erbrechen. Bei 19 der 21 Patienten sistierten Erbrechen und Übelkeit bereits innerhalb weniger Tage nach der Implantation. Drei Monate nach Schrittmacheranlage waren alle Patienten beschwerdefrei. Auch bei Kontrolluntersuchungen nach mehr als sechs Monaten ließ sich eine klinische Symptomatik der Gastroparese nicht mehr feststellen. Allerdings war nur bei der Hälfte der Patienten die deutliche Besserung der klinischen Symptomatik von einer signifikanten Beschleunigung der Magenentleerung begleitet (Grafik 3). Die Implantation der Magenschrittmacher erfolgte entweder während einer Laparotomie oder laparoskopisch. Bei den im Rahmen dieser Studie in unserer Klinik behandelten Patienten wurde der Magenschrittmacher laparoskopisch implantiert, wobei die Dauer des Eingriffs weniger als eine Stunde betrug. Der postoperative Verlauf war bei allen Patienten völlig komplikationslos und ermöglichte die Entlassung innerhalb einer Woche.
Die bisherigen Ergebnisse dieser Studie sprechen für eine sehr hohe klinische Effektivität der Elektrostimulation des Magens in der Behandlung der therapierefraktären Gastroparese. Wie erste Auswertungen nahelegen, kann die Magenentleerungsrate offensichtlich erst nach mehrmonatiger Stimulation durch den Schrittmacher erhöht werden, und es bleibt abzuwarten, ob tatsächlich bei allen Patienten mit einem Magenschrittmacher letzten Endes eine meßbare Beschleunigung der Magenpassage erzielt werden kann. Es läßt sich aber schon jetzt erkennen, daß das neue Therapieprinzip zu einer deutlichen Verbesserung der Lebensqualität von Patienten mit einer medikamentös nicht behandelbaren Gastroparese führt.


Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 1997; 94: A-1871-1873
[Heft 27]


Literatur
1. Alvarez WC: The electrogastrogram and what it shows. J Am Med Assoc 1922; 78: 1116-1119.
2. Fraser R, Horowitz M, Maddox A, Harding P, Chatterton B, Dent J: Hyperglycaemia slows gastric emptying in type 1 (insulindependent) diabetes mellitus. Diabetologia 1990; 33: 675-680.
3. Hinder RA, Kelly KA: Human gastric pacesetter potential: site of origin, spread, and response to gastric transection and proximal gastric vagotomy. Am J Surg 1977; 133: 29-33.
4. Horowitz M, Harding PE, Maddox A et al.: Gastric and oesophageal emptying in insulin-dependent diabetes mellitus. J Gastroenterol Hepatol 1986; 1: 97-113.
5. Kelly KA, La Force RC: Role of gastric pacesetter potential defined by electrical pacing. Am J Physiol 1972; 222: 588-594.
6. Malagelada JR, Camilleri M, Stanghelini V: Gastric motility disturbances. In: Malagelada JR: Manometric diagnosis of gastrointestinal motility disorders. New York: Thieme Medical Publishers Inc, 1986; 68-81.
7. Rothstein ED, Alavi A, Reynolds JC: Electrogastrography in patients with gastroparesis and effect of longterm cisapride. Dig Dis Sci 1993; 38: 1518-1524.
8. Szurszewski JH: Electrical basis for gastrointestinal motility. In: Johnson LR: Physiology of the gastrointestinal tract, 2nd Edition. New York: Raven Press, 1987; 383-422.
9. The GEMS Study Group: Second report of a multicenter study on electrical stimulation for the treatment of gastroparesis. Gut 1996; 39: A 103.


Anschrift für die Verfasser
Priv.-Doz. Dr. med. Jan W. Konturek
Medizinische Klinik und Poliklinik B
Westfälische Wilhelms-Universität
Albert-Schweitzer-Straße 33
48129 Münster

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