POLITIK: Das Interview
Interview mit dem Berliner Sexualmediziner Prof. Dr. med. Dr. phil. Klaus M. Beier: „Eine dauerhafte Verhaltenskontrolle ist erreichbar“


Klaus M. Beier, Facharzt für Psychotherapeutische Medizin, leitet das Institut für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin der Charité, das seit 1. Januar auch eine Hochschulambulanz betreibt. Beier und sein Team sind in der Diagnostik und Therapie pädophiler Männer besonders engagiert. Vorreiter sind sie mit dem Forschungsprojekt „Kein Täter werden“, das vorrangig der Prävention sexuellen Missbrauchs im Dunkelfeld gewidmet ist.
Foto: privat
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Herr Professor Beier, Ihr Institut ist bekannt durch seine Forschung zum sexuellen Missbrauch, insbesondere durch Pädophile, ein Thema, das aktuell die Schlagzeilen beherrscht. Sind Pädophilie und auch Hebephilie überhaupt therapierbar?
Beier: Therapierbar, aber nicht heilbar. Die Pädophilie ist eine in den Internationalen Klassifikationssystemen (ICD-10, DSM-IV-TR) erfasste Störung der sexuellen Präferenz. Es besteht eine sexuelle Ansprechbarkeit für das kindliche Körperschema, nicht für ein kalendarisches Alter. Bei der Hebephilie liegt hingegen eine sexuelle Erregbarkeit durch das pubertäre Körperschema vor – welches ja von den meisten Mädchen und Jungen deutlich vor dem 14. Lebensjahr erreicht wird. Die pädophile oder hebephile Präferenz manifestiert sich als ausschließlicher oder nichtausschließlicher Typus im -Jugendalter und bleibt hiernach lebenslang unveränderbar. Wie andere chronische Erkrankungen ist auch sie durch fehlende Heilbarkeit gekennzeichnet, weil sich die sexuelle Präferenz nach Abschluss der Pubertät nicht ändern lässt. Umso mehr ist eine dauerhafte Verhaltenskontrolle anzustreben und auch erreichbar. Das Behandlungsziel besteht folglich darin, dass aus den pädophilen Impulsen, die dem Betroffenen nicht vorgeworfen werden können, keine Taten werden, die ihm vorgeworfen werden müssen. Um dieses Ziel zu erreichen, werden sexualmedizinische, psychotherapeutische und medikamentöse Optionen genutzt.
Wenn also chronische Erkrankung – sind die Täter dennoch strafrechtlich verantwortlich?
Beier: Der Gesetzgeber hat die sogenannte schwere andere seelische Abartigkeit als Subsumtionsmerkmal für die verminderte Schuldfähigkeit aufgenommen, unter der auch eine sexuelle Präferenzstörung wie die Pädophilie einzuordnen wäre. Das Gesetz sieht aber vor, dass in einem weiteren Schritt geprüft werden muss, ob zum Zeitpunkt der Tat der krankheitswerte Zustand die Steuerungsfähigkeit „erheblich“ eingeschränkt hat, was in der Regel nicht der Fall ist: Die Täter können ihr Verhalten sehr wohl steuern, was unter anderem daran erkennbar wird, dass sie versuchen, sozial unkontrollierte Situationen herzustellen, um einen Übergriff zu begehen oder Missbrauchsabbildungen zu nutzen. Letzteres wird verharmlosend als Kinderpornografie bezeichnet.
Was lehrt Ihre Erfahrung aus der Beratung pädophiler Männer: Können Täter nach einer Therapie wieder in pädagogischen Einrichtungen eingesetzt werden?
Beier: Ziel einer Behandlung ist die Akzeptanz der eigenen sexuellen Präferenz als unveränderbar und das Erlernen einer verantwortungsvollen Kontrolle der pädophilen Impulse. Wir wissen aus unserer Arbeit mit nichtjustizbekannten potenziellen oder realen Tätern, dass sie von dieser Möglichkeit, einschließlich der Nutzung von medikamentösen Optionen, auch ohne justiziellen Druck Gebrauch machen. Wenn diese Verantwortungsübernahme sichergestellt ist, besteht kein Hinderungsgrund, als Pädagoge tätig zu sein, wobei die Betroffenen selbst vermeiden werden, mit Schülern oder Schülerinnen zu arbeiten, die das präferierte Körperschema aufweisen. Entscheidend ist aber auch, dass pädophile Männer präventiv erreicht werden, bevor sie ihre Berufswahl treffen. Wer verantwortlich mit seiner Neigung umgeht, wird immer Konsequenzen ziehen, weil er selbst dafür Sorge tragen möchte, dass Kinder keinen Schaden nehmen. Das gilt selbstverständlich auch für die Wahl der Kinder- und Jugendmedizin als Facharztgebiet.
Zu den Opfern: In der Presse ist zurzeit von „den Opfern“ die Rede, müsste da nicht unterschieden werden, etwa nach Intensität des Erlebens?
Beier: Je näher der Täter dem Opfer steht, je früher der Missbrauch beginnt und je länger er anhält, je massiver die Übergriffe sind und je weniger sich das Opfer dem Täter zu entziehen oder sich anderen zu offenbaren vermag, umso gravierender sind die Spät- und Langzeitfolgen. Insbesondere auf die protektive Wirkung der Familienatmosphäre für die Überwindung von Traumafolgen muss immer wieder hingewiesen werden. Menschen sind grundsätzlich angewiesen auf die Erfüllung psychosozialer Grundbedürfnisse nach Annahme und Akzeptanz in Bindungen, die Schutz bieten und auf die man vertrauen kann. Genau das wird Opfern genommen.
Fühlen sich diese Opfer befreit, wenn sie sich offenbaren und die Täter benannt werden?
Beier: Opfern muss das Vertrauen in das Gelingen von Beziehungen zurückgegeben werden, sofern dies überhaupt noch möglich ist, wenn der Täter eine Zuwendungsperson aus dem familiären Nahbereich ist und das Kind keinen Ausweg aus dem Einflusskreis des Täters findet. Zweifelsohne hat aber die klare Verortung jedweder Schuld beim Täter eine wichtige, psychisch entlastende Funktion, so dass es immer sinnvoll ist, Täter zu benennen und zur Verantwortung zu ziehen.
Was halten Sie von der These, die Gesellschaft sei mitverantwortlich, weil in den 68er Jahren sexueller Verkehr mit Jugendlichen befürwortet worden sei?
Beier: Wir müssen akzeptieren, dass die menschliche Sexualität Erscheinungsformen in einem sehr breiten Spektrum aufweist und Besonderheiten der sexuellen Präferenzstruktur zu diesem Spektrum gehören. Dies gilt auch für die pädophile oder die hebephile Neigung, die es zeit- und kulturübergreifend schon immer gab und immer geben wird. Der Versuch, sie mit Phänomenen des Zeitgeistes zu erklären, ist ein durchsichtiges Ablenkungsmanöver von der erforderlichen Auseinandersetzung auch mit den schwerer verständlichen Aspekten menschlichen Daseins.
Im Vordergrund steht derzeit Missbrauch durch Männer. Ist Missbrauch durch Frauen anders zu bewerten als der durch Männer?
Beier: Sexuelle Übergriffe durch Frauen sind meist Ausdruck von Ersatzhandlungen: Die sexuelle Präferenzstruktur der Täterinnen ist durch eine Ausrichtung auf das erwachsene Körperschema gekennzeichnet, aber aus verschiedenen Gründen initiieren sie ersatzweise sexuelle Handlungen mit Kindern. Derartige Ersatzhandlungen kommen aber wesentlich häufiger bei Männern vor und erklären den Hintergrund von etwa 60 Prozent der Täter, die sexuelle Übergriffe auf Kinder begehen. 40 Prozent sind pädophil motivierte Täter, und eine pädophile Neigung kommt wiederum bei Frauen nur extrem selten vor.
Gibt es verlässliche Zahlen über den Anteil Pädophiler an der Bevölkerung?
Beier: Aus Befragungen von Opfern lässt sich zwar die Prävalenz sexueller Übergriffe in der Allgemeinbevölkerung abschätzen, aber es ergibt sich kein Aufschluss über den motivationalen Hintergrund der Täter. Dies ist nur möglich durch repräsentative Befragungen zum sexuellen Erleben und Verhalten. Mit der Berliner Männerstudie haben wir in Deutschland Zahlen ermittelt, wonach etwa ein Prozent der männlichen Allgemeinbevölkerung eine sexuelle Ansprechbarkeit für den kindlichen Körper aufweist.
Können sich sowohl bei Opfern wie bei Tätern Erinnerungen an die Tat mit der aktuellen Missbrauchsdiskussion vermischen?
Beier: Aus der eigenen Arbeit mit Erwachsenen, die in ihrer Kindheit sexuell traumatisiert wurden, lässt sich klar ableiten, dass verschiedenste Ereignisse geeignet sein können, um Erinnerungen an Missbrauchserlebnisse wachzurufen. Dies können Zeitungsartikel sein, aber auch Filmszenen, die Intimkontakte zeigen. Insofern wäre es überraschend, wenn die jetzige Diskussion nicht bei betroffenen Opfern diese Erinnerungen anstoßen würden.
Wie kann man Mitarbeiter von Einrichtungen für Kinder für das Thema sensibilisieren?
Beier: Mitarbeiter aus pädagogischen Einrichtungen sind ja für das Thema sensibilisiert, aber im Umgang damit nicht adäquat qualifiziert. Das wird schon daran erkennbar, dass Kinder und Jugendliche durch die Nutzung der neuen Technologien sexuelle Inhalte kennengelernt haben, von denen viele Erzieher noch nicht einmal wissen, dass es sie gibt. 30 Prozent der Jungen sind bei Erstkontakt mit Internetpornografie zwischen acht und 13 Jahre alt, 15 Prozent haben bereits strafrechtlich bewehrtes sexuelles Bildmaterial gesehen. Sexuelle Aufklärung, die nicht hier anknüpft, wird unglaubwürdig, verlangt aber einen entsprechenden Ausbildungsstand und eine Sicherheit im Umgang mit diesen Themen. Dies gilt übrigens auch für die Ärzteschaft. Schwer verständlich ist daher, warum sich die Bundesärztekammer seit mehr als zehn Jahren gegen eine sexualmedizinische Weiterbildung sträubt. Eine entsprechende Zusatzbezeichnung gibt es bisher nur in Berlin. Mit Blick auf die aktuelle Debatte wäre es wünschenswert, wenn die Medizin sichtbar ihre diesbezüglichen Kompetenzen nach außen tragen würde.
Das Interview führte Norbert Jachertz.
Posth, Rüdiger
Siegel, Wolfgang
Briem, Markus